Pornographie umgibt uns in der heutigen Zeit überall. Vor sechzig Jahren galt das noch nicht als selbstverständlich. Aus dieser Zeit stammt der bemerkenswerte Roman „Pornographie“ von Witold Gombrowicz, eine fesselnde Geschichte über erotische Ekstase und dunkle Intrigen.
Wir leben im Paradies für Voyeure. Musste früher der lüsterne Beobachter mühselig durch das Schlüsselloch lugen, so reicht ihm heutzutage ein einfacher Klick im Internet. Auf YouTube, Instagram und TikTok stellen sich genügend, bereitwillig und freiwillig, zur Schau. Hier der halbnackte bis nackte menschliche Körper – alleine oder in Aktion. Dort der Wasserfall ungefilterter Gedanken – der eigenen Befindlichkeiten oder Meinungen. Wir leben im Zeitalter des Exhibitionismus.
Vor sechzig Jahren galt das noch nicht als selbstverständlich. Sich hemmungslos selbst zu präsentieren oder den anderen schamlos zu begaffen. Daher sorgte damals auch der polnische Schriftsteller Witold Gombrowicz für einen Tabubruch. Mit seinem Werk „Pornografia“. Sogar der Titel der deutschen Erstausgabe im Jahr 1963 verdeutlicht das. Statt der exakten deutschen Übersetzung „Pornographie“ entschied sich der Verleger damals für den weniger obszönen Titel „Verführung“. Vermutlich sollte es nicht sofort den spießigen Studienrat oder seine devote Ehefrau vergraulen. Indem es den Anschein erwecken sollte, kein Roman im Geiste Beate Uhses zu sein.
Und das ist „Pornographie“ mitnichten. Gombrowicz nimmt den Leser mit ins Polen des Jahres 1943. Mittels einer Rückblende. Im Stile eines auktorialen Erzählers, als Witold Gombrowicz. Ungeschönt und unverblümt lässt er dort den Leser an der perversen Gedanken(-Welt) zweier älterer Herrschaften teilhaben: Friedrich, der seine subtil erotischen Obsessionen frei auslebt, und Gombrowicz, als Ich-Erzähler, der diesem folgt und sich an seinen kranken Spielchen ergötzt.
Grenze des erotisch Geschmackvollen
Diese Darstellung gelingt Gombrowicz ausgezeichnet. Inhaltlich wie formal. Zwar stockt es zu Anfang inhaltlich etwas, handlungstechnisch geschieht nicht viel. Dafür provoziert Gombrowicz, als Autor, umso mehr mit gedanklicher Reizwäsche. Er zieht förmlich den Leser in den Bann der blühenden erotischen Hirngespinste des älteren Ich-Erzählers, angestachelt und entfesseltes durch junge Menschenkörper. Wie in der Kirchenszene: „Ein gewöhnlicher sechzehnjähriger Nacken mit kurzgeschorenem Haar und eine gewöhnliche Haut (des Jungen), ein wenig gesträubt, und (ein junger) Kopfansatz – etwas ganz Gewöhnliches – also woher dieses Zittern in mir?“
Nicht das Schöne, das Erotische oder das Geheimnisvolle bringen den auktorialen Erzähler in Ekstase. Sondern das Junge, das Frische, das Unerfahrene. Sie alleine reichen aus, um ihn in sein krankes Gedankenkarussell aus Erotik und Sexualität zu treiben. Der Leser merkt sofort: Irgendetwas stimmt nicht mit diesem Ich-Erzähler. Die Frage lautet nur: Ist er ein Pädophiler, ein Sexbesessener oder gar ein Sadist?
Diese gedanklichen und inhaltlichen Grenzgänge kennzeichnen grundsätzlich Gombrowicz’ Vorgehen in „Pornographie“. Den ganzen Roman hindurch bewegt er sich an der Grenze des erotisch Geschmackvollen. Das ist ein riskantes Vorhaben, gelingt ihm aber vorzüglich, auch oder gerade, weil er es semantisch brillant umsetzt. Denn neben den sexuellen Eskapaden erregt auch die Form der Gedanken des Ich-Erzählers den Leser. Immerzu macht sich der Erzähler Sorgen: „Was denkt der andere, das ich denke?“ oder „Sieht der andere, was ich denke und fühle?“. Das treibt das sowieso schon hohe Erregungsniveau des Lesers noch einmal in orgiastische Höhen.
