Georg Etscheit / 13.01.2021 / 06:00 / Foto: Pete / 122 / Seite ausdrucken

Szenen einer Zeitungsehe

„Oh Gott, die Zeitung!“, sage ich, als mir meine bessere Hälfte die Zeitung auf den Frühstückstisch legt. „Dann bestell sie doch endlich ab!“. Ich zögere. „Ich habe sie doch seit 35 Jahren abonniert.“ „Aber wenn du dich jeden Morgen über sie ärgerst?“. „Ich schreibe manchmal noch für sie“. „Die paar Artikelchen pro Jahr, das ist nicht dein Ernst?“ „Aber ich kann doch als Journalist nicht ohne Zeitung leben.“ „Dann abonniere doch eine andere, die FAZ oder die Neue Zürcher vielleicht!“ „Die hat doch keinen Lokalteil, außerdem..." , füge ich nach einer kurzen Pause hinzu, „irgendwie hänge ich immer noch an ihr.“

So geht das fast jeden Morgen. „Sie“, das ist jene Tageszeitung, die mich schon länger als mein halbes Leben begleitet hat. Doch seit ein paar Jahren geht sie mir auf die Nerven. Eigentlich möchte ich sie gar nicht mehr lesen, sie noch nicht einmal aus dem Postkasten ziehen. Wenn ich die Treppe herunterkomme und sehe, wie sie frech aus dem Briefschlitz schaut, krampft sich mir der Magen zusammen. Warum? Weil sie immer sehr oft das Gegenteil von dem schreibt, was ich hören bzw. lesen will. Dass ich trotzdem nicht von ihr lassen kann, ist rational schwer zu erklären. Mit einer Tageszeitung ist man fast untrennbar verbunden, nur vergleichbar mit der Zahnpastamarke, die man von Kindheit an gewöhnt ist, und vielleicht noch der eigenen Hausbank.

Wenn die Beziehung irgendwann nicht mehr stimmt, was bei IHR spätestens seit der sogenannten Flüchtlingskrise und dem Amtsantritt Donald Trumps der Fall ist, stellen sich Verhältnisse ein wie bei einer langjährigen, zerrütteten Ehe. Man kann nicht ohne, man kann nicht mit. Man würde sich gerne trennen, aber man schafft es nicht, weil einen so viele Erinnerungen und Gewohnheiten verbinden. Und man hat sich so sehr an ihre Gemeinheiten gewöhnt, dass man sie braucht, um sich ärgern zu können. Das ist nicht gut für die Psyche, aber immerhin merkt man, dass man noch lebt. 

Im Umgang mit ihr habe ich schon ein regelrechtes Vermeidungsverhalten entwickelt. Wenn ich morgens besonders schlecht gelaunt bin, schließe ich die Augen, wenn ich sie aus dem Briefkasten fische, um die Schlagzeile nicht lesen zu müssen, zerknülle dann die Titelseite und den politischen Teil und werfe das Papier ungelesen in den Mülleimer. Jeden Tag miste ich konsequent die Beilagen aus, „Chrismon“ etwa, das Zentralorgan des großen Noch-EKD-Ratsvorsitzenden Bedford-Strohm, und die freitägliche Hochglanzbeilage mit ihren Flüchtlingsreportagen und Porträts von Transmenschen.  

Das politisch korrekte Standardrepertoire rauf und runter

Den Rest trage ich verdrossen an den Frühstückstisch. Ich beginne mit dem Lokalsport, der mich zwar null interessiert, aber noch einigermaßen unverfänglich ist. Danach steigere ich Schritt für Schritt den Grad kognitiver Dissonanz. Über den Bayernteil und den Münchner Lokalteil kämpfe ich mich langsam nach vorne durch, zunächst kommt der dunkelgrüne Wirtschaftsteil, dann das Feuilleton, das in Ermangelung der wegen Lockdowns weggebrochenen Kulturkritiken ebenfalls das politisch korrekte Standardrepertoire rauf- und runter betet. „Politisches Feuillton“ nennt sich das. Harte Kost, nur mit einem starken Kaffee zu ertragen. Wenn ich besonders gut geschlafen habe, mute ich mir einen kurzen Blick auf die Kommentarseite zu. Zur Erholung brauche ich dann Achgut.com.

Ich freu mich immer, wenn ich sie mal für ein paar Tage oder Wochen abbestellen kann. Endlich Ruhe. Wenn sie dann nach dem Urlaub wieder provokativ den Briefkasten füllt, frage ich mich, warum es nicht immer so sein könnte. Besonders brutal sind die Wochenenden, wenn das Blatt den doppelten Umfang hat und sich die Redakteure mit investigativen und „einordnenden“ Geschichten austoben. Ich habe aber gelernt, die Papierdröhnung auf der Toilette im Schnelldurchgang zu konsumieren. Fünf Minuten für die Wochenendausgabe ist mein Rekord. 

