Thilo Schneider / 11.08.2019 / 06:25 / Foto: Timo Raab / 63 / Seite ausdrucken

Neulich im Mittelalter

Wer sich wie ich gelegentlich mal bei Facebook durch bevorstehende Veranstaltungen blättert, der wird im Jahr 2019 auf eine Unmenge von Mittelaltermärkten treffen. In so ziemlich jedem Flecken, der nach dem Nachnamen der Einwohner benannt ist oder vor dem Namen des Bachlaufs das Suffix „Klein“ trägt, gibt es irgendeine „Feyerei“ oder „Gaukeley“ oder sonst irgendeinen bunten Markt, der ungefähr die Zeitspanne von 50 vor Christus bis 1700 nach Christus umfasst. Einträchtig hocken da römische Legionäre der „XYZ. Appendix“ neben Wikingern aus Sachsen-Anhalt, Kreuzritter zelten entspannt neben dem einsamen Mongolendarsteller mit dem Pferdeschwanz, und aus dem Zelt der Elben klingen Seemannslieder auf CD, über die sich die daneben campierenden Landsknechte von „Geyers schwarzem Haufen“ beschweren.

Es lieget sozusagen die früh verblühte und bebrillte Studienrätin „im Gwand“ einer mittelalterlichen Kauffrau neben dem übertätowierten Gerüstbauer im Hexer-Kostüm, es sprechet, meiner Treu, der Finanzbeamte im Harnisch und Mittleren Dienst mit dem Versicherungsvertreter in predigender Mönchskutte. Ein bunter Haufen verkleideter Leute in behämmerten Kostümen aus fernöstlicher Kostümfertigung, die sich für drei bis vier Tage in eine andere Welt träumen. Weil der gemeine Leibeigene des Mittelalters immer sein Trinkhorn, seinen Dolch und seinen „Beutel mit Dukaten“ am Gürtel trug.

Woher kommen all die Märkte und Darsteller? Ist das die letzte Bastion der „Bio-Deutschen“, sich auf die eigene Historie zurückziehen? Ist es die Sehnsucht nach einem „Damals“, als alles noch irgendwie einfacher war? Mit Leibeigenschaft, Landesherrn und Lehen? Wo „Waschtag“ genau das bedeutete, statt „eine Stunde bei sechzig Grad“? Wo der Gegner noch in Steinwurfweite im nächsten Kaff auszumachen war? Ist es die Lust am Ausbruch aus Einkommensteuernachzahlung, veganem Avocadosalat mit ohne Fleisch und dem Korrigieren des Riesterzulagenbescheids? Oder ist es die Flucht in eine Zeit, in der man einen Steuersatz, der den Namen „Zehnt“ trug, recht gerne zahlte? In eine Zeit, in der man zur Bekämpfung des Klimawandels einfach nur eine Hexe beschuldigen und verbrennen musste?

Alle waren sich damals einig

Und warum ausgerechnet Mittelalter? Warum nicht Renaissance oder die Zeit der Kabinettskriege? Zumindest für Raucher ist die Epoche ab etwa 1550 interessant, weil es da schon Pfeifen und Zigarren gab – also, wenn sie es ernst meinen und nicht „Herr der Ringe“ cosplayen. Ich weiß es nicht. Ich vermute, es ist von allem ein bisschen. Ein Drei-Tage-Traum, in dem man von zahlendem Publikum wahrgenommen wird, in dem Frieden und Eintracht herrschen und in dem man feststellt, dass Duschen unnötiger Luxus sind. Back to the roots, sozusagen.

Alle im Volk waren sich damals einig, dass das Leben zwar voller Mühsal ist, aber wenigstens wartete am Ende das Paradies, dafür lohnte es sich doch, vom Fürsten geschlagen und getreten zu werden. Und nur Puritaner wie ich runzeln da die Stirn, wenn im mittelalterlichen Flechtkorb aus 100 Prozent Blindenwerkstatt traut Tomaten mit Kartoffeln und Maiskolben Seit an Seit liegen. Einfach sich einmal tausend Jahre nach hinten wegbeamen, aber ohne den Gestank von Kot und Urin auf dem Markt und ohne Ratten und Pestkranke. Und „seyne Waren coram publico feylbieten“: Block- und Holzflöten aus garantiert chinesischer Kinderarbeit.  

Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich werfe hier fröhlich Steine aus dem Glashaus. Ich war Anfang der Nuller engagiertes Mitglied einer napoleonischen Reenactmentgruppe, ich weiß also, wovon ich rede! Wenigstens, wenn es um mich geht. Ich habe den „Rheinübergang bei Kaub“ 2001 auf einer Motorfähre „nachgestellt“, weil sich Russen und Preußen geweigert hätten, Pontonbrücken aus Holzkähnen und Segeltuch zu bauen, wenn wir sie gefragt hätten. Dafür hat von der „französischen Rheinseite“ niemand auf uns geschossen.

