Gastautor / 10.01.2023 / 10:00 / Foto: Imago / 106 / Seite ausdrucken

Prinz Harry und der Kult der „Offenheit“

Von Joanna Williams.

Der britische Royal offenbart gegenüber den Medien reihenweise Intimes, das er für sich behalten sollte und frönt der immer verbreiteteren Kultur des Narzissmus. Die Ironie besteht darin, dass unser Selbstverständnis nicht stärker wird, je mehr es enthüllt wird – es wird schwächer

Erst das Oprah-Interview, dann der sechsstündige Netflix-Schnulzenfilm. Gerade als wir dachten, wir hätten den Höhepunkt von Prinz Harry erreicht, dass es nichts gibt, was wir nicht über ihn wüssten, taucht er mit weiteren Enthüllungen auf. Prinz William soll ihn geschubst, seine Halskette zerbrochen und ihn in einen Hundenapf geschleudert haben. Nach einer Reise zum Nordpol erlitt er einen „erfrorenen Penis“. Er verlor seine Jungfräulichkeit auf einem Feld hinter einem Pub mit einer älteren Frau, die ihn wie einen Hengst behandelte. Er tötete 25 Menschen, während er mit der Armee in Afghanistan unterwegs war. Drogenkonsum, Botschaften seiner toten Mutter, Kosenamen für Familienmitglieder – all das wird in seinen heute weltweit erscheinenden Memoiren „Spare(deutscher Buchtitel Reserve, Anm. d. Red.) auf lustige und tragische Weise enthüllt.

Doch was offenbart Harrys verbale Inkontinenz eigentlich? Wir sehen einen Mann, der so verwöhnt ist, der sich seiner eigenen Privilegien so wenig bewusst ist, dass er sich an kleinlichen Missständen aufreibt. Er beschwert sich darüber, dass seine Stiefmutter sein altes Schlafzimmer in Clarence House in ein Ankleidezimmer verwandelt hat – und das, obwohl er schon 28 Jahre alt war und ein ganzes Haus sein Eigen nannte. Wir sehen einen Mann, der so dumm ist, dass er keinen Widerspruch darin sieht, die Hoffnung auf eine Versöhnung mit seiner Familie zu äußern, während er gleichzeitig auf der Weltbühne über sie lästert.

Ein Mann, dem es so sehr an Selbsterkenntnis mangelt, dass er keine Heuchelei darin sieht, sich über das Eindringen der Presse in seine Privatsphäre zu beschweren, während er im gleichen Atemzug Geschichten über seinen Bruder und seine Schwägerin erzählt. Ein Mann, der so sehr mit sich selbst beschäftigt ist, dass er keine Vorstellung von Pflicht, Dienst oder Respekt hat – weder gegenüber der brüderlichen Verbundenheit noch gegenüber der königlichen Familie oder dem „Schweigekodex“ unter Soldaten.

Keine Grenze zwischen Privatheit und Öffentlichkeit

Warum sollte sich jemand so der Welt gegenüber exponieren? Eine gängige Erklärung ist, dass Harry dies wegen des Geldes tut – dass er, um seinen Lebensstil in Montecito zu finanzieren, seine Seele an Netflix und den Verlag Penguin Books verkaufen muss. Die vielen Interviews und stundenlangen Netflix-Aufnahmen zeigen jedoch keine Anzeichen eines Mannes, der als Geisel gehalten wird und dem gegen seinen Willen persönliche Details entlockt werden. Eine andere Erklärung ist, dass Meghan ihn dazu anstiftet – aber wie Fraser Myers auf Spiked schreibt, „braucht Harry Meghan nicht an seiner Seite, um unausstehlich zu sein“. Die Wahrheit ist, dass Harry kein Zureden braucht, um alles auszuschütten.

Wenn man Harry dabei zusieht, wie er über sich selbst spricht, wird man Zeuge, was passiert, wenn wir alle Grenzen zwischen der öffentlichen und der privaten Sphäre unseres Lebens aufgeben. Harry scheint jegliches Gefühl für eine Grenze zwischen seiner inneren Welt der Gedanken und Gefühle und der äußeren Welt der Sprache verloren zu haben, zwischen dem privaten Bereich von Familie und Zuhause und dem öffentlichen Bereich von Arbeit, Verantwortung und gesellschaftlichen Konventionen.

In Familien wird ständig gestritten. Geschwister streiten. Wir werden wütend und ärgern uns. Und im Eifer des Gefechts sagen wir Dinge, die wir später vielleicht bereuen. Entscheidend ist, dass dies hinter verschlossenen Türen, im Privaten, geschieht. Die häusliche Privatsphäre erlaubt es uns, uns schlecht zu benehmen, aber auch, einander zu verzeihen und weiterzumachen. Die Veröffentlichung von Details privater Streitigkeiten verleiht ihnen eine Dauerhaftigkeit, die ihnen nie zugedacht war.

