Deborah Ryszka, Gastautorin / 03.09.2023 / 14:00 / Foto: Pixabay / 8 / Seite ausdrucken

Warum sich künstlerische Qualität selten durchsetzt

Sie wundern sich über die Banalität moderner Kunst und Kultur? Das ist jedoch keine neue Entwicklung. Schon vor 100 Jahren schrieb Levin L. Schücking die „Soziologie der literarischen Geschmacksbildung“ und erläuterte, warum sich selten künstlerische Qualität duchsetzt.

Die Welt steht auf dem Kopf. Auch im künstlerischen Bereich. Groschenromane gelten als „große“ Literatur, eine an die Wand geklebte Banane als „große“ Kunst und der Film um eine pink gekleidete Dame aus den USA als „großes“ Kino. Wer mitten drin ist, für den ist es ein wahrer Graus. Wer von außen drauf schaut, genießt diese zufällige Satire in vollen Zügen.

Doch wie konnte es so weit kommen? Ein Werk aus dem Jahr 1923 (Neuauflage: 1961) könnte hier Abhilfe schaffen: „Soziologie der literarischen Geschmacksbildung“ des international renommierten Shakespeare-Forschers Levin L. Schücking. Bereits im allerersten Satz benennt er auch seine Grundthese: „Das vorliegende Buch ruht auf dem Grundgedanken, dass die Übereinstimmung des Gefallens an künstlerischen Werken, die man als Geschmack bezeichnet, nicht einfach aus der inneren Sieghaftigkeit von deren Qualität hervorgeht, sondern meist das Ergebnis eines verwickelten Prozesses ist, in dem sehr verschiedenartige, teils ideologische, teils auch höchst materielle Kräfte miteinander ringen, um ein nicht immer vor Zufallseinwirkungen geschütztes Ergebnis herbeizuführen.“

Einfacher ausgedrückt: Selten setze sich künstlerische Qualität durch. Öfters bestimmten die „Herrschenden“, was „en vogue“ sei und was nicht. Das versucht Schücking historisch-soziologisch auf etwas über 100 Seiten zu untermauern. Indem er den Leser in die Vergangenheit mitnimmt und seine These an konkreten Beispielen verdeutlicht. Anhand von Emile Zola, Voltaire und Alfred Tenyson – um nicht zu vergessen: Shakespeare. Ihn bewunderten etwa die Elisabethaner für ganz andere Aspekte, als wir es heute tun. Man kann auch sagen: Andere Zeiten, andere Blickwinkel.

„Gesellschaftsmensch mit den vollkommenen Formen“

Eben diese historischen Geschmäcker verbindet Schücking mit seinen soziologischen Analysen: Um herauszufinden, weswegen sich der Zeitgeist einer ganz bestimmten gesellschaftlichen Gruppe gegenüber anderen Weltanschauungen durchsetzen konnte und kann. Sein Fazit? Die Mächtigen beeinflussen maßgeblich den Kunstsektor. Bis heute. Der Künstler war und ist von seinen Geldgebern abhängig. „Wes Brot ich ess’, des Lied ich sing“, wie es so schön heißt.

War noch bis zur Aufklärung der Künstler vornehmlich von der Gunst seines Mäzens oder Aristokraten abhängig, übernahmen mit dem Aufstieg des Bürgertums der Verleger und Theaterdirektor diese Funktion. Weil diese von den Auflagenzahlen abhängig waren, kann hier von einer Demokratisierung der Kunst gesprochen werden. Nicht mehr ausschließlich eine wohlhabende Person bestimmte den künstlerischen Geschmack, sondern mehrere vermögende Personen – vermittels ihrer Kunsteinkäufe.

Und auch die soziale Stellung des Künstlers wandelte sich mit der Zeit. Entschied sich ein junger Mann aus „gutem Hause“ für ein Leben als Künstler, glich das einer sozialen Deklassierung. Autoren und Schriftsteller versuchten dies zu verbergen und betrachteten sich in erster Linie als „Gentlemen“. Das ging sogar so weit, dass zum Beispiel Lady Bradshaigh ihre Freundschaft zu Samuel Richardson, einem der berühmtesten englischen Schriftsteller des 18. Jahrhundert, geheimhielt – weil sie sich genierte. Erst durch die bürgerlichen Werte erhielt der Künstler eine soziale Aufwertung. „Das Kavalierideal des 18. Jahrhunderts ist der Gesellschaftsmensch mit den vollkommenen Formen.“ Wissen und Fähigkeiten in Kunst und Wissenschaft (insbesondere die Geisteswissenschaften) waren das damalig zu erstrebende Ideal.

„Unwissend-unzugängliche Plebs“

Weil der Mensch aber stets nach Abwechslung und dem Neuen sucht, änderte sich auch im gesellschaftlichen Ideal etwas. So zog, Ende des 19. Jahrhunderts, der Naturalismus die Kunstszene Deutschlands in seinen Bann: Nicht mehr Schöngeisterei war gefragt, sondern die Darstellung der nackten Wahrheit. Ungeschönt, direkt, schmutzig.

