“Das Maß ist voll! Ich trete aus der SPD aus“. So hat Gunter Weißgerber seinen Abschiedsbrief an seine einstigen Parteifreunde begonnen. Er war vor dreißig Jahren in Leipzig Mitbegründer der Sozialdemokratischen Partei. Wieder hat ein Sozialdemokrat die SPD verlassen. Das ist mittlerweile nichts Außergewöhnliches mehr, doch wenn es ein Mann tut, für den zum Ende der SED-Herrschaft die Wiedergründung seiner Partei ein wichtiger Schritt zur Rückgewinnung von Demokratie und Freiheit war, dann lässt das doch aufmerken.
Weißgerber zog 1990 in die erste frei gewählte Volkskammer ein und wurde nach der Wiedervereinigung über mehrere Legislaturperioden hinweg als SPD-Bundestagsabgeordneter in seinem Wahlkreis in Leipzig direkt gewählt. In Sachsen war er ein weithin bekannter Politiker, lange Zeit ein Gesicht seiner Partei, auch wenn er sich 2009 aus dem politischen Alltagsgeschäft zurückzog. Wie viele Sozialdemokraten litt er in den vergangenen Jahren immer mehr am Kurs der Spitzenfunktionäre.
Die SPD verabschiedete sich mehr und mehr von Sozialdemokratie, das spürten natürlich nicht nur die Mitglieder, sondern auch die Wähler, die den Genossen deshalb davonliefen. Wenn ausgerechnet in einer so stark sozialdemokratisch geprägten Gesellschaft wie der deutschen eine sozialdemokratische Partei derart schwächelt, wie die SPD, ist eigentlich unübersehbar, dass etwas Grundsätzliches im Argen liegt. Doch genau das sprach kein Vorsitzender oder Vorstand mehr an.
Für Weißgerber reichte ein vergleichsweise kleiner Anlass, um das Fass nach vielen Jahren zum Überlaufen zu bringen. Es war das Verschwinden eines Artikels über den Einfluss der SPD-eigenen Verlagsholding DDVG in „Tichys Einblick“. Der Artikel enthielt eigentlich nur die Fakten, die man bereits öfter hier auf Achgut.com lesen konnte (siehe unten). Doch der Tichy-Artikel wurde gelöscht, offenbar – so will ein Statement von Roland Tichy wohl verstanden werden – auf Druck der DDVG. Ob es eine Klage, Klageandrohung oder was sonst so denkbar wäre gab, bleibt bislang im Unklaren. Klar ist nur, dass man es auf den offenen und möglicherweise teuren Streit gegen das Streichungsbegehren nicht ankommen lassen wollte und nachgab.
Eines Sozialdemokraten unwürdig
Insofern liefert dieser Anlass nicht ganz den Resonanzraum, den der Paukenschlag von Weißgerbers Abschied aus der SPD eigentlich verdient hätte. Doch egal was in der Causa DDVG/SPD/Tichy nun genau vorgefallen ist: Schon den Wunsch nach Zensur seitens seiner ehemaligen Partei empfindet Weißgerber – zu recht – eines Sozialdemokraten unwürdig: „Bisher nahm die SPD den öffentlichen Diskurs über ihre Medienmacht immer an und stritt mit Argumenten für ihre Positionen.“ In seinem Austritts-Brandbrief beschreibt Weißgerber die SPD, die bis zum 7. Februar immer noch, wenn auch immer weniger, seine Partei war, so:
„Die SPD war lange Zeit eine Partei der Meinungs- und Demonstrationsfreiheit, des „allgemeinen, gleichen, geheimen und unmittelbaren“ Wahlrechts, der Gewaltenteilung, des antitotalitären Grundkonsenses, des Wissenschafts-, Industrie- und Wirtschaftsstandortes Deutschland, der europäischen Idee gleichberechtigter Partner und der Verankerung in der transatlantischen Wertegemeinschaft. Die SPD war immer die Partei der Facharbeiter, Ingenieure, Klein- und Mittelständler, auch der sozial engagierten sehr Erfolgreichen, kurz eine Partei der Leistungswilligen, eine Partei des „Förderns und Forderns“. Der Schutz Israels als einziger Demokratie im Nahen Osten gehörte ebenso zu den glaubwürdigen Anliegen der deutschen Sozialdemokratie. Israel schützt jegliche Religionsausübung, in den Nachbarländern Israels wird jüdisches Leben staatlich verfolgt. Das hat die SPD nahezu komplett vergessen. Ich mag mich für die heutige SPD nicht mehr schämen müssen.