Angstmache über die dunkle Seite der Privatsphäre

Wir sollten nicht Geld oder manipulative Interviewer dafür verantwortlich machen, Harry dazu gedrängt zu haben, jedes noch so intime Detail aus seinem Leben preiszugeben. Wahrscheinlicher ist, dass ihm von Therapeuten und Mentoren beigebracht wurde, dass es richtig ist, dies zu tun. Heutzutage gilt es allgemein als negativ, Dinge privat zu halten oder zu verschweigen. Völlige Offenheit ist der beste – ja, der einzige – Weg, um seine geistige Gesundheit zu schützen. Harry hat die Botschaft verinnerlicht, dass der Weg zur Authentizität darin besteht, „seine eigene Wahrheit zu sagen“. Wir leben in einem Zeitalter, in dem es als Gipfel der Errungenschaften gilt, authentisch zu sein und zu seinem wahren Ich zu stehen. Wenn wir unsere eigenen emotionalen Bedürfnisse über unsere Arbeit, unsere Gemeinschaft und sogar unsere Familienmitglieder stellen, gilt dies nicht als egoistisch, sondern als unabdingbar.

Die Angstmache über die dunkle Seite der Privatsphäre ist seit Sigmund Freud ein beliebter Zeitvertreib der Psychologen. Im Laufe der Jahrzehnte hat sich dieser Glaube von der Couch des Therapeuten wegbewegt und breiter in unserer Kultur Wurzeln geschlagen. Heute erwecken die Worte „privat“, „geheim“ und „hinter verschlossenen Türen“ Misstrauen. Anstatt Bilder vom Zuhause oder der Familie als Zufluchtsort in einer herzlosen Welt zu beschwören, wird die Privatsphäre als Ort des Missbrauchs angesehen. Zurückhaltung, keine Gefühle zu zeigen und Stoizismus gelten heute als negative Persönlichkeitsmerkmale, die auf einen Mangel an Wärme und Offenheit hinweisen. Der Zwang zum Teilen, zum Aufbrechen der Schranken zwischen öffentlich und privat, ist in jedem Aspekt unserer Kultur verankert, vom Grundschulkreis bis zu den sozialen Medien, von Ratschlägen in Zeitschriften bis zu Plattitüden von Prominenten.

Die Ironie besteht natürlich darin, dass unser Selbstverständnis nicht stärker wird, je mehr es enthüllt wird – es wird schwächer. Wir sind dann auf die Bestätigung unserer Gefühle und Wünsche durch andere angewiesen. Das scheint der Grund für Harrys emotionale Inkontinenz zu sein. Er ist kein selbstbestimmter Mensch, der Kontrolle ausübt und nur auf einen dicken Scheck aus ist. Er ist eine erbärmliche, zerbrechliche Kreatur, unfähig, über seine eigenen unmittelbaren Gefühle hinauszublicken, unfähig, ohne ständige öffentliche Bestätigung zu existieren. Harry zeigt uns, wie wichtig es ist, manche Dinge privat bleiben zu lassen. Wenn er jetzt einfach nur die Klappe halten würde.

 

Dieser Beitrag ist zuerst beim britischen Magazin Spiked erschienen.

 

Mehr von Joanna Williams lesen sie in den Büchern „Die sortierte Gesellschaft: Zur Kritik der Identitätspolitik“ und „Schwarzes Leben, Weiße Privilegien: Zur Kritik an Black Lives Matter“. Joanna Williams ist Kolumnistin beim britischen Magazin Spiked und Autorin von „How Woke Won”.

Foto: Imago

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Franz Klar / 10.01.2023

“Er verlor seine Jungfräulichkeit auf einem Feld hinter einem Pub mit einer älteren Frau, die ihn wie einen Hengst behandelte” . “Mach mir den Hengst” hieß es einst bei Pierre Richard und “It´s the porridge , Stupid” , würde Marty Feldman sagen , lebte er noch ... Very, very naughty indeed !

Burkhart Berthold / 10.01.2023

Niemand läuft ungestraft über den Roten Teppich. Will sagen: Ein Liebling der Medien braucht schon eine gewisse Stärke, um sich nicht zum Narren zu machen. Ersatzweise tut es wohl auch eine gute Erziehung, und da hatten andere Royals wohl mehr Glück. Maßstabsgerecht verkleinert sieht man das auch bei unseren Promis und ihren Sprössen. Sie werden tagein, tagaus von Schmeichlern umgarnt und fangen irgendwann einmal an, diesen Leuten zu glauben. Dann gehört der arme Kerl der Katz.

