Thilo Schneider / 06.02.2020 / 10:00 / Foto: Timo Raab / 37 / Seite ausdrucken

That´s democracy, Baby 

„Plötzlich Ministerpräsident“. Nach der gestrigen Wahl läuft ein Beben durch die Republik. Erst recht bei allen, die lieber einen Ministerpräsidenten der ehemaligen und zweimal linksgewendeten SED gesehen hätten, statt einen absoluten Nobody, der überhaupt nur mit 73 Stimmen über Null in den Landtag eingezogen ist.

Die feingeistige Analyse des gestrigen Ergebnisses überlasse ich profunderen Kollegen. Ich für meinen Teil kann nur sagen, dass ich mich einerseits als Satiriker über einen derartigen Coup freue, als FDPler hingegen bin ich zwiegespalten. Natürlich ist es schön, wenn eine FDP einen Ministerpräsidenten stellt. Nicht schön ist es, dass Kemmerich dies eben nur mit den Stimmen der AfD wurde und auch nur deswegen, weil diese dem augenscheinlich eher doch nicht so cleveren Bodo Ramelow „einen mitgeben“ wollten. Mit „liberal“ hat die AfD jedenfalls nichts am Stahlhelm.

Was mich aber wirklich ärgert, ist die Heuchelei von SPD und Grünen, die nun impertinent der Meinung sind, Kemmerich hätte die Wahl gar nicht annehmen dürfen, weil er doch „von Faschisten“ gewählt wurde. Ich stehe eher nicht in Verdacht, die AfD in irgendeiner Weise toll zu finden – aber da haben sie ein echtes Ass gelandet. Gehe ich davon aus, dass es auch bei SPD und Grünen Leute gibt, die die Grundrechenarten beherrschen, so hätten die, die jetzt am lautesten schreien, doch selbst mehrere Optionen gehabt. Als im dritten Wahlgang klar wurde, dass die einfache Mehrheit genügt und damit auch klar war, dass es der AfD-Kandidat Kindsvater keinesfalls wird, hätten sowohl SPD als auch Grüne als auch die CDU die Gelegenheit gehabt, einen weiteren Kandidaten der Mitte (sofern man die Linke-Steigbügelhalter von SPD und Grünen als „Mitte“ bezeichnen will) aufzustellen. Haben sie aber nicht.

Mohring war sich wahrscheinlich zu fein und hatte tatsächlich Angst, von der AfD gewählt zu werden. In diesem Fall hat er taktisch clever agiert, den FDP-Kandidaten von seiner Fraktion wählen zu lassen. So bleibt das Stigma bei der FDP hängen. SPD und Grüne hingegen hatten sich so total und komplett Ramelow ausgeliefert, dass sie gar nicht auf die Idee kamen, einen eigenen, konsensfähigen Kandidaten aufzustellen. Vielleicht auch in dem Wissen, dass die AfD keinesfalls einen Grünen wählen würde. Aber vielleicht die Linken? Wenn Ramelow zurückgezogen hätte, der so Opfer der eigenen Schlauheit wurde?

Dem einzigen bürgerlichen Kandidaten die Stimmen verweigert

Und Kemmerich? Kemmerich hat sich mutmaßlich deswegen aufstellen lassen, um eine absolute Mehrheit Ramelows zu verhindern und vielleicht einen vierten Wahlgang zu erzwingen. Vielleicht dachte er auch einfach nur, es wäre gut, einen weiteren Kandidaten zur Auswahl zu stellen, der auch für Grüne und SPD wählbar wäre. Wenn sie Mathe beherrschen.

