Von Johannes Eisleben.
Wir beobachten seit den frühen 1970er Jahren in den OECD-Länder einen wachsenden Schuldenturm, der nun ein Ausmaß angenommen hat, das nicht mehr ohne massive Schuldenkrise zu bereinigen ist, sondern mit der Zeit zum Zusammenbruch des Finanzsystems führen muss. Historisch haben zahlreiche Verschuldungssituationen vergleichbaren Ausmaßes zu ökonomischen und politischen Krisen bis hin zur Destabilisierung, dem Verfall der öffentlichen Ordnung und sogar zu Revolutionen geführt. Wie ist es dazu gekommen und was erwartet uns?
Als die USA 1972 den Goldstandard endgültig aufgaben und das Bretton-Woods-Finanzsystem der Nachkriegszeit beendeten, wurde durch die Kombination von staatlicher, ungedeckter Papierwährung und Teilreservesystem der Weg für einen ungezügelten Anstieg der privaten und öffentlichen Verschuldung frei. Damals war die Staatsverschuldung in den OECD-Ländern mit 10 bis 30 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) noch vergleichsweise niedrig, doch 2007, vor dem Ausbruch der letzten großen Finanzkrise, lag sie sie in vielen OECD-Ländern schon bei 70 bis 80 Prozent des BIP.
Seitdem ist die Staatsverschuldung in den OECD-Ländern im Mittel auf über 100 Prozent des BIP gestiegen. Ende 2015 belief sich die öffentliche Schuld in den OECD-Ländern auf 44 Billionen US-Dollar (das sind 44 tausend Milliarden). Diese Zahlen berücksichtigen aber nicht die ungedeckten Rentenansprüche von OECD-Staatsmitarbeitern, die ab 2020 massenhaft in Rente gehen, wenn die 1955 bis 1968 geborenen Baby-Boomer-Jahrgänge sukzessive das Rentenalter erreichen. Diese ungedeckten Rentenansprüche betrugen (Stand 2015) etwa 78 Billionen (78.000 Milliarden) Dollar.
Rechnet man veröffentlichte und ungedeckten Schuldgrößen zusammen, erhält man die reale Staatsverschuldung der OECD: Sie liegt bei 300-400 Prozent des BIP, bei Japan noch deutlich höher. Auch der private Sektor der Wirtschaft ist stark verschuldet, insbesondere die Banken der lateineuropäischen Länder und Japans. Bei den G7-Privathaushalten betrug das Verhältnis von Schulden zum verfügbaren Nettoeinkommen zwischen 88 Prozent (Italien) und 173 Prozent (Kanada). Diese Verschuldung wächst über alle OECD-Länder gemittelt weiter, auch wenn in manchen Ländern die Verschuldung im Privatsektor abgenommen hat und sehr wenige sogar die Staatsschulden senkten.
Entstehung der Verschuldung
Eine ungedeckte staatliche Papierwährung ermöglicht eine theoretisch unbegrenzte Ausweitung der Geldmenge. Da das Geld nicht an einen Realwert gebunden ist, können die Geldemittenten (Staat und Banken) die Geldmenge schneller ausdehnen, als die Realwirtschaft wächst. Der Staat tut dies, um seine Ausgaben über das Maß der Steuereinnahmen und Verschuldung an Private hinaus zu steigern: er verschuldet sich, so gut er kann, bei Privaten und weitet gleichzeitig die Geldmenge aus, um den Teil seiner Schulden, die kein Privater kaufen will, mit frisch gedrucktem Geld zu finanzieren (monetäre Finanzierung der Staatsausgaben). Der Preis dafür ist eine Abwertung des Geldwerts auf Kosten der Bürger: Inflation.
In den mediterranen, katholisch geprägten Ländern war dies in allen modernen Staaten ganz normal und wurde von den Bürgern viel besser akzeptiert als eine explizite, für alle sichtbare Finanzierung höherer Staatsausgaben durch Zunahme der Steuerlast. In den nördlichen, protestantisch geprägten Ländern Europas wurde dies eher vermieden, die steigenden Staatsverschuldung wurde nicht monetarisiert, sondern über private Gläubiger in dem von diesen tolerierten Ausmaß finanziert; deswegen waren deren Währungen auch stabil.
Nach der Schaffung des Euro waren private Gläubiger bis 2009 bereit, allen Euro-Ländern in beliebigem Ausmaß Schuldverbriefungen abzukaufen, weil sie von einem einheitlichen Risiko in der Euro-Zone ausgingen. Doch seit 2009 schwand dieses Vertrauen, so dass der anhaltende staatliche und private Überkonsum, für den – damals von Irland abgesehen – ein erhebliches Süd-Nord-Gefälle besteht, seitdem durch staatliche Ausleihungen aus dem Norden (wie ESM und EFSF) sowie massive monetäre Staatsfinanzierung durch die EZB gedeckt werden: Die Schulden steigen daher am Mittelmeer immer weiter (Griechenland, Frankreich, Italien) oder stagnieren bestenfalls auf sehr hohem Niveau (iberische Halbinsel).
