Peter Grimm / 08.02.2019 / 15:12 / Foto: Olaf_Kosinsky / 25 / Seite ausdrucken

Sozialdemokraten: Ein Urgestein geht

“Das Maß ist voll! Ich trete aus der SPD aus“. So hat Gunter Weißgerber seinen Abschiedsbrief an seine einstigen Parteifreunde begonnen. Er war vor dreißig Jahren in Leipzig Mitbegründer der Sozialdemokratischen Partei. Wieder hat ein Sozialdemokrat die SPD verlassen. Das ist mittlerweile nichts Außergewöhnliches mehr, doch wenn es ein Mann tut, für den zum Ende der SED-Herrschaft die Wiedergründung seiner Partei ein wichtiger Schritt zur Rückgewinnung von Demokratie und Freiheit war, dann lässt das doch aufmerken.

Weißgerber zog 1990 in die erste frei gewählte Volkskammer ein und wurde nach der Wiedervereinigung über mehrere Legislaturperioden hinweg als SPD-Bundestagsabgeordneter in seinem Wahlkreis in Leipzig direkt gewählt. In Sachsen war er ein weithin bekannter Politiker, lange Zeit ein Gesicht seiner Partei, auch wenn er sich 2009 aus dem politischen Alltagsgeschäft zurückzog. Wie viele Sozialdemokraten litt er in den vergangenen Jahren immer mehr am Kurs der Spitzenfunktionäre.

Die SPD verabschiedete sich mehr und mehr von Sozialdemokratie, das spürten natürlich nicht nur die Mitglieder, sondern auch die Wähler, die den Genossen deshalb davonliefen. Wenn ausgerechnet in einer so stark sozialdemokratisch geprägten Gesellschaft wie der deutschen eine sozialdemokratische Partei derart schwächelt, wie die SPD, ist eigentlich unübersehbar, dass etwas Grundsätzliches im Argen liegt. Doch genau das sprach kein Vorsitzender oder Vorstand mehr an.

Für Weißgerber reichte ein vergleichsweise kleiner Anlass, um das Fass nach vielen Jahren zum Überlaufen zu bringen. Es war das Verschwinden eines Artikels über den Einfluss der SPD-eigenen Verlagsholding DDVG in „Tichys Einblick“. Der Artikel enthielt eigentlich nur die Fakten, die man bereits öfter hier auf Achgut.com lesen konnte (siehe unten). Doch der Tichy-Artikel wurde gelöscht, offenbar – so will ein Statement von Roland Tichy wohl verstanden werden – auf Druck der DDVG. Ob es eine Klage, Klageandrohung oder was sonst so denkbar wäre gab, bleibt bislang im Unklaren. Klar ist nur, dass man es auf den offenen und möglicherweise teuren Streit gegen das Streichungsbegehren nicht ankommen lassen wollte und nachgab.

Eines Sozialdemokraten unwürdig

Insofern liefert dieser Anlass nicht ganz den Resonanzraum, den der Paukenschlag von Weißgerbers Abschied aus der SPD eigentlich verdient hätte. Doch egal was in der Causa DDVG/SPD/Tichy nun genau vorgefallen ist: Schon den Wunsch nach Zensur seitens seiner ehemaligen Partei empfindet Weißgerber – zu recht – eines Sozialdemokraten unwürdig: „Bisher nahm die SPD den öffentlichen Diskurs über ihre Medienmacht immer an und stritt mit Argumenten für ihre Positionen.“ In seinem Austritts-Brandbrief beschreibt Weißgerber die SPD, die bis zum 7. Februar immer noch, wenn auch immer weniger, seine Partei war, so:

„Die SPD war lange Zeit eine Partei der Meinungs- und Demonstrationsfreiheit, des „allgemeinen, gleichen, geheimen und unmittelbaren“ Wahlrechts, der Gewaltenteilung, des antitotalitären Grundkonsenses, des Wissenschafts-, Industrie- und Wirtschaftsstandortes Deutschland, der europäischen Idee gleichberechtigter Partner und der Verankerung in der transatlantischen Wertegemeinschaft. Die SPD war immer die Partei der Facharbeiter, Ingenieure, Klein- und Mittelständler, auch der sozial engagierten sehr Erfolgreichen, kurz eine Partei der Leistungswilligen, eine Partei des „Förderns und Forderns“. Der Schutz Israels als einziger Demokratie im Nahen Osten gehörte ebenso zu den glaubwürdigen Anliegen der deutschen Sozialdemokratie. Israel schützt jegliche Religionsausübung, in den Nachbarländern Israels wird jüdisches Leben staatlich verfolgt. Das hat die SPD nahezu komplett vergessen. Ich mag mich für die heutige SPD nicht mehr schämen müssen.

In dieser Woche verletzte die SPD nun auch für mich eklatant das Recht auf die Meinungsfreiheit. Vorige Woche gab die SPD-Justizministerin öffentlich kund, das Wahlrecht verbiegen zu wollen. Mit den Wahnvorstellungen aus der Umgebung Nahles, die Antifa für die SPD gewinnen zu wollen, wurde der antitotalitäre Konsens endgültig verlassen. Was für eine Enttäuschung!