Allein: Grüne und SPD, die sonst nicht laut genug vom „Zusammenhalt der Demokraten“ plärren können, haben dem einzigen bürgerlichen Kandidaten wohl geschlossen ihre Stimmen verweigert und lieber Ramelow gewählt. Da war ihnen ein Linker aus der Nachfolgepartei der Mauerschützenkönige lieber als ein liberaler Kandidat. Und exakt diese Leute fallen jetzt reihenweise in Ohnmacht, weil Kemmerich die Wahl dann nicht abgelehnt hat? Grüne und SPD hatten es selbst in der Hand, Kemmerich nicht nur von Union und AfD wählen zu lassen. Nicht Kemmerich: Grüne und SPD haben sich hier einem demokratischen Konsens aus taktischen und machtpolitischen Erwägungen heraus verweigert. Spinnt man den Gedanken einmal weiter: Hätte Ramelow im dritten Wahlgang einstimmig gewonnen – hätte er dann auch die Wahl „wegen Unterstützung durch Faschisten“ zurückgewiesen? Ich glaube nicht. Was wir hier von SPD und Grünen sehen, ist nichts anderes als der Schmerzensschrei aus der klaffenden Wunde, nicht Regierungskoalitionäre der Linken geworden zu sein.

Theoretisch steht ihnen dieser Weg aber noch offen, so sie das Gesprächsangebot von Kemmerich wahrnehmen. Tatsächlich würden SPD und Grüne demokratisches Rückgrat beweisen, würden sie mit Union und FDP eine „Regierung der bürgerlichen Mitte“ bilden. Aber dem dürfte die Enttäuschung über eine einmal mehr geplatzte linke Querfront im Wege stehen. Da wird jetzt auch kein „demokratischer Schulterschluss“ gesucht, denn plötzlich steht ein Liberaler an der Spitze. Das ist schließlich fast so schlimm wie ein vermeintlicher oder tatsächlicher Faschist.

Ein taktisches Lehrstück

Oder noch viel schlimmer. Mit ihrem zornigen Redentanz führen SPD und Grüne ihr Gerede vom „Wohle des Landes“ derzeit ad absurdum. Dabei waren sie doch so nett auf den neuen Ministerpräsidenten Ramelow eingestellt, der sich selbst sogar Blümchen gekauft hat, um sich selbst zur Ministerpräsidentenwahl zu gratulieren. Na ja – die Linke hat das Sträußchen dann wie eine sitzengelassene Sozialistenbraut Kemmerich vor die Füße geworfen. That´s democracy, Baby. Sozialistische Volkskammerwahlen mit festgelegtem Sieger sind lange her.

Die Wahl gestern war ein taktisches Lehrstück, und ich glaube nicht, dass Kemmerich sich lange wird halten können. Kemmerich hat gar nicht die Manpower, eine Regierung mit kompetentem Personal zu besetzen. Gerade einmal fünf FDPler sitzen im Landtag. Die können mit einem einzigen PKW (Diesel) anreisen. Fair und demokratisch wäre es meiner Ansicht als kleiner Parteisoldat nach, er würde Neuwahlen veranschlagen, um die Verhältnisse zu klären – mit dem Risiko, dass die AfD einen weiteren Zuwachs erfährt und FDP, SPD und Grüne unter 5 Prozent rutschen. Aber auch das wäre dann eben Demokratie. Es ist nämlich auch Demokratie, wenn das Ergebnis 49 Prozent aller Beteiligten nicht passt.

Oder aber SPD und Grüne nehmen ihr Geschwätz von gestern endlich ernst – und bilden mit der CDU und der FDP eine Regierung der Mitte. Die Möglichkeiten sind da. Kemmerich wird, so er stur bleibt, mit wechselnden Mehrheiten arbeiten müssen. Und dies wird er nur mit der AfD gemeinsam schaffen, weil sich die Verschmähten ihm verweigern werden. Und damit die AfD salonfähig machen. Ich glaube nicht, dass dies mit der Höcke-AfD eine gute Idee ist. Denn ihre Bürgerlichkeit hat die AfD schon lange verloren. Zuerst wurde ihr diese abgeschrieben, dann hat sie sie selbst abgeschrieben. Geblieben ist da eine Partei der Vogelschissnegermessermännererinnerungswendesager. Dennoch: Nicht die FDP hat einen politischen Konsens aufgekündigt – das waren SPD und Grüne. Die hätten Kemmerich unterstützen müssen, als klar war, dass es Ramelow nicht schaffen wird. Jetzt müssen sie damit klarkommen.