Wie Sie, lieber Leser, sicherlich ahnen, handelt es sich bei dem Blatt, mit dem ich in einer Art von Hassliebe verbunden bin, um die Süddeutsche Zeitung. Als Journalistik-Student in München war sie für mich und meine Kommilitonen der Heilige Gral. Nie dachte ich, jemals in diesem bewunderten Blatt eine Zeile veröffentlichen zu können. Schon gar nicht auf der legendären „Seite drei“, die nur den bedeutendsten „Edelfedern“ vorbehalten war. In diesen Zeiten freute man sich noch, wenn man die Namen der Halbgötter in Schwarz in der Autorenzeile fand: Herbert Riehl-Heyse, der mit seiner subtilen Ironie einen eigenen Stil kreierte, der großartige Gerichtsreporter Hans Holzhaider, Christian Schütze, ein Pionier des Umweltjournalismus, oder der von mir besonders verehrte Sprachconnaisseur Hermann Unterstöger.

Dabei war mir die SZ keineswegs in die Wiege gelegt. Mein Vater war langjähriger Abonnent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die er wegen der spürbaren Unabhängigkeit ihres Vorgängers Frankfurter Zeitung selbst in der Nazizeit ebenso verehrte wie ich später die Süddeutsche. In seinen späteren Jahren war er der FAZ ebenfalls in einer Hassliebe verbunden, nur unter umgekehrten Vorzeichen. Er rieb sich an der nationalkonservativen Haltung von Kolumnisten wie Friedrich Karl Fromme, die er mit einem nie versiegenden Strom an ebenso scharfen wie geschliffenen Leserbriefen überzog. Auch mich juckt es oft in den Fingern, und zweimal habe ich schon einen Leserbrief in der SZ platziert, für einen gelegentlichen Mitarbeiter dieses Blattes ein durchaus ungewöhnliches Unterfangen. 

Das Ende des noblen Räsonierens

Die FAZ zu abonnieren, kam für mich nie infrage, weil sie zum einen keinen Bezug zu meiner Wahlheimat München hatte und überdies einen furztrockenen Stil pflegte, der mich immer langweilte, wobei ich ihn mir heute zurückwünsche, weil sich der „Haltungsjournalismus“ mit seiner notorischen Vermischung von Nachricht und Kommentar, dem die SZ schon früh frönte, auf breiter Front durchgesetzt und längst auch die FAZ erreicht hat, wobei diese Zeitung gelegentlich noch Meinungen gelten lässt, die nicht der eigenen Blattlinie entsprechen. 

Der Charakter meines Leib- und Magenblattes begann sich nachhaltig zu ändern, als unter Hans Werner Kilz, zuvor Chefredakteur des „Spiegel“, die etwas behäbige SZ sich anschickte, zum „Weltblatt“ zu werden und dem „Hamburger Nachrichtenmagazin“ Paroli zu bieten, vor allem mit investigativen Geschichten, in denen sich die Reporter zu Anklägern und Richtern in einer Person erklärten. Das war das Ende des noblen Räsonierens, der eleganten, distanziert-ironischen Weltbetrachtung. Jetzt ging es darum, selbst Politik zu machen, eine Entwicklung, die darin gipfelte, dass die SZ mit ihrer durchaus selektiven Berichterstattung über Heinz-Christian Straches „Ibiza-Affäre“ die österreichische Regierung stürzte.

Nein es ist nicht schön, mit der „eigenen“ Zeitung über Kreuz zu liegen. Auch wenn ich es generell schätze, wenn man über den Tellerrand hinausblickt und nicht in einer kommunikativen Blase versauert, will man nicht jeden Tag einen geistigen Clinch austragen. Zum Jahreswechsel schien es wieder einmal so weit zu sein, schien die Trennung unausweichlich, als die SZ in einer feuilletonistischen Auflistung über „Ideen, die uns bleiben“ neben „Autofreien Städten“ und „Musik im Freien“ auch den „Triumph der Vernunft“ in der Corona-Politik anführte mit einem illustrierenden Logo, das Angela Merkel als Freiheitsstatue zeigt. Zu „keiner Zeit der Geschichte“ sei „einer Seuche mit so viel Umsicht und Information begegnet“ worden. 

Aber ich hab es wieder nicht geschafft, wobei dieser Beitrag nicht entstanden wäre, wenn ich meine hassgeliebte bzw. liebgehasste SZ schon abbestellt hätte. Und das Papier ist ja auch noch für Anderes zu gebrauchen, zum Einwickeln, Fensterputzen und zum Auslegen der Biotonne.    