Der staatliche Überkonsum kommt daher, dass sich der Souverän der Massendemokratie, die Bürger, in ihrem Wahlverhalten betragen wie Kinder, die man alleine in einem Bonbon-Laden lässt: Bildlich gesprochen essen sie so lange, bis sie Bauchschmerzen bekommen. Sie belohnen an der Wahlurne nämlich Parteien, die ihnen im Rahmen der gefährlichen Illusion, der Staat sei für das Glück des Einzelnen zuständig, immer höhere Ausgaben bei gleichbleibenden oder sinkenden Steuern versprechen. Dabei verstehen sie nicht, dass sie am Ende selbst für die resultierende Staatsschuld haften. Und zwar haften die weitgehend eigentumslosen, gehalts- und rentenabhängigen Bürger in viel höherem Ausmaß als die Realwerteigentümer (mit Eigentum wie Ländereien, Häusern, Aktien, Gold, Diamanten oder Antiquitäten und Kunst).
Wie sieht es mit der privaten Geldproduktion und Verschuldung aus? Die im Teilreservesystem mögliche private Geldproduktion durch Banken über die Girierung von Kreditsalden aus dem Nichts erzeugt eine Kredit- und Geldmengenausweitung und ermutigt private Verschuldung, deren gefährliche Konsequenzen unten noch erörtert werden.
Eigenschaften und Verläufe der Verschuldung
Unser Staat darf sich dauerhaft gar nicht verschulden, sondern ist durch das Recht dazu angehalten, sich allenfalls während Rezessionsphasen zu verschulden, diese Schulden aber in Phasen wirtschaftlichen Wachstums zurückzuzahlen. De facto ist dies seit Beginn der 1970er Jahre nicht geschehen, sondern die Schulden sind immer weiter gestiegen, auch in Phasen der Hochkonjunktur. Wie Paul Kirchhof gezeigt hat, ist Staatsverschuldung verfassungswidrig. Durch die Verschuldung gegenüber den Bürgern, die sie gerade mal für eine Legislaturperiode repräsentiert, gibt die Legislative ihr Budgetrecht aus der Hand: Dies geschieht, indem der Staat einen immer weiter steigenden Teil der Steuereinnahmen für Zinszahlungen an private Gläubiger verwendet, wofür Steuereinnahmen aber gar nicht vorgesehen sind.
Er gibt damit aktuelle und noch viel mehr seine zukünftigen Gestaltungsmöglichkeiten zu Lasten kommender Generationen aus der Hand und verletzt dadurch die Generationengerechtigkeit. Er verliert an Souveränität und wird abhängig von schwerreichen privaten Geldgebern, die sich auf Kosten der Steuerzahler systematisch weiter an der Verzinsung, die aus Steuermitteln bezahlt wird, bereichern und informelle Macht über staatliche Akteure gewinnen. Diese nutzen sie beispielsweise, um für die eigenen Großunternehmen gegenüber kleinen Unternehmen Vorteile zu erreichen. Ein besonders extremes Beispiel ist der Kauf von Großunternehmensanleihen durch die staatliche EZB zu extrem günstigen Bedingungen bis hin zu realen Negativzinsen, während Kleinunternehmen wegen der Überschuldung der Banken gar keine Kredite mehr bekommen.
Ökonomisch ist Verschuldung schädlich, weil, wie Rogoff und Reinhart 2012 gezeigt haben, historische Phasen hoher Verschuldung stets mit niedrigem Wachstum oder Stagnation einhergegangen sind. In solchen Phasen werden konstante oder gar sinkende Mengen verteilbarer Güter produziert – wenn es nichts mehr zu verteilen gibt, sind immer die Schichten benachteiligt, die über kein Eigentum verfügen, da sie sich mit einem stagnierenden oder sinkenden Realeinkommen begnügen müssen.
Zwar ist die These widerlegt, dieser Effekt beruhe stets auf durch die Schulden verursachten steigenden Zinsen, die sich bremsend auf das Wirtschaftswachstum ausübten: Denn genau wie heute muss Verschuldung nicht unbedingt mit hohen Zinsen einhergehen. Die Zusammenhänge sind komplex, wie beispielsweise das obige Beispiel der Bankenverschuldung zeigt, doch hohe Verschuldung ist sicherlich ein Ausdruck schlechten staatlichen oder privaten Wirtschaftens, und Wachstumsschwäche und Schulden sind lediglich dessen Symptome.
