Von Johannes Eisleben.
Wenn neue politische Systeme sich im Konsens mit der Bevölkerung durchsetzen, bedeuten sie für die meisten Menschen gegenüber dem status quo ante eine Verbesserung. So war es in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts bei der Einführung des Absolutismus, der die religiösen Bürgerkriege Europas beendete. Oder auch bei der Herstellung der universalistisch geprägten Repräsentativdemokratien in Westeuropa nach dem zweiten Weltkrieg. Damals sehnten sich die Menschen nach Frieden, Stabilität und Wohlstand, und unter der Führung des westlichen Schutz- und Friedensgaranten USA wurden diese Ziele erreicht.
Doch nach Etablierung der neuen Ordnung lernen elitäre Minderheiten mit der Zeit, die staatlichen Strukturen zu ihren Zwecken zu nutzen. Die emanzipatorischen Ideengebäude, die der neuen Ordnung einst ihren Glanz verliehen und Menschen durch eine bessere Zukunft verheißende Versprechen begeisterten, verwandeln sich in Herrschaftsideologien: Staatliche Institutionen, Medien und Recht dienen in erster Linie der Privilegierung der Eliten und ihrer Herrschaftsabsicherung.
An diesem Punkt ist heute das universalistisch-links-liberale Gedankengebäude angelangt. Es handelt sich nun um einen Pseudoliberalismus, der die Kernaufgaben des Staates vernachlässigt, eine dem Wesen des Menschen zuwiderlaufende Ideologie mit Hilfe von Repression erzwingt und den Staat zum Gegner seiner Bürger macht. Die Gewaltenteilung wird aufgehoben, der nationale Rechts- und Ordnungsstaat wird ohne jegliche Grundlage zugunsten eines transnationalen Vertragskonvoluts (sie nennen es die „Europäische Union“) ohne Gewaltenteilung, demokratische Öffentlichkeit und Repräsentation und vor allem ohne wirksamen Schutz des Individuums vor staatlicher Willkür – sehr gut sichtbar am Phänomen der offenen Grenzen oder der „Eurorettung“ – abgebaut.
Das Ziel des Vertragskonvoluts ist es, die Durchsetzung der Interessen einer privilegierten Minderheit – bestehend aus den Eigentümern der Produktionsmittel und den ihnen dienenden leitenden Angestellten in Konzernen, teuren Wirtschaftsdienstleistern, staatlichen Institutionen, Staatsparteien und Medien – der demokratisch-rechtstaatlichen Kontrolle zu entziehen. Wie konnte jedoch ein universalistisch-liberales Ideengebäude, dass sich scheinbar im perfekten Einklang mit der humanistisch-christlichen Tradition befindet und seinen berühmtesten Niederschlag in der 1948 im Pariser Palais Chaillot verabschiedeten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte fand, so verkommen?
Ideologische Synthese aus Liberalismus und Sozialismus
Der Pseudoliberalismus ist eine ideologische Synthese aus Liberalismus und Sozialismus, die sich seit den 1950er Jahren entwickelt hat. Seine beiden Mutterideologien sind teleologische Ideensysteme mit Wurzeln im 17. /18. und vollständiger Ausarbeitung im 19. Jahrhundert, die aus unterschiedlichen Perspektiven eine Besserung des irdischen Zustands der Menschheit anstrebten. Das ältere dieser beiden Ideengebäude, der Liberalismus, dessen Entwicklung bereits in Schottland im 17. Jahrhundert begann, versprach den Bürgern eine Befreiung von staatlicher Willkür und die Möglichkeit einer Entfaltung der privaten Absichten und Fähigkeiten auf der Grundlage von Eigentum und bürgerlichen Freiheitsrechten. Er wandte sich besonders an jene Menschen, die über Besitz verfügten und ein wirtschaftlich unabhängiges, risikoaffines Leben führen wollten. Ihnen war die willkürliche Privilegierung des Adels durch den Staat ein Hindernis zur Verwirklichung ihrer Interessen. Für sie war das emanzipatorische Potenzial des Liberalismus enorm – doch war er von vornherein eine elitäre Ideologie, da die Mehrheit der Menschen das Risiko der Unabhängigkeit scheut.