Spätestens mit der sogenannten Energiewende zeigte die SPD, was sie tatsächlich vom Energiestandort Deutschlands und seinen Arbeitnehmern hält: nichts. Nicht einmal die Energiekosten begreift die SPD als brennende soziale Frage. Im Gegenteil! Die SPD-Umweltministerin ist beständig bestrebt, die Kosten unnachgiebig in die Höhe zu treiben. War die SPD vormals stolz auf ihre Politik des sozialen Ausgleichs mit Augenmaß, so ist die heutige SPD eine der wichtigsten Vorantreiber der Umverteilung von unten nach oben - zur grünen Schickeria.

Die SPD macht sich hauptschuldig an der Zerstörung des Automobilstandortes Deutschland. Hieß es vor zwei Jahrzehnten in den Diskussionen um Lohnerhöhungen noch „Autos kaufen keine Autos“, um notwendige Einkommenserhöhungen volkswirtschaftlich zu begründen, so steht die SPD heute für „Keine Autos können nicht gekauft werden und die Arbeitsplätze sind uns egal. Die individuelle Mobilität als Freiheit aller Bürger ist uns, der SPD, ein Dorn im Auge!“. Ganz im Stil von Ulbricht und Honecker, die meinten „Der Sozialismus braucht Busse und Straßenbahnen, keine Autos“. Eine repressive Anmaßung, die auch ein Grund für die „Friedliche Revolution 1989 war. Macht nur weiter so.

Nach 1990 war der Kampf gegen die Massenarbeitslosigkeit eine tägliche Notwendigkeit. Keinem Politiker, erst recht keinem Sozialdemokraten, wäre es eingefallen, ganze Industriezweige zum Tode zu verurteilen, diesen geradezu planvoll herbeizuführen. […]

Der Atomenergiestandort Deutschland mit seinem vormaligen Wissenschafts- und Technologievorsprung liegt bereits auf dem Altar der Sozialdemokratie, nun kommt der Braunkohlebergbau dazu.

Es wird keine Versorgungssicherheit allein mit Sonne, Wind und Wasser geben können. Geschweige denn die neuen werteschaffenden Arbeitsplätze, die als Ersatz benötigt werden. Planwirtschaft funktioniert nicht.

Auch an der schwierigen Situation der Europäischen Union trägt die SPD massive Mitschuld. Die Solidarität der Partner einfordern und gleichzeitig deren Positionen abbügeln, das musste zum Brexit und muss zu schwersten Verstimmungen führen.

Wie die SPD mit den Balten, Polen, überhaupt mit den Mittelosteuropäern umgeht, das gereicht ihr nicht nur zur Schande, es stärkt die Zentrifugalkräfte innerhalb der Union. Zu Freude und Nutzen der Konkurrenz aus Übersee und Asien.

Die SPD des Jahres 2019 entledigt sich mit Eifer ihrer bisherigen Wähler und vieler ihrer bisherigen Mitglieder. Zu denen ich jetzt auch gehöre. […]

Meinen vielen Mitstreitern, Unterstützern und Helfern über mehr als zwei Jahrzehnte danke ich. Trösten wir uns, Politik ist nicht alles im Leben und Parteimitgliedschaften kannten die meisten von uns vor 1989 auch nicht. Man sieht sich.“

Vielleicht sollten sowohl die Sozialdemokraten, die ihr SPD-Parteibuch abgegeben haben als auch die, die es sich aus Prinzip nicht wegnehmen lassen wollen, überlegen, ob sie nicht den Sozialdemokratie-affinen Deutschen ein neues Angebot machen können. Die sozialdemokratische Leerstelle ist in der deutschen Demokratie schmerzhaft vorhanden und sie wird stetig größer, auch wenn darüber derzeit noch wenig gesprochen wird. Vielleicht auch, weil sich viele Sozialdemokraten, die sich von der SPD verlassen fühlen, scheinbar ins Stillschweigen zurückgezogen haben.

Auf Achgut.com sind zum Thema DDVG unter anderem folgende Artikel erschienen:

Sozialdemokratische Prozentrechnung

Die SPD-Geldmaschine

Ein neues Medienkartell?

Wie die SPD “Ökotest” stranguliert

Die Parteien bitten zur Kasse

Sozialabbau für das SPD-Zeitungsimperium

Der Beitrag erschien auch hier auf sichtplatz.de

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J.Janssen / 08.02.2019

Dabei wäre eine Partei vonnöten die sich den Fortschritt und die Gestaltung der Zukunft auf Basis humanistischer Werte, Rationalität und Wissenschaftlichkeit zum Ziel setzten würde. Eine Partei von und für die Leistungsträger, also jener die jeden Morgen aus dem Bett steigen um zu arbeiten um alles in Gesellschaft und Familie am laufen zu halten!!!