In dieser Woche verletzte die SPD nun auch für mich eklatant das Recht auf die Meinungsfreiheit. Vorige Woche gab die SPD-Justizministerin öffentlich kund, das Wahlrecht verbiegen zu wollen. Mit den Wahnvorstellungen aus der Umgebung Nahles, die Antifa für die SPD gewinnen zu wollen, wurde der antitotalitäre Konsens endgültig verlassen. Was für eine Enttäuschung!
Spätestens mit der sogenannten Energiewende zeigte die SPD, was sie tatsächlich vom Energiestandort Deutschlands und seinen Arbeitnehmern hält: nichts. Nicht einmal die Energiekosten begreift die SPD als brennende soziale Frage. Im Gegenteil! Die SPD-Umweltministerin ist beständig bestrebt, die Kosten unnachgiebig in die Höhe zu treiben. War die SPD vormals stolz auf ihre Politik des sozialen Ausgleichs mit Augenmaß, so ist die heutige SPD eine der wichtigsten Vorantreiber der Umverteilung von unten nach oben - zur grünen Schickeria.
Die SPD macht sich hauptschuldig an der Zerstörung des Automobilstandortes Deutschland. Hieß es vor zwei Jahrzehnten in den Diskussionen um Lohnerhöhungen noch „Autos kaufen keine Autos“, um notwendige Einkommenserhöhungen volkswirtschaftlich zu begründen, so steht die SPD heute für „Keine Autos können nicht gekauft werden und die Arbeitsplätze sind uns egal. Die individuelle Mobilität als Freiheit aller Bürger ist uns, der SPD, ein Dorn im Auge!“. Ganz im Stil von Ulbricht und Honecker, die meinten „Der Sozialismus braucht Busse und Straßenbahnen, keine Autos“. Eine repressive Anmaßung, die auch ein Grund für die „Friedliche Revolution 1989 war. Macht nur weiter so.
Nach 1990 war der Kampf gegen die Massenarbeitslosigkeit eine tägliche Notwendigkeit. Keinem Politiker, erst recht keinem Sozialdemokraten, wäre es eingefallen, ganze Industriezweige zum Tode zu verurteilen, diesen geradezu planvoll herbeizuführen. […]
Der Atomenergiestandort Deutschland mit seinem vormaligen Wissenschafts- und Technologievorsprung liegt bereits auf dem Altar der Sozialdemokratie, nun kommt der Braunkohlebergbau dazu.
Es wird keine Versorgungssicherheit allein mit Sonne, Wind und Wasser geben können. Geschweige denn die neuen werteschaffenden Arbeitsplätze, die als Ersatz benötigt werden. Planwirtschaft funktioniert nicht.
Auch an der schwierigen Situation der Europäischen Union trägt die SPD massive Mitschuld. Die Solidarität der Partner einfordern und gleichzeitig deren Positionen abbügeln, das musste zum Brexit und muss zu schwersten Verstimmungen führen.
Wie die SPD mit den Balten, Polen, überhaupt mit den Mittelosteuropäern umgeht, das gereicht ihr nicht nur zur Schande, es stärkt die Zentrifugalkräfte innerhalb der Union. Zu Freude und Nutzen der Konkurrenz aus Übersee und Asien.
Die SPD des Jahres 2019 entledigt sich mit Eifer ihrer bisherigen Wähler und vieler ihrer bisherigen Mitglieder. Zu denen ich jetzt auch gehöre. […]
Meinen vielen Mitstreitern, Unterstützern und Helfern über mehr als zwei Jahrzehnte danke ich. Trösten wir uns, Politik ist nicht alles im Leben und Parteimitgliedschaften kannten die meisten von uns vor 1989 auch nicht. Man sieht sich.“
Vielleicht sollten sowohl die Sozialdemokraten, die ihr SPD-Parteibuch abgegeben haben als auch die, die es sich aus Prinzip nicht wegnehmen lassen wollen, überlegen, ob sie nicht den Sozialdemokratie-affinen Deutschen ein neues Angebot machen können. Die sozialdemokratische Leerstelle ist in der deutschen Demokratie schmerzhaft vorhanden und sie wird stetig größer, auch wenn darüber derzeit noch wenig gesprochen wird. Vielleicht auch, weil sich viele Sozialdemokraten, die sich von der SPD verlassen fühlen, scheinbar ins Stillschweigen zurückgezogen haben.
Auf Achgut.com sind zum Thema DDVG unter anderem folgende Artikel erschienen:
Sozialdemokratische Prozentrechnung
Die SPD-Geldmaschine
Ein neues Medienkartell?
Wie die SPD “Ökotest” stranguliert
Die Parteien bitten zur Kasse
Sozialabbau für das SPD-Zeitungsimperium
Der Beitrag erschien auch hier auf sichtplatz.de