Der Sozialismus hingegen wandte sich an risiko-averse Menschen, die ein abhängiges Erwerbsleben führen und über kein nennenswertes Eigentum verfügen. Schon einer der ersten Sozialisten, der chiliastische Berufsrevolutinonär und Marx-Vorgänger François-Noël Babeuf, wollte Ende des 18. Jahrhunderts in Frankreich das gesamte Privateigentum verstaatlichen sowie Produktion und Distribution aller Güter durch den Staat erledigen lassen, um den Antagonismus von Arm und Reich zu beenden und einen utopischen Zustand der Gleichheit aller Menschen zu erreichen. Doch obwohl der Sozialismus strukturell nicht realisierbar ist, war sein emanzipatorisches Versprechen für die Abhängigen und Elenden groß, er war keine primär elitäre Ideologie wie der Liberalismus, sondern eine im Kern populistische, sich auf eingängige und einfache Weise an die große Mehrheit richtende politische Ideologie.
Es ist schwer zu glauben, dass diese beiden so widersprüchlichen politischen Philosophien verschmelzen konnten. Den wichtigsten Impuls dazu lieferte das Zeitalter des Totalitarismus, dessen Höhepunkt der zweite Weltkrieg war. Entsetzt von der Vernichtung dutzender Millionen von Menschen in Lagern und an Kriegsfronten begannen die westlichen Siegermächte, die in der Aufklärung entwickelten und im 19. Jahrhundert ausgebauten Menschenrechte zum Primat der Politik zu machen.
Seit den 1950er Jahren begann man jedoch im Westen, den Gleichbehandlungsgrundsatz anders aufzufassen als im 18. Und 19. Jahrhundert, nämlich nicht als Verbot staatlicher Willkür, sondern als sozialistische Verpflichtung des Staates zu einer die Gleichheit der Bürger herstellenden Leistung. Diese Reinterpretation des Gleichheitsgebots, die beispielsweise im Kern der Forsthoff-Abendroth-Kontroverse stand, ist der ideengeschichtliche Kern der Synthese von Liberalismus und Sozialismus: Hier verbindet sich scheinbar der liberale Gleichheitsgrundsatz mit sozialistischem Gleichheitsideal – doch der liberale Sinn des Grundsatzes ging dabei verloren. Von diesem Anfang ausgehend, befreiten sich in den nächsten Jahrzehnten der Liberalismus und der Sozialismus jeweils von ihrem emanzipatorischen Kern.
Der selbstständige Bürger geriet aus dem Blick
Dem Liberalismus ging es seit den 1950er Jahren immer weniger um Bürgerrechte und freiheitliche Verwirklichung des Einzelnen, dafür immer ausschließlicher um einen anscheinend liberalen Rahmen für die Wirtschaft. Dabei geriet das klassische Subjekt des Liberalismus – der selbstständige Bürger – aus dem Blick, stattdessen setzten sich Liberale in Europa für die Bildung eines Supranationalstaats, der EU, ein. Sie engagierten sich unter dem ideologischen Vorwand des Universalismus und der Verteufelung der aus ihrer Sicht gescheiterten Nationalstaaten nicht mehr für Rechtsstaatlichkeit und Subsidiarität, sondern für Zentralismus, Technokratie und die Optimierung wirtschaftlicher Rahmenbedingungen für große, transnationale Konzerne und für Banken, die in einem staatskapitalistischen System der staatlich garantierten Geldschöpfung aus dem Nichts agieren und dabei ohne Leistung parasitär Erträge aus der Realwirtschaft vereinnahmen.
