Offener Brief an das Deutsche Institut für Normung

Sehr geehrte Damen und Herren,

wie mir zu Ohren kam, möchten Sie die Buchstabentafel ändern. Städtenamen sollen Vornamen ersetzen, statt Berta soll es zukünftig Berlin heißen. So möchten Sie sich einerseits von Relikten aus der NS-Zeit trennen. Die Nationalsozialisten radierten jüdische Namen von der Tafel, aus Nathan wurde Nordpol. Andererseits können Sie den Tatbestand nicht akzeptieren, dass 16 der Vornamen männlich, aber nur sechs derselben weiblich sind. Um dieser und weiterer Ungerechtigkeiten ein Ende zu setzen, möchten Sie deutsche Städtenamen einführen. Die eine Hälfte mit westdeutschen, die andere Hälfte mit ostdeutschen Städten. Weil gleich viel auch gleich gerecht bedeutet. Wie der Mann, der 100 Kilogramm wiegt, exakt die gleiche Menge an Kalorien erhält, wie sein Zeitgenosse, der nur 75 Kilogramm wiegt. Denn gleich viel bedeutet „selbstverständlich“ auch gleich gerecht.

Ich begrüße Ihren Sinn für Ihr eigenwilliges Verständnis von Gerechtigkeit und Ihre Veränderungslust, hege jedoch massive Bedenken bei Ihrem Fokus ausschließlich auf DEUTSCHE Städte. Zum einen: Geht Ihr Vorschlag nicht in die nationalistische Richtung? Spielen Sie damit nicht rechten Kräften in die Hände? Befeuern Sie nicht geradezu mit Ihren deutschen Städtenamen den nationalistischen Geist und negieren somit Ihre kosmopolitischen, internationalen Überzeugungen? Und zum anderen: Wie mögen die anderen Länder, die partout aus der Buchstabentafel ausgeschlossen werden, diesen Vorstoß verstehen? Peking und Moskau, Pretoria und La Paz, Canberra, Washington D.C. und Paris? Sind diese Städte nicht gezwungen, diesen Schritt als Provokation, gar als (nationalen) Akt der Aggression aufzufassen?

Daher plädiere ich dafür, erstens die Buchstabentafel auf internationale Hauptstädte zu erweitern. Um ihrem Verständnis von Gerechtigkeit treu zu bleiben und somit keinen Kontinent zu diskriminieren, sollten gleich viele Städte aus je einem Kontinent gewählt werden. Zweitens: Vorher muss sich jede Hauptstadt als „sauber“ erweisen, als „clean city“. Dazu gehören eine gute bis sehr gute Klimabilanz, keine rassistische Vorgeschichte und eine geschlechtergerechte und politisch korrekte Sprache. Drittens: Um die Taten der deutschen Ururgroßväter zu büßen, sollten einst deutsche Kolonialstädte bevorzugt bei der Auswahl behandelt werden. Schließlich trägt die gegenwärtige deutsche Generation die Last der kollektiven Schuld auf sich. Ähnlich dem Sohn, der bekanntlich die Strafen seines Vaters, post mortem, absitzen muss.

Ich hoffe, Sie sehen die unausweichliche Notwendigkeit, die Buchstabentafel auf internationale Hauptstädte zu erweitern. Aus moralischer Pflicht und aus kollektivem Bußverständnis. Falls nicht, stellen Sie sich folgende Frage: Könnten Sie guten Gewissens mehrere Schandmale auf Ihren Schultern tragen? Die der Diskriminierung, des Rassismus und des Nationalismus?

Mit freundlichen Grüßen

Deborah Ryszka

Foto: Deborah Ryszka

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Leserpost

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Emmanuel Precht / 25.08.2021

Das verrückte ist, das wird bei Behörden nicht eingesetzt. Somit gibt es dann drei Alphabete: Das Internationale, das Deutsche und den Genderschwachsinn (heißt das so?). Anstatt allein das Internationale zu verwenden, nun drei Stück, erstmal.

Thomas Hechinger / 25.08.2021

Ankara. Berlin. Canberra. Dakar. Edinburgh. Freetown. Gaborone. Hanoi. Islamabad. Jakarta. Kingston. Lomé. Manila. Niamey. Ottawa. Peking. Quito. Rabat. Skopje. Tegucigalpa. Ulaanbaatar. Vaduz. Wellington. Xianyang. Yaoundé. Zagreb.

Roland Stolla-Besta / 25.08.2021

Ein durchaus bedenkenswerter Artikel. Was aber ist mit Sprachen, die keine Buchstaben kennen, wie etwa das Chinesische? Was ist mit Analphabeten? Um niemanden und keinen zu diskriminieren bin ich dafür, generell die Buchstaben zu eliminieren, überhaupt auf das Schreiben zu verzichten. Und somit bräche eitel Freude und Sonnenschein aus auf dieser Welt. Sarkasmus Ende.

Klaus U. Mayerhanns / 25.08.2021

Hallo Frau Ryszka - ich bin ganz bei Ihnen: Man muß sich leider daran gewöhnen, daß inzwischen der Schwachsinn - unter Anderem auch beim Deutschen Institut für Normung - die Welt regiert. Und für solch´ einen Kokolores werden zweifellos erhebliche Steuermittel völlig sinnlos verpraßt. Arme Welt - vielleicht auch eine Folge des menschengemachten Klimawandels ...

Petra Wilhelmi / 25.08.2021

Ja, sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen. Ihr Auswahlkriterium für die in Frage kommenden Städte passt wie die Faust auf’s Auge der hier verfolgten Ideologie. Nun ernsthaft: Man könnte natürlich ganz einfach auch die internationale Buchstabiertafel verwenden. Aber warum einfach, wenn es auch umständlich geht und dazu noch “ideologisch sauber” sein soll.

g.schilling / 25.08.2021

Wir haben ja zur Zeit überhaupt keine wirklichen Probleme in diesem Besten Deutschland das wir je hatten und in dem wir gut und gerne leben. Man könnte auch sagen: wenn’s dem Esel zu wohl wird geht er auf’s Eis oder eine Kampagne, so wertvoll wie ein Eimer Müll.

Fritz Irmgardson / 25.08.2021

Einfach genial!

Chris Mai / 25.08.2021

Ich bin in windhoek, damals deutsch Südwestafrika geboren und freue mich über diese Initiative :)

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