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Werner Arning / 13.01.2021

So wie Ihnen ging es sicher auch anderen Achse-Lesern. Ich war auch einmal treuer Abonnent einer (regionalen) Tageszeitung. In den ersten Jahren des vergangenen Jahrzehnts war diese Zeitung mein täglicher Begleiter, war ich im Urlaub, vermisste ich sie, schieb regelmäßig Leserbriefe, freute mich über ihre manchmal kritische Haltung dem linken Zeitgeist gegenüber, freute mich über ihre Ermunterung an die Leser zur Teilnahme, zur offenen Diskussion, die einem breiten Meinungsspektrum Raum gab. Und dann kam, es war noch vor der Grenzöffnung im Jahre 2015, ein neuer Chefredakteur. Dieser wurde in linken Kreisen dafür gelobt, bereits in Bayern eine regionale Zeitung auf linken „Vordermann“, also von damals noch CSU-konservativ auf linksgrüne Linie „umorientiert“ zu haben. Das sollte er nun auch im Hessischen, in welchem ich seinerzeit wohnte, schaffen. Und man kann sagen: Er schaffte es. Das Blatt wurde linker Mainstream mit allen Worthülsen, die dazugehören. Meine diesbezüglichen Beschwerden blieben unerhört. Vorbei war es mit dem freien Geist, den die Zeitung zuvor ausmachte. Nach der Grenzöffnung war natürlich gar kein Halten mehr. Die ideologische Ampel stand auf Rot-Grün, also Merkel-grün. Meine Leserbriefe wurden jedenfalls nicht mehr gedruckt. Ende der Diskussion. Vorbei war es mit der Lesefreude. Man entfremdete sich. Aus meinem Begleiter wurde ein Fremder. So war die Kündigung des Abos unvermeidlich. Leider finden sich wohl heute kaum noch Tageszeitungen, die den Vorgaben des linken Mainstream nicht gehorchen.

Günter Schlag / 13.01.2021

Der springende Punkt ist doch nicht: was mach ich mit dem Papier? Die Entscheidungshilfe sollte sein: muss ich sowas weiter mitfinanzieren?

Hjalmar Kreutzer / 13.01.2021

Herr Etscheit, Sie Glücklicher, in Ihrem Haushalt scheint es ja Konsens zu geben, ein Blatt, das Sie immer weniger mögen, ggf. abzubestellen, was bei uns nicht der Fall ist. Zum Glück zahlt meine bessere Hälfte unser lokales Blatt und danach wandert es nicht in die Papiertonne, sondern zu einer Nachbarin. Ein Abo entgeht der staatstragenden RND-Gazette also doch ;-) Ich frage mich allerdings, ob es nicht inzwischen in jeder mittleren bis großen Stadt auch alternative neutrale bis kritische Berichterstattung zum lokalen Geschehen gibt, zur rein sachlichen Information jeglicher Art notfalls die Seiten der Stadtverwaltung und des Fremdenverkehrsbüros oder von Kulturstätten? So ist doch eigentlich keiner mehr auf die Alpenprawda oder diverse SPD-zugehörige „Lozal- und Provinkialnachrichten“ angewiesen? Sind das tatsächlich über 700 Tacken per annum? Dafür würde ich meinem Schatz und mir aber lieber was Schönes gönnen.

Kostas Aslanidis / 13.01.2021

@ Karl Eduard. Sie beschreiben es perfekt, etwas drastisch, zynisch und humorvoll verpackt. “Ach du meine Guete. Mir kommen die Traenen”. Ha, ha, ha. Jeder Satz sitzt. Gruss aus Griechenland fuer ihren treffensten Kommentar.

Roland Hübner / 13.01.2021

Meine Biotonne läßt das Auslegen mit der SZ nicht zu.

Ulrich Naake / 13.01.2021

Lieber Herr Etscheid, machen Sie es wie ich: Ich nenne die Lektüre meiner Sächsischen Zeitung mittlerweile “den Feind studieren”. Das hilft. Garantiert. Viel Erfolg!

A. Keil / 13.01.2021

Wirklich guter Artikel! Mir geht/ging es ähnlich mit meiner langjährigen Tageszeitung, dem Tagesanzeiger (in der Schweiz). Noch nie auf einer Linie mit der politischen Richtung redete ich mir lange ein, dass der Mensch Reibung braucht. Irgendwann, besonders auffällig kurz nach Anfang der Corona-Krise, fingen der Haltungsjournalismus und die ständige Panik- und Angstmacherei so an, meine Nerven zu strapazieren, dass ich wenigstens mal die Print-Ausgabe abbestellte. Kürzlich habe ich nun auch dem Online-Abo den Stecker gezogen. Ohne es gross bekanntzugeben, hat der TA seit einiger Zeit eine ‘Kooperation’ mit der Süddeutschen Zeitung - das ist fast nicht zu ertragen. Was der Autor beschreibt, kann ich nur unterschreiben. Und nur Mut: es ist tatsächlich erstaunlich, welche Türen sich öffnen, wenn man sich mal wieder umschaut.

Kostas Aslanidis / 13.01.2021

@ Mertz Juliane. Der Ekel und besonderz der Hass dieser Kriegshetzer schmierblaetter, erinnern an den Stuermer. Billige Marionetten der Grossfinanz. Abbestellen ist die richtige Antwort. Schreiben eh alle nur ab.

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