Nicht einmal Brillen des 20. Jahrhunderts geduldet

Nur: Das war eben Reenactment. „Lebendige Geschichtsforschung“. Natürlich mit einer Prise „Räuber und Gendarm“ oder „Krieg spielen“. Und natürlich zog ich „in die Schlacht“ in dem ziemlich sicheren Wissen, auf dem Rückweg meine Gedärme nicht in der noch verbliebenen Hand tragen zu müssen. Allerdings kostet eine originalnahe Ausrüstung summa summarum zweitausend Euro, weil sie handgenäht sein muss, und dazu kommen dann noch Features wie Vorderlader und der sogenannte „Schwarzpulverschein“. Als Belohnung gab es dafür ansatzweise den Schlachtengeruch des frühen 19. Jahrhunderts und einen schwachen Einblick in die Tatsache, dass auf einem Schlachtfeld nach spätestens fünf Minuten Kanonensalve eine Sichtweite von in etwa zwei Metern herrscht.

Und Schuhe wichtiger als Waffen waren. Und die Erkenntnis, dass tschechische und russische Gruppen das Spiel manchmal etwas zu ernst nehmen, wenn Ladestöcke verschossen werden oder Nahkampfangriffe eskalieren. Ich gebe es zu, es hatte natürlich auch etwas von Lagerfeuerromantik im Biwak, und wer sich 15 Minuten damit beschäftigt hat, mit einem Kienspan ein Feuer machen zu wollen, der weiß die Erfindung von „Schwefelhölzern“ zu schätzen. Aber ich hatte auch das Glück, in einer sehr strengen Gruppe zu sein, in der nicht einmal Brillen des 20. Jahrhunderts geduldet wurden. Anders, als bei den WD40-Schwertdänen aus Untergrunddings, die in ihrem Campingwagen übernachten.

Allerdings kam ich irgendwann auch wieder im 21. Jahrhundert an. Und so schön ein Leben ohne Smartphone auch gewesen sein könnte und Grenzöffnung und Greta hin und Grüngendersternchen her: Es ist toll, sich eine Pizza bestellen und liefern lassen zu können. Eigentlich sollte wirklich jeder einmal in die Vergangenheit abtauchen. Und dann wiederkommen und froh und dankbar für das Leben in dieser unserer Zeit sein. Es ist hier besser als in „Anderwelt“. Und es gibt Toilettenpapier.

Es riecht auf den Straßen nicht nach Kot und Tod. Jedenfalls noch nicht wieder. Jedenfalls hier. Von Berlin weiß ich es nicht.

Foto: Timo Raab

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Margit Broetz / 11.08.2019

Ach, Euer Durchlaucht Thilo von und zu Schneider, laßt doch die Leutchen ihr Mittelalter feiern! Die tun nichts, die wollen nur spielen. Sorgen machen mir andere, die hier ihr - nun allerdings extrem virulentes - Mittelalter ausbreiten wollen. Mit allen dazugehörigen Häßlichkeiten. Nicht nur in der Freizeit. Und für die ist das kein Spiel, die meinen das ernst.

Markus Rüschenschmidt / 11.08.2019

Mittelaltermärkte sind schon sehr nett, aus der Distanz der Moderne, mit Möglichkeit, immer wieder schnell ins normale Ottonormalbesorgnisbürgerdasein zurückkehren zu können. Ihre und anderer Leute Fernzeit-Flucht in die Vergangenheit ist ein schönes Hobby, das nur zu verständlich ist. Nostalgie ist auch schön, mir gefällt die gedankliche Rückkehr (gern mit entsprechender Musikuntermalung) in meine Jugendzeit, also eine, deren Bessersein im klassischen “Früher war alles besser”-Sinne ich persönlich beurteilen kann, während mir ferne Dunkelzeitalter (Mittelalter, frohe frühe Neuzeit) fern liegen. So flüchte ich gern in die 90er des 20. Jahrhunderts, da gab’s Tamagotchi, Love (gern als Parade), Klopapier und einfache Einordnung von Gut/Böse. Und geile Musik, heiße oder verregnete Sommer und facebookloses Internet. Google war noch eine Suchmaschine von vielen und nicht der Globalkonzern, der das Universal-Monopol anstrebt. Insofern, deucht es mich, war das Mittelalter auch nicht so übel.

Henry Strobel / 11.08.2019

Warum soll man der Bevölkerung nicht nahe bringen was sie in Deutschland erwartet?