Diabolischer Plan
Wie zusätzlich der Handlungsstrang, der erst im zweiten Teil des Romans so richtig in Wallung kommt. Denn nun beginnt ein spannender Kriminalroman. Intrigante Verstrickungen, gepaart mit unglücklichen Vorkommnissen, und just nimmt das Drama seinen Lauf. Wie bereits gesagt, wir befinden uns in der Zeit während des Zweiten Weltkrieges. Gombrowicz und Friedrich machen sich von Warschau aus auf den Weg zum Gutsherrn Hippolyt, ins polnische Dorf Brzustowa. Dort treffen sie nicht nur auf Hippolyts Frau und Tochter Henia, sondern auch auf Ziehsohn Karol und auf den Verlobten Henias, Waclaw. Inhaltlich passiert noch nicht viel. Jedoch entwickeln bereits Friedrich und der Ich-Erzähler erste erotisch-sadistische Fantasien. Mit und zwischen Henia und Karol. Wie zum Beispiel die bereits benannte Szene in der Kirche. Das ändert sich jedoch schlagartig mit dem Mord an Amelia, Waclaws Mutter.
Denn sobald ihr Mörder gefasst und gefangen gehalten wird, toben sich Friedrich, als Strippenzieher, und der Ich-Erzähler, als Mitläufer, mit ihren zerstörerischen Intrigen so richtig aus. Mit allen Mitteln möchten sie Henia ihrem Verlobten, Waclaw, entreißen. Denn Henia und Karol sollen wie füreinander geschaffen sein. Sogar Waclaw muss das zugeben: „Als ich sie beide zum ersten Mal zusammen sah … das war vor einem Jahr … fiel es mir gleich in die Augen. Sex-Appeal. Anziehung. Geschlechtliche Anziehung. Er und Sie.“
So fingieren und inszenieren die beiden Herren eine angeblich erotische Szene zwischen Henia und Karol, um Waclaw Henias angeblichen Betrug zu demonstrieren. Doch ihr Vorhaben erweist sich schwerer als gedacht. Einerseits verhindern Henia und Karols jugendliche, „reine“ Gedanken eine gegenseitige sexuelle Annäherung. Andererseits ist da Waclaw, ein intelligenter, tugendhafter, kultivierter und gebildeter Mann, den man nicht so leicht hinters Licht führen kann. Daher zieht sich der diabolische Plan der beiden älteren Herren etwas in die Länge, scheint sogar zum Scheitern verurteilt.
Alt und zugleich jung sein
In der Zwischenzeit gesellt sich, mehr gezwungen als freiwillig, der Widerstandskämpfer Siemian der Gruppe an. Obwohl er sich einigermaßen frei im Haus bewegen darf, ist er eigentlich ein Gefangener und soll getötet werden, weil er den Widerstandskampf aufgeben möchte. Doch niemand traut sich so recht, ihn zu liquidieren. Die skrupellosen und egozentrischen Älteren Hippolyt, Friedrich und der Ich-Erzähler wollen diese Bürde reflexartig und ungeniert an den jungen Karol delegieren. Nur der anständige Waclaw schwankt mit seinem Gewissen, lässt sich schließlich jedoch umstimmen. Schlussendlich kommt es zu einem überraschenden und nervenaufreibenden Finale, das abstruser nicht hätte sein können. Nur so viel sei gesagt: „Ich blickte auf unser Pärchen. Sie lächelten. Wie die Jugend immer, wenn es schwierig ist, aus einer peinlichen Lage herauszukommen.“
Eben diese „peinliche Lage“ hat „unser Pärchen“ Friedrich und Gombrowicz zu verdanken. Zugleich spiegelt diese Situation die metaphysische Ebene des Werkes wider. Nämlich die Spannungen zwischen „jung“ und „alt“, das Machtverhältnis zwischen den Generationen, den Machtmissbrauch der „Älteren“ gegenüber den „Jüngeren“. Friedrich verkörpert hierbei das „Böse“. Hinterlistig, feige und schwach möchte er um jeden Preis die Oberhand behalten. Andere Menschen dienen ihm für sein perfides Spiel nur als Schachfiguren. Zum reinen Zeitvertreib. Zum puren Vergnügen. Henia und Karol erscheinen ihm hierbei als die passenden „Opfer“: jung, unerfahren und unschuldig. Dieses Faktum stachelt Friedrichs Lust sogar noch an. Und den auktorialen Erzähler reizt das enorm. Mutlos und rückgratlos wie er ist, folgt und unterstützt er Friedrich bei seinem Vorhaben. Auch er voller Vorfreude und Spannung.