Parallel dazu vernichtete der Sozialismus im Westen seinen emanzipatorischen Kern, indem er sich statt für die Schwachen und Elenden für andere Ziele einsetzte, insbesondere: (i) für eine starre Institutionalisierung der Privilegien von angestellten Arbeitern und Rentnern zu Lasten Arbeitsloser, (ii) für eine aktive Gleichstellung sogenannter Minderheiten (eigentlich: Privilegiensucher mit Rentenbegehren), (iii) für die Aufhebung des Nationalstaats zugunsten der „Weltgesellschaft“ oder (iv) für die Lösung von Umweltproblemen, von denen einige sehr berechtigt, viele aber – wie der sogenannte anthropogene Klimawandel – auch phantasievolle Erzählungen sind. Dabei vergaß er sein emanzipatorisches Versprechen an die Menschen, denen auch die Aufmerksamkeit Christi gegolten hatte, die Elenden, Schwachen und wirklich Ausgegrenzten.
West-Marxisten wie Jürgen Habermas entdeckten nun, dass es viel angenehmer ist, sich für die Belange der Reichen und Mächtigen einzusetzen. Langzeitarbeitslose, bildungsferne Schichten, psychisch Kranke und Behinderte gerieten aus dem Blick, letztere wurden durch die sogenannte Inklusion, eine eiskalte Maßnahme zum staatlichen Sparen auf Kosten der Allerschwächsten, ihrer Bildungschancen beraubt. Stattdessen wird von den linken Befürwortern der EU dem Großkapital gehuldigt und eine antidemokratische, den Rechtsstaat verachtende, gewaltverherrlichende, frauenverachtende, antisemitische, sklavenhalterische und homophobe Religion auf Kosten von Frauen, Homosexuellen und der wenigen Juden, die wie durch ein Wunder noch in Deutschland leben, staatlich durch zweistellige Milliardenbeträge als Zahlung für islamische Migranten – die nicht oder negativ (durch Kriminalität) zum Bruttosozialprodukt beitragen – gefördert.
Nachdem beide teleologischen Ideologien sich ihres Emanzipationspotenzials entledigt hatten, sind sie fusioniert und haben die unmenschliche, kalte Herrschaftsideologie unserer Zeit hervorgebracht: den universalistischen Pseudoliberalismus. Dabei gingen nur die schlechten Seiten beider Ideengebäude ein. Von liberaler Seite: kalter Wirtschaftsliberalismus mit reinem Primat der Rendite, Globalisierung ohne Rücksicht auf die Individuen, Kultur- und Geschichtsvergessenheit. Von sozialistischer Seite: grenzenloser Etatismus und technokratischer Zentralismus, toxische Utopien der Entbiologisierung des Menschen zum sozial perfekt funktionalen Zweckwesen, Hass auf Identität und Tradition sowie tiefe Verachtung der Nichterleuchteten, die nicht im Sinne Rousseaus die Größe haben, des Lichts der volonté générale (= Diktatur der edlen sozialistischen Führungselite) teilhaftig zu werden, sondern unverdrossen die legislative Umsetzung der abstoßenden volonté de tous (= ochlokratischer Wille des verachteten Pöbels) einfordern. Von der sozialistischen Tradition kommt auch die Gewaltbereitschaft des Pseudoliberalismus, wie sie an der staatlichen Förderung der Antifa im sog. „Kampf gegen Rechts“ oder dem NetzDG sichtbar wird: Wer weiß, wie die Utopie in der Realität implementiert werden muss, hat auch das Recht, dafür Gewalt einzusetzen. Die Distanz von Rousseau und Babeuf zu Robespierre, Lenin, Trotzki und Stalin ist klein.
Populismus als Holzweg
Nun haben wir also den Pseudoliberalismus als unverhohlenes Herrschaftsinstrument, das offen das Recht bricht, den Ordnungsstaat verfallen lässt und den Sozialstaat durch Masseneinwanderung zerstört. Wie reagieren die betroffenen Bürger, die zu spüren beginnen, dass es so nicht weitergehen kann, dass man ihnen ihre kulturelle und ökonomische Existenzgrundlage nimmt? Die meisten sind sich der Prozesse nicht auf differenzierte Weise bewusst, sondern sie entwickeln Ressentiments und auch Hass auf die Obrigkeit.