Verschuldung ist aber vor allem ökonomisch gefährlich, weil es ab einem gewissen Schuldniveau klar ist, dass die Schulden nicht getilgt werden und der Schuldenturm dann mit bedrohlichen Folgen zusammenbricht. Betrachten wir dazu zwei Szenarien: private und staatliche Überschuldung.
Private Überschuldung
Das Teilreservesystem ermutigt private Fehlinvestitionen in Projekte, die oftmals nicht rentabel werden: Blasen von nicht-rentablen Projekten wie die .com-Blase der späten 1990er Jahre oder die Immobilienblase im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts blähen sich auf, weil euphorisch und ohne Risikobewusstsein durch die Banken Geld aus dem Nichts erzeugt und als Kredit vergeben wird. Dies erklärt die Konjunkturzyklen und das ständige Wachsen der Kreditvolumina. Wird offensichtlich, dass die Projekte der Schuldner sich nicht rentieren, bedeutet dies, dass die Schuldner das dafür geliehen Geld nicht zurückzahlen können.
Wenn die ersten cleveren Gläubiger dies bemerken, verkaufen sie die betroffenen Schuldverbriefungen. Das löst dann eine Verkaufswelle aus, bei der der Wert der Verbriefungen rasant verfällt: Die Blase platzt und die Gläubiger, die nicht rechtzeitig verkaufen, bleiben auf den Schrottschulden sitzen. Ist der Staat solvent, werden sie „gerettet“ wie 2008 bei der Subprime-Krise und 2010 bis heute bei der chronischen Eurorettung.
Dies ist selbstverständlich rechtswidrig, da es dem Prinzip der Eigenverantwortung für wirtschaftliches Handeln widerspricht: Ein Gläubiger sollte nicht Zins und Tilgung kassieren und damit Gewinne privatisieren, im Verlustfall aber erwarten, dass der Staat, und damit der Steuerzahler, seine Verluste vergemeinschaftet. Für diese Vergemeinschaftung hat sich der Staat seit 2008 massiv verschuldet. Wenn er dann bei einer privat verursachten Schuldenkrise allerdings nicht mehr in der Lage ist, sich weiter zu verschulden, um Gläubiger zu retten, kommt es zu einer Kernschmelze des Finanzsystems: Institutionelle Gläubiger wie Versicherungen, Pensionsfonds und Banken gehen pleite.
Die Bürger versuchen dann verzweifelt, schnell ihre Bargeldbestände von den Sparkonten abzuheben wie bei der Bankenkrise 2008 in Großbritannien. Oder die Bürger merken, dass die mit ihren Renten- und Lebensversicherungen verbundenen Versprechen nicht mehr einlösbar sind und verkaufen diese – auch dann ist das Finanzsystem nach kurzer Zeit am Boden, da die Finanzinstitute den Gegenwartswert der Versicherungen unmöglich an alle Versicherten gleichzeitig auszahlen können.
Wegen der riesigen Werte, die in den Versorgungssystemen verbrieft sind, ist eine staatliche Rettung des Finanzsystems dann nicht möglich. Die Versicherungen und Banken brechen zusammen, letztere fallen als Träger des Zahlungsverkehrs aus, gleichzeitig evaporieren Rentenansprüche eigentumsloser, abhängiger Rentenempfänger, die ins Elend fallen. Die Realwirtschaft kontrahiert, da bei Ausfall der Banken Zahlungssysteme versagen und Zahlungsketten zusammenbrechen. Unternehmer bekommen kein Geld mehr für ihre Lieferungen und können ihre Mitarbeiter nicht mehr bezahlen, es bricht Chaos aus.
Wir wissen nicht, wann es soweit ist
Staatliche Überschuldung führt zur Insolvenz des Staates, wie wir sie seit 2010 bei Griechenland und der seitdem stattfindenden Konkursverschleppung erleben, für die eine der führenden Feindinnen unseres Rechtsstaats, die Eurogruppe, verantwortlich ist. Der Staat ist dann nicht mehr in der Lage, die Zinsen für seine Schulden zu bezahlen und kann auch keine Tilgung mehr leisten, da ihm dazu die Mittel fehlen und er bei Fälligkeit von Verpflichtungen nicht mehr zur Aufnahme neuer Ersatzkredite am Kapitalmarkt fähig ist.
Er ist dann außerstande, Renten und Gehälter der staatlichen Mitarbeiter zu bezahlen und bricht ein wesentliches Kernversprechen des Verfassungsstaats. Geht ein Staat bankrott, versucht er seine Zahlungsunfähigkeit im ungedeckten Papiergeldsystem durch das Drucken von Geld abzuwenden (früher durch die Ausgabe wertloser Münzen). Über verschiedene Mechanismen erfolgt dann der unweigerliche Zusammenbruch des Finanzsystems: Flucht aus den Anleihen oder Flucht aus dem Geld.