Timm Koppentrath / 11.08.2019

“Warum nicht Renaissance oder die Zeit der Kabinettskriege? Zumindest für Raucher ist die Epoche ab etwa 1550 interessant…”  Genau deswegen ja, alles was kräftig raucht macht auch den meisten Deutschen heute noch Freude. Wenn nicht geraucht wird, wird gegrillt, besonders auf den Mittelaltermärkten. Irgendwie auch eine Antwort, warum Deutschland in der Mehrheit am liebsten auf fossilen Brennstoffen hängenbleiben würde. Dazu brauchte es fürs Mittelalter weniger Manieren, weniger Geschmack, weniger Akademiker und Schöngeister. Einfacher und ungezwunger, als ein Set-Up wie z.B. in Amadeus (dem Film). Da kommt dann der Germane durch.

W.Schneider / 11.08.2019

Wenn man den Vorstellungen vieler Grüner folgt, wird das Mittelalter das erstrebte Ziel der energietechnischen Abrüstungssrategie sein. Dann werden vielleicht sehr viele Veranstaltungen stattfinden, in denen das auch einstmals gelebte Leben der vergangenen Gegenwart, allerdings ohne Klo und Variobrillen nachgestellt werden wird. Märkte der gewesenen Zeit.

Max Wedell / 11.08.2019

Geschäftsideen, die sich aufdrängen: Bauer verleiht Kuh oder Schwein wochenweise, für Wohnzimmerhaltung. Federviehlieferungen zu Discounterpreisen, zur bequemen Schlachtung in heimischer Küche. Mittelalter-Aktionswochen beim Zahnarzt: Kein Bohrer, keine Narkose, alles nur mit Zange, garantierte Effekte in praktisch allen Fällen! Handwerksbetriebe mit neuen, innovativen Angeboten: Wassergrabenbau um ihr Haus herum, (optional: Zugbrücke). Katapultinstallationen für den etwas anderen Vorgarten. Schwenkbare Kessel mit Pech und Befeuerung, ideal für Balkone ab erstem Stock. Pranger- und Galgenbau für Rathausvorplätze, Dorfversammlungsorte oder einfach nur die heimische Terrasse. Lieferung klimaneutraler Scheiterhaufen. Experimentierkästen “Mittelalterliche Wissenschaft” für die Jugend: Biologie (Zahlreiche luftdicht gelieferte Proben für interessante Experimente mit der Familie, z.B. Lepra, Pest, Cholera usw.), Chemie (Alle Zutaten für die Goldherstellung aus Dreck enthalten!), Astrologie (Schicksalsschläge vorherbestimmen, endlich Sterbedatum von Politikern ermitteln usw.). Die Achse könnte eine Leserreise “Mit der Pferdekutsche Deutschland entdecken” anbieten, Start 2020 auf Rügen, Ankunft Bodensee 2022.

Norbert Rahm / 11.08.2019

Die These ist, hat die Zahl der Mittelaltermärkte/Ren Faires etc. zugenommen, da würde ich zustimmen. Die spannende Frage blieb, auch wenn nach Erklärungen gesucht wurde, unbeantwortet: Warum? Das oft auch Fantasy-Elemente (sind mittlerweile auch Dothraki aus Game of Thrones auf Mittelaltermärkten, neben Kartoffeln und Mais?) dabei sind und einige Gruppe ultra-authentisch, andere eher WD40-Schwertdänen sind… auch nicht neu. Ich würde sagen, inmitten von Zentauren, Dothraki und Cosplay wird jetzt auch verstärkt nach Identität gesucht. Back to the roots, auch wenn sie arg verzerrt sind? Interessanterweise soll die Zahl der Mittelaltermärkte in Deutschland seit 2010 rückläufig sein. Quelle der Wikipediadaten ist eine mir unbekannte Webseite, neuere Daten habe ich nicht.

Reiner Gerlach / 11.08.2019

@ Jens Keller: Sie haben ja so Recht. Als Anfang 1990 die Auflösung der NVA bevorstand, haben wir uns auch Gedanken gemacht, was könnte aus der Kaserne und dem ganzen Personal werden. Und wir hatten die Idee, eine Art Disneyland daraus zu machen. Wenn der Bus mit den (West-)Touristen vorfährt, wird an der Wache Flaggenparade abgehalten. 50 m weiter wird gerade ein Gefreiter von einem Offizier (natürlich in Stiefelhose und so) ordentlich zusammengeschissen. Wenn der Bus vorüber ist, sitzen beide auf der Treppe zum Stabsgebäude und rauchen gemeinsam eine Zigarette - bis der nächste Bus kommt. Und pünktlich um 16.30 macht man Feierabend und fährt gemeinsam nach Hause. Außer wenn gerade eine Sonderführung für japanische Touristen angesagt ist. So ähnlich stelle ich mir das mit dem Mittelalter auch vor. Allerdings hatte ich mal eine Erkenntnis bei so einer nachgestellten “Schlacht um die Mühle”: einen Vorderlader nachzuladen dauert rund eine Minute, eine Kanone braucht bis zum nächsten Schuss rund 5 Minuten. Nix mit Bruce Willis und Dauerfeuer. Mehr habe ich dabei nicht gelernt, aber das war doch auch schon mal was.

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