Weitere Wahlbeiträge des Autors auch auf www.politticker.de.

Foto: Timo Raab

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Leserpost

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Peter Oberem / 06.02.2020

Nach der Überschrift hatte ich lust darauf, den Beitrag zu lesen. Nach der doch wieder recht plumpen Pöbelei gegen die AfD (Mit “liberal” hat die AfD nichts am Stahlhelm.) habe ich das Lesen schon gleich beendet. Danach geht mir durch den Kopf, was das Liberale an der aktuellen FDP ist, vom F im Namen abgesehen.

Karsten Dörre / 06.02.2020

Auf den Boden gepfeffert zu werden hat der Blumenstrauß nicht verdient. Alle Naturfreunde und Naturschützer sind zutiefst beleidigt, empört und werden noch historische Fotomontagen anfertigen, um diesen Tabubruch anzuprangern. Mutter Erde wird im Februar 2020 mit einem geologisches Erdbeben Thüringen erzittern lassen.

Rolf Menzen / 06.02.2020

“Democracy Schtonk!” ist das Motto des Tages.

K.Reinhold / 06.02.2020

Herr Schneider, man kann es drehen und wenden wie man will: den Wählerwillen kann man nicht austricksen. Und das ist gut so. Zu Ihrer Meinung zur AfD: je extremer die aktuelle Politik wird, umso extremer bzw. radikaler sind die anzuwendenen Gegenmaßnahmen. Will heißen, die Opposition muss radikalere “Heilmaßnahmen” vorschlagen. Bevor die Kiste unwiderbringlich zerfahren ist.

Doris Heilos / 06.02.2020

Wir brauchen dringend Neuwahlen - und zwar bundesweit!

Hein Tiede / 06.02.2020

“Geblieben ist da eine Partei der Vogelschissnegermessermännererinnerungswendesager.” Ich wundere mich immer wieder, wie intelligente Menschen, zu denen eben auch Thilo Schneider gehört, auf solche haltlosen Verbalinjurien verfallen können. Ohne jetzt auf “Vogelschiss”, “Neger”, “Messermänner”, “erinnerungspolitische Wende” näher einzugehen: Welche Vorteile hat gerade wie wetterwendische Umfallpolitik der FDP in Fragen der Migrationspolitik (no nation, no border zulassend!) gebracht? Hat die Erinnerungskultur mit ihrem ständigen Kampf gegen Hitler, der sich in dem Maße intensiviert, je länger dieser tot ist, den Antisemitismus besiegt, das Verständnis für Israel in Deutschland befördert? Sind Deutschlands Straßen, Weihnachtsmärkte, Bahnhöfe sicherer geworden, dank etlicher Justizminister der FDP?

Winfried Nöth / 06.02.2020

Vieles ist hier richtig, aber dem Satz “Mit „liberal“ hat die AfD jedenfalls nichts am Stahlhelm.” kann man nicht wirklich zustimmen. Warum auch Liberale und Liberalkonservative lieber AfD als FDP wählen, hat das Verhalten von Herrn Lindner gestern wieder gut begründet. Ich bin immer noch erstaunt, dass er sich 2017 getraut hat, die Jamaika Koalition abzulehnen. Ein Bundesparteichef muss mehr Format beweisen, sofern er meine Stimme haben will.

Frank Heinze / 06.02.2020

Haben wir eigentlich (nominell) selbstständige Bundesländer oder nicht? Seit wann haben Politiker anderer Bundesländer oder gar die Bundeskanzlerin (“muss rückgängig gemacht werden”) in Länderbelangen überhaupt reinzureden? Die Entscheidung wie weiter obliegt einzig und allein dem einzig demokratisch legitimiertem Vertreter des thüringischen Volkes, dem Landesparlament. Druck von aussen auf die Parlamentarier, gar Ausschlussdrohungen sind eigentlich strafbare Handlungen.

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