Diese aus der Ohnmacht entstehenden politischen Gefühle bedienen nun Populisten wie Trump, Orban, Strache, Le Pen, Wilders, Di Maio oder Kaczyński, in Deutschland auch Teile der AfD. Alle geben berechtigten Anliegen der Menschen Raum, wie etwa Angst vor Deklassierung und ökonomischem Niedergang, Sorgen wegen der Massenzuwanderung, Sicherheitsbedürfnis oder gar materieller Not. Dabei sind viele der von Pseudoliberalen als „populistisch“ gebrandmarkten Vorhaben vollkommen sinnvoll und berechtigt: Beendigung der Massenmigration, Rückbau der EU und Stärkung des National- und Ordnungsstaats, Beendigung der wahnhaften Klimapolitik, Abgrenzung gegen die Türkei, bessere Unterstützung Israels, um nur einige zu nennen.
Das populistische Element im wirklich problematischen Sinne, das allen gemeinsam ist, besteht darin, den Bürgern Lösungen der Probleme durch Mittel zu versprechen, die ökonomisch untragbar sind: Erhöhung der Staatsausgaben bei gleichbleibenden oder sinkenden Steuern. Denn während die Staatsverschuldung weiter steigt, kippt der Schuldenturm genau dann, wenn die Marktteilnehmer merken, dass der Staat nicht mehr zuverlässig Schulden aufkaufen kann, weil das zukünftige Steueraufkommen für eine Bedienung und Tilgung der Schulden nicht reicht. Wahrscheinlich ist dieser Punkt schon erreicht, doch hat dies die Wahrnehmungsschwelle der Käufer von Staatsschulden noch nicht erreicht, noch geht die Party an den Märkten weiter.
Indem die Populisten Problemlösung durch Schuldenerhöhung vortäuschen, wie die sich momentan bildende neue italienische Regierung oder Trump durch die jüngste Steuerreform, vertagen sie die echte Lösung der Probleme und erzeugen dadurch noch größere Schwierigkeiten in der eher nahen als fernen Zukunft: Eine Abschreibung der Staatsschulden geschieht immer auf dem Rücken der Schwachen, weil diese keine werthaltigen Renten und Gehälter mehr bekommen, aber kein Eigentum haben.
Rückbesinnung auf Dezentralisierung und Subsidiarität
Der richtige Weg zur Lösung der Probleme besteht in einer radikalen Re-Subsidiarisierung, Dezentralisierung und Reduktion staatlicher Aktivität in Kombination mit dem Primat von Rechts- und Ordnungsstaat sowie direktdemokratischer Kontrolle. Ein Gemeinwesen, in dem 70-80 Prozent des Steueraufkommens von einer lokalen Regierung ausgegeben wird, die maximal 50 bis 100 Tausend Bürger repräsentiert, ist der Garant für sinnvolle, bürgernahe Verwendung der Staatsmittel, und zwar sogar unabhängig von der Art der Repräsentation. Denn die antike Stadt Massilia hatte im frühen römischen Kaiserreich die Möglichkeit, die Steuereinnahmen zum Großteil selbst zu verteilen, ebenso wie ein Schweizer Kanton in den 1960er Jahren (heute ist der Anteil der Bundesausgaben auch in der Schweiz zu hoch).
Der falsche Weg ist transnationale Zentralisierung, Bürgerferne, utopische Pläne kleiner Eliten, die zur volonté générale verklärt werden, Zensur sozialer Medien, Zersetzung lokaler Identität und Gemeinschaft durch Massenzuwanderung von Menschen aus barbarischen Kulturen, die als Individuen nichts dafür können, dass sie destruierend auf unsere Gesellschaft wirken. Wir müssen uns darauf besinnen, die Strukturen zu erhalten und weiterzuentwickeln, die sich in langen Zeiträumen gebildet haben und unsere Kultur so menschlich und produktiv gemacht haben.