Wenn die Bürger merken, dass der Staat seinen Verpflichtungen wahrscheinlich nicht mehr nachkommen kann, verkaufen sie Staatsanleihen, bis der Markt für die Anleihen einfriert, weil keiner sie mehr kaufen will, auch nicht zu niedrigsten Preisen. Dann ist der Staatsbankrott offensichtlich. Druckt der Staat Geld, kommt es ab einem gewissen Übermaß zur Inflation. Wenn diese zu sehr zunimmt, verweigern die Bürger die Nutzung des staatlichen Geldes, sie brechen aus Verzweiflung das Recht und beginnen, andere Tauschmittel zu nutzen. Das Finanzsystem ist dann am Ende.
Wie auch immer das Finanzsystem zusammenbricht, die letzte Ursache ist immer übermäßige Staatsverschuldung, da ein solventer Staat den Zusammenbruch im Fall der privaten Überschuldung verhindern kann. Nur ein Staat, der keine Schuldscheine mehr emittieren kann, kann dies nicht. Wenn der Zusammenbruch erfolgt, kommt es zu Massenarmut, auch in den reichen OECD-Ländern der Gegenwart. Denn die meisten Menschen haben nicht genug Realeigentum, um einen Zusammenbruch des Finanzsystems zu verkraften.
Sie können sich keine überlebenswichtigen Waren mehr kaufen oder ertauschen und beginnen zu hungern. Der Staat muss dann Zwangsmaßnahmen ergreifen und Privateigentum konfiszieren, und das tut er auch. Allerdings werden von einem Staatsbankrott die Menschen ohne oder mit wenig Eigentum immer am härtesten getroffen. Vereinfacht gesagt ist die Konfiskation der Hälfte von zehn Immobilien erträglich, doch ist es unerträglich, ohne Eigentum weder Lohn noch Renten noch Sozialleistungen zu erhalten.
Die politischen Konsequenzen eines Staatsbankrotts sind immer bitter: die Menschen radikalisieren sich, die Gewalt kann unter bestimmten Umständen rasch und flächendeckend in die vordem befriedete Gesellschaft zurückkehren. Durch kollektive, zielgerichtete Gewalt kann die Staatsform umgestürzt werden wie in der französischen Revolution 1789 oder der Oktoberrevolution von 1917, oder sie wird zugunsten einer Diktatur abgewählt wie 1933 in Deutschland. Mit dem Satz „Um die bürgerliche Gesellschaft zu zerstören, muss man ihr Geldwesen verwüsten“, formulierte W. I. Lenin eine bittere Wahrheit. Wir sind auf dem besten Weg dorthin, nicht nur in der Euro-Zone, sondern auch in den USA und besonders auch in Japan, dem OECD-Land mit der mit Abstand höchsten Staatsverschuldung. Allerdings wissen wir nicht, wann es soweit ist.
Derzeit erleben wir zwar einen politischen Wandel in den westlichen Demokratien, weil die Wähler merken, dass sich die etablierte politische Führung – wie auch die ihr kritiklos und devot dienenden Medien – vollkommen von ihren politischen Wünschen entkoppelt hat und nur noch einer kleinen, privilegierten Minderheit dient. Doch haben populistische Bewegungen wie die Anhänger Trumps oder die Parteien Front National, AfD und Cinque Stelle keineswegs vor, die Neuverschuldung zu beenden oder gar Schulden zurückzuzahlen.
Vielmehr versprechen sie allesamt höhere Ausgaben bei gleichbleibender oder sinkender Steuerlast: Trump hat dies soeben umgesetzt, das US-Defizit steigt weiter massiv an. Kommen in Westeuropa nun vermehrt Populisten an die Macht wie bereits in Italien, wird das die Staatsverschuldung sicherlich nicht beenden, sondern die Schulden werden weiter und voraussichtlich noch schneller zunehmen. Das Ausmaß der Verschuldung ist bereits so hoch, dass es sich keine Partei einer Massendemokratie mehr erlauben kann, eine Schuldenreduktion durch Ausgabensenkung zu propagieren, wenn sie mehr als 5 bis 6 Prozent der Stimmen bekommen möchte. Daher bleibt dem Normalbürger nichts anderes übrig, als zu versuchen, Realwerte zu erwerben, und wenn ihm das nicht möglich ist, stoisch auf die Krise zu warten, die sich Bahn brechen wird, wenn unser Schuldenturm umkippt.