Talman Rahmenschneider / 10.01.2023

Wir kommen hier, meine ich, an einen Punkt, der einläd zu überlegen, ob wir unbedingt und immer Recht haben, wenn wir sagen, die Muslime seien allein schuld, ihre Ideologie sei falsch. Das ist zwar richtig, doch kann man solche Dinge nicht mit dem Minirock und der Einladung zur Vergewaltigung vergleichen. Letzterer Vergleich ist falsch, weil die Frau im Minirock niemanden provozieren will und nie wollte. Terroristen aber kennend, sie dann herauszufordern, indem man angibt, wie viele von ihnen man vom “Schachbrett” geräumt hat, ist eine eindeutige Provokation. Damit outet sich ein Mensch als Brandstifter, was er nicht bedacht haben dürfte, und darüber hinaus als dumm wie Bohnenstroh. Sein gern unterstellter Vater dürfte etwas klüger gewesen sein, sonst wäre er wohl kaum Major geworden und ist wohl auch nicht sein Vater. Harry Windsor scheint das Produkt von durch Drogenkonsum bearbeitetem Verlust, besonders der Einnahme von sehr potentem Haschisch, diverser seichter Affären und einer unsicheren, manipulativen Frau zu sein, unsicher wie seine verstorbene Mutter, manipulativ wie der kalifornische Zeitgeist, dessen langer Arm leider auch Deutschland heimgesucht hat. Fans von ihm wirken jung, selbstverliebt und nicht sonderlich gebildet. Wenn solchen Menschen irgendein Entscheidungsbereich in der Zukunft anvertraut wird, sehe ich schwarz für die Welt. Sie darf dann in einen Spiegel schauen wie Dorian Gray und wird daran zerschellen (ist bereits dabei). Dass sowas sich als “humanitarian” aufbauen darf und Medien findet, die das stützen, ist abwegig. Aber es ist auch abwegig, wenn aus “humanitarian” eine Industrie wird. Nächstenliebe muss selbstlos sein, nur dann kommt sie von Herzen.

A.Gerdes / 10.01.2023

Diese “Wir”- und “Uns”- Geschichte ist eine Unart, die immer mehr Verbreitung in der schreibenden Zunft findet. Ich möchte mich nicht von mir völlig fremden Personen einvernehmen lassen. Ich hoffte wenigstens auf der Achse würde ich davon verschont bleiben. Ansonsten trifft die Analyse der Autorin bezüglich des Verhaltens von P.H. den Nagel auf dem Kopf.

Gregor Waldersee / 10.01.2023

Eine herausragend gute Analyse, verständlich und spannend, vor allem NICHT endlos lang formuliert. Danke, Frau Williams, wirklich sehr gekonnt! So ist es!  >>>>>>>Werner Herzog ist davon überzeugt, dass die Psychoanalyse mit vielen anderen grauenhaften Fehlern das 20. Jahrhundert zu einem schrecklichen gemacht hat. Er formulierte: “Wenn sie in ein Haus einziehen, und wenn sie jeden letzten dunklen Winkel mit hellen Neonlichtern ausleuchten, wird das Haus unbewohnbar. Und wenn sie gleichzeitig den Versuch machen, einen Menschen mit grellen Lichtern bis in die dunkelsten Schatten der Seele auszuleuchten, wird dieser Mensch unbewohnbar. Ich könnte niemals ein Liebesverhältnis mit einer Frau haben, die jeden zweiten Tag beim Psychiater ist.“ Der Leid-Hammel Harry ist morgen vergessen, die Queen aber lebt weiter.

Helmut Kassner / 10.01.2023

Mir scheint, dass dieser junge Mann namens Harry recht frustriert ist, einen sinnvollen Lebensweg noch nicht gefunden hat. Seine Frau ist wohl auch keine Stütze, keine loyale Partnerin. Es ist sicher schwierig, wenn man in einer hervorgehobenen Familie mit einem Rang unter ferner liefen vorlieb nehmen muss. Jedenfalls kommt er mir ziemlich unreif vor. Dabei gibt es doch genug Themen, wo er sich profilieren kann. Sei es wie es sei, was ich nicht verstehe, warum dies ein Thema für die Achse ist. Wir haben doch wahrlich genug (politische, gesellschaftliche) Sachverhalte die wesentlich wichtiger sind.

Jürgen Fischer / 10.01.2023

Lasst doch den Buben. Er ist ausreichend gestraft, dass er unterm Pantoffel steht.

Robert Korn / 10.01.2023

Da gab es doch mal den Film “die dummen Streiche der Reichen” mit dem genialen Louis de Funes. Den ziehe ich dem albernen Gehampel dieser royalen Laientruppe allemal vor.

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