Obwohl das Bürgertum, der damalige Hauptabnehmer, nicht gerade begeistert hiervon war, blieb die Kunstszene bei ihren naturalistischen Vorstellungen. In der Folge entfernten sich Kunst und Publikum zusehends voneinander. Künstler und Kritiker schwebten über den Wolken und entmündigten die unter ihnen weilenden „unwissend-unzugänglichen Plebs“. „Aber in der Beurteilung künstlerischer Fragen hat sich ein Berufskennertum herausgebildet, das sich vom gesunden Menschenverstand noch viel weiter entfernt hat.“ Ähnlich wie heute, und nicht nur auf die Kunst beschränkt, führten beständig-obsessives Experimentieren und nicht nachvollziehbare Überheblichkeit zu einer Karikatur ihrer selbst.

Diese Veränderungen des Geschmacks liegen, nach Schückings Ansicht, nicht im Geschmack selbst. Vielmehr äußere sich hier die Vorherrschaft einer neuen sozialen Schicht oder Gruppe. Diese subjektive Bewertung, was „gute“ und was „schlechte“ Kunst sei, sehe man etwa gut an Lord Byron. Sei Lord Byrons literarische Anziehungskraft auf das weibliche Publikum bekannt, gelte das nicht für seine Persiflage auf „Don Juan“. Diese sei eher bei der männlichen Leserschaft populär. Ähnliches sehe man im internationalen Vergleich. Während Shakespeares Werke in Deutschland auf positive Resonanz gestoßen waren, nahm man diese in Frankreich recht zurückhaltend zur Kenntnis. Unterschiedliche Mentalitäten erzeugen verschiedenartige Geschmäcker.

Das gilt auch für die Herrschenden einer Gesellschaft. Bereits Karl Marx wusste: „Die herrschende Kultur einer Gesellschaft ist die Kultur der herrschenden Klasse.“ Deswegen ist die Welt auch heute, so wie sie ist: „VerQUEER.“ Denn seien wir ehrlich? Was kann man schon von jemandem erwarten, der weiße Turnschuhe trägt, kleinkariert jedes Wörtchen auf Gendergerechtigkeit und politische Korrektheit überprüft und jede abweichende Meinung als „Nazisprech“ abstempelt? Nicht wirklich viel.

Stattdessen sollte man sich die Zeit mit schöner Kunst, intellektueller Wissenschaft und niveauvollen Diskussionspartnern versüßen. Dem Griff zu Schückings Lektüre „Soziologie der literarischen Geschmacksbildung“ steht somit nichts im Wege. Denn währenddessen klärt sich der Blick: Die Welt steht wieder auf den Beinen.

Schücking, Levin L. (1961). „Soziologie der literarischen Geschmacksbildung“. Bern und München, Francke Verlag. Hier bestellbar.

Foto: Pixabay

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Hans-Peter Dollhopf / 03.09.2023

Das Nomen Können, also: etwas zu vermögen (in geronnener, materialisierter Form: Vermögen als Reichtum, der wiederum möglich macht), ist im Deutschen verschränkt mit dem Begriff Kunst. Kunst bedeutet ein Können, ein Befähigtsein. Die alten Griechen sagten für Kunst τέχνη, Technik. Creator spiritus, Ingenieur. Konstrukteur. Meister. Die Blaue Moschee in Istanbul und der Goldene Dom in Jerusalem sind Beute-Kunst, kulturelle Aneignung durch islamischen Kolonialismus. Künstler machen Pläne. Glaube keiner, der Kölner Dom hätte seinen Ursprung nicht auf Pergament! Bildende Kunst basiert auf Abbildungen, Plänen, Vorwegnahmen, Manifesten. Und ebenso wurden Ideologien vor ihrer gesellschaftlichen Durchsetzung zuvor entworfen. Beispiel: Das Abbild der Göttin der Gerechtigkeit, Justitia, gehauen und geschliffen aus Marmor, war antiker Entwurf der Rechtsstaaten der Moderne. Kunst bedeutet Technik. Die aus dem Sachzusammenhang losgelöste spinnerte zeitgenössische Gruppe, die sich heute Künstler nennt, ist nicht deren tatsächlicher Stellvertreter. Waschechte “Künstler” alten Schlags arbeiten an materieller Wertschöpfung!

Thomas Szabó / 03.09.2023

Im Prado in Madrid hängt ein faszinierendes 9 Meter-Schinken von Bartholomäus Strobel (1591- nach 1650). Das Fest des Herodes und der Kopf Johannes’ des Täufers (1642) stellt ein Panorama der führenden Persönlichkeiten des 30 jährigen Krieges dar, was in Anbetracht von Strobels Leben sicher kein Zufall ist. Johannes der Täufer trägt die Züge von Johann Christian v. Brieg (1591-1639), sicher kein Zufall. Dracula ist auch dabei, sicher kein Zufall. Die Kostüme und die Lichteffekte sind eine Augenweide. ***** Eine kontemporäre künstlerische Darstellung des EU-Parlamentes wäre wohl eine chaotische Schmiererei; was eine durchaus angemessene Würdigung wäre.

