Ach, Euer Durchlaucht Thilo von und zu Schneider, laßt doch die Leutchen ihr Mittelalter feiern! Die tun nichts, die wollen nur spielen. Sorgen machen mir andere, die hier ihr - nun allerdings extrem virulentes - Mittelalter ausbreiten wollen. Mit allen dazugehörigen Häßlichkeiten. Nicht nur in der Freizeit. Und für die ist das kein Spiel, die meinen das ernst.
Mittelaltermärkte sind schon sehr nett, aus der Distanz der Moderne, mit Möglichkeit, immer wieder schnell ins normale Ottonormalbesorgnisbürgerdasein zurückkehren zu können. Ihre und anderer Leute Fernzeit-Flucht in die Vergangenheit ist ein schönes Hobby, das nur zu verständlich ist. Nostalgie ist auch schön, mir gefällt die gedankliche Rückkehr (gern mit entsprechender Musikuntermalung) in meine Jugendzeit, also eine, deren Bessersein im klassischen “Früher war alles besser”-Sinne ich persönlich beurteilen kann, während mir ferne Dunkelzeitalter (Mittelalter, frohe frühe Neuzeit) fern liegen. So flüchte ich gern in die 90er des 20. Jahrhunderts, da gab’s Tamagotchi, Love (gern als Parade), Klopapier und einfache Einordnung von Gut/Böse. Und geile Musik, heiße oder verregnete Sommer und facebookloses Internet. Google war noch eine Suchmaschine von vielen und nicht der Globalkonzern, der das Universal-Monopol anstrebt. Insofern, deucht es mich, war das Mittelalter auch nicht so übel.
Warum soll man der Bevölkerung nicht nahe bringen was sie in Deutschland erwartet?
“Warum nicht Renaissance oder die Zeit der Kabinettskriege? Zumindest für Raucher ist die Epoche ab etwa 1550 interessant…” Genau deswegen ja, alles was kräftig raucht macht auch den meisten Deutschen heute noch Freude. Wenn nicht geraucht wird, wird gegrillt, besonders auf den Mittelaltermärkten. Irgendwie auch eine Antwort, warum Deutschland in der Mehrheit am liebsten auf fossilen Brennstoffen hängenbleiben würde. Dazu brauchte es fürs Mittelalter weniger Manieren, weniger Geschmack, weniger Akademiker und Schöngeister. Einfacher und ungezwunger, als ein Set-Up wie z.B. in Amadeus (dem Film). Da kommt dann der Germane durch.
Wenn man den Vorstellungen vieler Grüner folgt, wird das Mittelalter das erstrebte Ziel der energietechnischen Abrüstungssrategie sein. Dann werden vielleicht sehr viele Veranstaltungen stattfinden, in denen das auch einstmals gelebte Leben der vergangenen Gegenwart, allerdings ohne Klo und Variobrillen nachgestellt werden wird. Märkte der gewesenen Zeit.
Geschäftsideen, die sich aufdrängen: Bauer verleiht Kuh oder Schwein wochenweise, für Wohnzimmerhaltung. Federviehlieferungen zu Discounterpreisen, zur bequemen Schlachtung in heimischer Küche. Mittelalter-Aktionswochen beim Zahnarzt: Kein Bohrer, keine Narkose, alles nur mit Zange, garantierte Effekte in praktisch allen Fällen! Handwerksbetriebe mit neuen, innovativen Angeboten: Wassergrabenbau um ihr Haus herum, (optional: Zugbrücke). Katapultinstallationen für den etwas anderen Vorgarten. Schwenkbare Kessel mit Pech und Befeuerung, ideal für Balkone ab erstem Stock. Pranger- und Galgenbau für Rathausvorplätze, Dorfversammlungsorte oder einfach nur die heimische Terrasse. Lieferung klimaneutraler Scheiterhaufen. Experimentierkästen “Mittelalterliche Wissenschaft” für die Jugend: Biologie (Zahlreiche luftdicht gelieferte Proben für interessante Experimente mit der Familie, z.B. Lepra, Pest, Cholera usw.), Chemie (Alle Zutaten für die Goldherstellung aus Dreck enthalten!), Astrologie (Schicksalsschläge vorherbestimmen, endlich Sterbedatum von Politikern ermitteln usw.). Die Achse könnte eine Leserreise “Mit der Pferdekutsche Deutschland entdecken” anbieten, Start 2020 auf Rügen, Ankunft Bodensee 2022.
Die These ist, hat die Zahl der Mittelaltermärkte/Ren Faires etc. zugenommen, da würde ich zustimmen. Die spannende Frage blieb, auch wenn nach Erklärungen gesucht wurde, unbeantwortet: Warum? Das oft auch Fantasy-Elemente (sind mittlerweile auch Dothraki aus Game of Thrones auf Mittelaltermärkten, neben Kartoffeln und Mais?) dabei sind und einige Gruppe ultra-authentisch, andere eher WD40-Schwertdänen sind… auch nicht neu. Ich würde sagen, inmitten von Zentauren, Dothraki und Cosplay wird jetzt auch verstärkt nach Identität gesucht. Back to the roots, auch wenn sie arg verzerrt sind? Interessanterweise soll die Zahl der Mittelaltermärkte in Deutschland seit 2010 rückläufig sein. Quelle der Wikipediadaten ist eine mir unbekannte Webseite, neuere Daten habe ich nicht.
@ Jens Keller: Sie haben ja so Recht. Als Anfang 1990 die Auflösung der NVA bevorstand, haben wir uns auch Gedanken gemacht, was könnte aus der Kaserne und dem ganzen Personal werden. Und wir hatten die Idee, eine Art Disneyland daraus zu machen. Wenn der Bus mit den (West-)Touristen vorfährt, wird an der Wache Flaggenparade abgehalten. 50 m weiter wird gerade ein Gefreiter von einem Offizier (natürlich in Stiefelhose und so) ordentlich zusammengeschissen. Wenn der Bus vorüber ist, sitzen beide auf der Treppe zum Stabsgebäude und rauchen gemeinsam eine Zigarette - bis der nächste Bus kommt. Und pünktlich um 16.30 macht man Feierabend und fährt gemeinsam nach Hause. Außer wenn gerade eine Sonderführung für japanische Touristen angesagt ist. So ähnlich stelle ich mir das mit dem Mittelalter auch vor. Allerdings hatte ich mal eine Erkenntnis bei so einer nachgestellten “Schlacht um die Mühle”: einen Vorderlader nachzuladen dauert rund eine Minute, eine Kanone braucht bis zum nächsten Schuss rund 5 Minuten. Nix mit Bruce Willis und Dauerfeuer. Mehr habe ich dabei nicht gelernt, aber das war doch auch schon mal was.
Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.