Uwe Dippel / 08.02.2019

Spricht mir aus der Seele. Obwohl ich nicht aus dem Osten komme, und kein SPD-Mitglied war oder bin. Meine Sympathien waren immer auf Seiten der SPD, zumindest in der alten Republik. Aber auch schon häufig mit einer ähnlichen Wut im Bauch wegen der Wabberigkeit. Das war schon vor 100 Jahren so (da lebte ich noch nicht), mit der berühmt-berüchtigten Rede auf dem Balkon, und kurz danach den Schwanz einziehend. In meinen Berliner Zeiten waren es die grossen Sprüche in der Wohnungspolitik (ja, vor 35 Jahren!), und am nächsten Morgen die Mieter aus dem Haus holend, damit ganze Blöcke ‘saniert’ werden konnten. Zumindest gedanklich stand jene SPD noch auf der Seite der kleinen Leute. Heutzutage vertritt die SPD ein hypothetisches Konstrukt einer grün-linken Verbalpolitik für die Bionaden, die mit dem SUV in den Naturkostladen fahren. Also vollkommen selbstwidersprüchlich. *Diese* SPD braucht niemand.

U. Unger / 08.02.2019

Nun bin ich auf dem neuesten Stand, eine bewegende Erklärung vom geschätzten Herrn Weißgerber, insgesamt. Treffend bis ins Detail seine Begründungen, makellos argumentiert, sachlich. Nun werde ich, die mir bis eben, unbekannte Affäre mit Tichys Einblick weiter verfolgen. Der erste Eindruck; “Riesiger Skandal.” Einzig positiver Aspekt, es geschah vor allen Wahlterminen. Meine persönliche Hoffnung ist, dass Herr Sarrazin bei seiner harten Gangart, das Feld nicht zu räumen, noch mindestens ein halbes Jahr durchhält. Offensichtlich hat sich die Parteiführung entschieden, ohne jeden bekannten Abweichler, weiter zu machen. Individuelle prominente Austritte in lang anhaltender Regelmäßigkeit mit hoher öffentlicher Anteilnahme, wären daher wünschenswert. Sie dürften nichts ändern, tun aber wenigstens noch weh. Dass die Achse- Leserschaft den Austritt Weißgerbers noch ordentlich kommentiert ist hundert Prozent sicher. Mit Freude werde ich die Beiträge lesen und genießen.

A.Lisboa / 08.02.2019

Bitte keine “sozialdemokratische Alternative” gründen. Demokratischer Sozialismus ist ein Oxymoron, Die Sozis zeigen nun endlich ganz ungeniert offen was schon immer in ihnen steckt: Linke Allmachtsphantasien und gezielte Politik gegen das eigene Volk! Ich meine an dieser Stelle nicht die wenigen vernünftigen, nicht links ideologisierten Leute in dieser Partei, die gab es und gibts nämlich auch. Wer heute noch ernsthaft an demokratischen Sozialismus glaubt, der sollte lieber die Bücher deutscher Romantiker lesen, da hat er dann genug Stoff zum träumen.

beat schaller / 08.02.2019

Das ist nun wirklich mal eine starke Vorstellung. Hut ab! Ich hoffe, dass da nun noch weitere SPD’ler folgen. Da gäbe es sicherlich eine Partei, die erfahrene Leute aus der Mitte und der Vernunft aufnehmen würden um ihr mitzuhelfen, extreme “Elemente” die es in allen Parteien gibt, zu mässigen oder austreten zu lassen. Ein Hoffnungsschimmer?? b.schaller

H.Roth / 08.02.2019

Die SPD hat ihre Wähler verlassen. Punkt. Eine Volkspartei, die sich statt um die Anliegen der Arbeiter, nur noch um das Erhalten und Verwalten der eigenen Pfründe kümmert, kann abtreten. Konservative Sozialdemokraten stehen in dieser Partei ebenso alleine da, wie konservative CDU-Politker in der Union. Der einzige Grund für diese Politiker zu bleiben,  ist nur noch der Widerstand gegen den willkürlichen Parteiausschluss. Allen anderen gratuliere ich zu diesem Schritt.

Stefan Riedel / 08.02.2019

Sehr geehrter Herr Weißgerber, meine Hochachtung für den gestandenen SPD-ler und alles Gute für Sie und Ihre Familie.

Volker Seitz / 08.02.2019

Danke Herr Grimm, dass Sie den Abschiedsbrief von Gunter Weißgerber allen Achse-Lesern zugänglich gemacht haben. Ich muß gestehen, ich war auch mal in dieser Partei zu Zeiten von Willy Brandt und Helmut Schmidt . Wie ich kürzlich auf der Achse geschrieben habe, würde Helmut Schmidt heute von dieser Partei “rechtspopulistisch” diffamiert. Das Verschwinden des Artikels über den Einfluss der SPD-eigenen Verlagsholding DDVG in “Tichys Einblick” hat die erfreuliche Folge, dass der Artikel jetzt vielfach in Mails auftaucht. Offenbar wurde der Artikel vor der Löschung oft kopiert und wird jetzt erst recht gelesen. Vielleicht werden jetzt Leser erreicht, die die Fakten, die in der Tat bereits früher von Achgut.com, publiziert wurden, noch nicht kennen.

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