Klaus Keller / 03.09.2023

Die herrschende Kultur einer Gesellschaft ist die Kultur der herrschenden Klasse. Was war denn die herrschende Kultur im 19. Jahrhundert in der Musik? Beethoven, der Ländler, die Marschmusik oder, was auch geht, die Kombination aus allem in einem Stück? Ich vermute im 19. Jahrhundert herrschten verschiedene Kulturen und Herr Marx instrumentalisierte alles, was nicht bei 3 auf den Bäumen war für seine Theorie. ggf wissen wir über das Bürgertum nur mehr als über andere Gruppen. Das Klavier förderte die Möglichkeit sich über den Kauf der Noten mit vielerlei Musik zu beschäftigen. Wenn die Stücke zu schwer sind waren sie ggf weniger erfolgreich. Sind schwer zu spielende Stücke zwangsläufig von höherer Qualität? Was ist denn der Maßstab? Die Arroganz der Kritiker? Dann gibt es noch die Normalverteilung im Bereich der Intelligenz, die ggf auch über die Lese.- und Verständnisfähigkeit von Texten entscheidet. Die größte Gruppe ist nicht Rechtsaußen. Die spannende Frage ist eher ob der Zeitgeist nach oben strebt. Beethovens 9. war und ist Musik für alle und der damalige Zeitgeist strebte nach höherem. Das hört man und man freut sich darüber und sie ist qualitativ Erstrangig und Populär.

Gerd Maar / 03.09.2023

Am schlimmsten ist die Diktatur der Architekten. Was diese elitäre Clique seit dem letzten Jahrhundert an ästhetischen Verbrechen gegen den menschlich immanenten Sinn für Schönheit begangen hat ist die grösste kulturelle Katastrophe der Menschheit.

Helge Lange / 03.09.2023

Diese Probleme lösen sich oft auf eine recht einfache Art: Welche Kunst tatsächlich wertvoll ist, stellt sich meistens erst ein paar Jahrzehnte später heraus. Wenn die Welt sich dann noch daran erinnert und sie immer noch (oder dann noch mehr) wertschätzt, dann ist damit das Prädikat “Taugt was” verliehen.

Thomas Szabó / 03.09.2023

Eine zeitgenössische Künstlerin, der einzige zeitgenössische Künstler dessen Existenz mir bekannt ist - den ich unbedenklich als Genie bezeichnen kann - den ich unbedingt als Genie titulieren muss, zeigte mir mal ein Werk. Ich brach in lautes Gelächter aus, bis mir die Tränen kamen. Sie sagte ich sei bisher der einzige der “richtig” auf das Werk reagiert habe. Alle anderen Künstler & Kenner hätten nur mit einer tief-ernsten Mine allen möglichen, tief-unsinnigen pseudo-philosophischen Schmarrn in das Werk hinein interpretiert. Das Kunstwerk war aber nur lustig gemeint, nicht mehr, nicht weniger. Die Künstlerin schenkte mir zum Abschied, ungefragt aber sichtlich mit innerem Widerstand & Trennungsschmerz kämpfend eines ihrer Werke, welches meine Sammlung älterer Meister als eine würdige Brücke ins 21 Jahrhundert geleitet. Ich bot diesem Werk die größtmögliche Wertschätzung, indem ich es neben einem Wilhelm Leibl platzierte.

Thomas Szabó / 03.09.2023

Der Kontrakt des Zeichners (1982) von Peter Greenaway zeigt die zwielichtige Rolle des Künstlers bis ins 18 Jahrhundert. Im Film taucht manchmal ein grün-angestrichener, nackter Mann auf, der völlig unabhängig von der jeweiligen Szene im Bild herum hüpft, bis er verscheucht wird. Die Intellektuellen rätselten Jahrzehnte lang, welche tiefe Botschaft diese Figur versinnbildlicht. Als ich den Film das erste Mal sah erriet ich sofort ihre geheime Bedeutung: “Der Mann bedeutet gar nichts. Reine Effekthascherei, um die Intellektuellen zu albernen Theorien zu animieren.” Greenaway gestand später, dass ich richtig geraten habe. Das Beispiel bezeugt den des Kaisers neue Kleider-Effekt in der zeitgenössischen Kunst. Zeitgenössische Künstler stehen, wie Intellektuelle, im allgemeinen politisch links. Das erklärt die minderwertige Qualität ihrer Kunst.

Ben Goldstein / 03.09.2023

Außerdem dient Kunst ganz wunderbar der Geldwäsche, weil sie schwer objektiv bewertbar ist.

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