Gombrowicz beschreibt hier gewissermaßen eine Hass-Liebe-Beziehung der „Alten“ den „Jungen“ gegenüber. Durch ihre Jugendlichkeit fühlen sich die Älteren enorm von ihnen angezogen. Zugleich aber hassen sie diese eben dafür. Denn sie wissen: Jugendlichkeit, Unerfahrenheit und Unschuld werden die „Alten“ nie wieder „besitzen“. Diese Zeiten sind längst vorbei. Doch anstatt den Fluss des Lebens zu akzeptieren, wollen Friedrich und der Ich-Erzähler auf Biegen und Brechen das Unmögliche ermöglichen: alt und zugleich jung sein. Das lässt sie zwischen den Extremen pendeln: Zwischen einer erotisch-sexuellen Obsession auf die Jungen und dem unbändigen Willen, diese Jugend zu zerstören. Das verursacht unnötigerweise viel Leid und Elend. Für alle Beteiligten im Roman.
Groß, größer, Gombrowicz
Nichtsdestotrotz schafft es Gombrowicz hervorragend, diese ernsthaften und schweren Themen der sexuellen Perversion und der Nicht-Akzeptanz des Älterwerdens mit einer unterhaltsamen-leichten Note zu untermalen. Das ist auch beziehungsweise insbesondere seinem versierten Sprachspiel zu verdanken. So entwickelt er nicht nur Neologismen, wie etwa „die Arme empowerwerfend“ (noch bevor es „empowern“ in den alltäglichen deutschen Sprachgebrauch geschafft hat!), sondern er bedient sich grotesker und ungewohnter Metaphern, wie „[…] jegliche Grausamkeit potenzierte ihren Geschmack wie eine Soße!“ Das ist alles andere als Quatsch mit Soße. Das ist linguistische Ekstase.
Daher muss man sagen: Gombrowicz ist ein Meisterschriftsteller der Nuancen, der Feinheiten und der Grenzgänge, kurz: der Intrige. Sowohl inhaltlich wie auch formal. Ein Glück, dass er dieses Talent nicht im echten Leben ausgelebt hatte. Andernfalls hätte er vielen Menschen enormes Leid zugefügt. Aber in diesem Fall kann jeder, der möchte, sich auf fast 200 Seiten theoretisch in die Niederungen der menschlichen Psyche begeben.
Diese Grenzgänge polarisieren und müssen nicht jedem gefallen. Trotzdem gehören sie, auch noch nach 60 Jahren, zur ganz großen Literatur. Ähnlich Wolfgang Koeppen im deutschsprachigen Raum. Zwar mag manch einer in unseren heutigen exhibitionistisch-voyeuristischen Zeiten hinsichtlich des Titels „Pornographie“ den Kopf schütteln. Fest steht jedoch ohne Zweifel: Groß, größer, Gombrowicz.
Witold Gombrowicz (2022): „Pornographie“. Zürich: Kampa Verlag. Hier bestellbar.
Dr. phil. Deborah Ryszka, geb. 1989, Kind politischer Dissidenten aus Polen, interessierte sich zunächst für Philosophie und Soziologie, dann für Kunst und Literatur und studierte Psychologie. Später lehrte sie an verschiedenen Hochschulen und ist seit 2023 Vertretungsprofessorin für Psychologie an einer privaten Hochschule. Zudem schreibt sie regelmäßig Beiträge zu gesellschaftspolitischen Themen und bespricht Bücher.