Markus C. Kerber, Gastautor / 02.07.2020 / 12:00 / Foto: Pixabay / 30 / Seite ausdrucken

Ist das deutsche Wahlrecht ein Narrenschiff?

Anmerkungen zur Wahlrechtsreform im Parteienstaat

Vom nimmermüden Streiter für ein neues Wahlrecht, Dr. Manfred C. Hettlage, stammt die Frage danach, ob das deutsche Wahlsystem für den Bundestag ein Narrenschiff sei. Er plädiert seit geraumer Zeit dafür, das Zweistimmensystem abzuschaffen, um so dem zahlenmäßigen Anwachsen des Deutschen Bundestages einen Riegel vorzuschieben. Hettlage, ein streitiger und rüstiger Herr mit echten Überzeugungen, hat für seine Ideale schon manchen Strauß ausgefochten. Mehrere Beschwerden über Bundestagswahlen wurden im Verfassungsgericht eingereicht und leider bereits in einer sehr frühen Phase verworfen. Seine Überlegungen gewinnen vor dem Hintergrund der kombinierten Unfähigkeit und Unwilligkeit der etablierten Parteien, die sichtbare nummerische Überfüllung des Bundestages zu begrenzen, neue Bedeutung.

Dem Normalbürger ist kaum verständlich zu machen, warum das System der sogenannten Überhangmandate aus dem Deutschen Bundestag das – gemessen an der Bevölkerung – Abgeordneten-stärkste Parlament der Welt mit mittlerweile mehr als 700 Abgeordneten gemacht hat. Hettlage argumentiert mit großer Schlichtheit und dennoch intellektueller Brillanz: Die Demokratie gewähre eine Stimme und nicht, wie im deutschen Wahlsystem, zwei Stimmen – die eine für den direkten Kandidaten und die andere für die Landesliste, die von Parteien erstellt wurde.

Ob Hettlages Vorschlag zugunsten eines Direktwahlsystems, vergleichbar dem britischen Wahlsystem mit einer Stimme, dem Demokratieprinzip vollauf gerecht wird, soll an dieser Stelle nicht abschließend behandelt werden. Es gibt schließlich auch die Möglichkeit, wie in Frankreich, in einem zweiten Wahlgang zumindest die absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen im Wahlbezirk zu erringen, um dem Anspruch, Abgeordneter des gesamten Volkes zu sein, gerecht zu werden. Hierfür spricht, dass andernfalls bei der Zersplitterung der Parteienlandschaft, wie wir sie gegenwärtig erleben, ein Kandidat in bestimmten Wahlbezirken schon mit 20 Prozent die relativ meisten Stimmen erzielen kann. Damit kann man kaum für vier Jahre in den Bundestag einziehen und dort als legitimer Vertreter des gesamten deutschen Volkes (Art. 38) auftreten.

Das Bundesverfassungsgericht hat in unterschiedlichen Urteilen dem Wahlrechtsgesetzgeber einen großen Spielraum eingeräumt. [1] Das höchste deutsche Gericht steht also einer gesetzlichen Ausformung der Grundsätze von Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl nicht entgegen. Entscheidendes Hindernis für eine Wahlrechtsreform, deren Ausbleiben für das politische Establishment zu der Peinlichkeit eines überfüllten Parlaments führen würde, sind die partikularen Interessen der deutschen Parteien. Die CSU, die in Bayern alle Direktmandate gewinnt, will an der Zahl der direkt gewählten Bundestagsabgeordneten auf jeden Fall festhalten. Währenddessen sind die auf Listen angewiesenen kleineren Parteien wie Grüne, Linkspartei und FDP sowie die AfD unter keinen Umständen daran interessiert, die Bedeutung der Zweitstimmen auf Landeslisten zu relativieren.

Dies macht die Realität des deutschen Parteienstaates – zunächst konstruktiv von Wilhelm Hennis beschrieben, dann bitterböse von ihm beklagt – aus. Die deutschen Parteien sind unfähig und unwillig, darüber nachzudenken, ob und wie dem Grundsatz der Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl nach Art. 38 GG mit einem kleineren und kostengünstigeren Parlament Rechnung getragen werden kann. Stattdessen verteidigen sie ihre Pfründe. An dieser Stelle arbeiten AfD, FDP, Linke und Grüne in seltener Harmonie zusammen. Statt darüber nachzudenken, ob ein direkt gewählter Bundestag mit Abgeordneten, die in ihren Wahlbezirken alle mehr als 50 Prozent der abgegebenen Stimmen erzielen müssen, nicht lebendiger und pluralistischer die Meinungen und Strömungen der deutschen Nation wiedergeben würde, wird darauf abgestellt, wie die Repräsentanz der Parteien im deutschen Parlament – und damit auch ihre Versorgung – gesichert werden kann.

Die gegenwärtige Diskussion über die Wahlrechtsreform wirft daher ein düsteres Licht auf das Parteienprivileg des Art. 21 GG. Es wird wohl einer Krise des gegenwärtigen parlamentarischen Regimes bedürfen, um ein Mehrheitswahlrecht, bei dem die Deutschen nicht für Listen, sondern für Personen stimmen können, in Kraft zu setzen. Dann wird man nicht mehr davon berichten, der Abgeordnete X für die Y Partei sitze im Bundestag. Bis dahin gilt: Die Qualität der Diskussion über die Wahlrechtsreform stellt die geistesgeschichtliche Lage des deutschen Parteienstaats bloß. 

[1] Vgl. das Urteil vom 26.02.2014, 2 BVR 2220/13 sowie das Urteil des 2. Senats vom 25.07.2012 2 BVR 2670/11 sowie das Urteil vom 03.07.2008, 2 BVC 1/07 und 2 BVC 7/07.

 

Dr. jur. Markus C. Kerber ist Professor für Finanzwissenschaft und Wirtschaftspolitik an der Technischen Universität Berlin, Gründer von www.europolis-online.org, Autor des Buches Europa ohne Frankreich? Deutsche Anmerkungen zur französischen Frage.

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Joachim Nettelbeck / 02.07.2020

Das hätte freilich zur Folge, dass der Bundestag zu 70% aus Abgeordneten der Union besteht, dazu kämen noch 20% SPD, und der Rest verteilte sich unter Grünen, Linken und AfDlern. Fänden Sie das erstrebenswert? Ich nicht. Die Union hat dieses Land ruiniert, vergessen Sie das nicht. Die Abschaffung der Ausgleichsmandate, wie ein anderer Kommentator vorschlug, wäre zwar meines Erachtens okay, aber das Bundesverfassungsgericht teilt diese Meinung nicht - deshalb haben wir ja überhaupt das Problem. Und dann wird es halt schwierig, denn der direkt gewählte Abgeordnete ist nun mal direkt gewählt, da führt kein Weg dran vorbei. Man könnte die Direktwahl abschaffen und nur Listenwahl zulassen, aber abgesehen davon, dass das kaum wünschenswert wäre, stehen die Chancen dafür, dass das BVerfg auch diese Variante killen würde. Diesmal sogar zu Recht, wie mir scheint. Am plausibelsten scheint mir noch diese Lösung zu sein: Zunächst mal gibt es nur direkt gewählte Abgeordnete. Der Bundestag besteht also grundsätzlich aus 299 Abgeordneten, nicht aus 598. Dann wird geschaut, wieviel man von den Listen dazugeben muss, um das Wahlergebnis im Verhältnis abzubilden. Zu diesem Zweck werden die Landeslisten abgeschafft und nur jeweils eine Bundesliste der Parteien zugelassen. Das hätte natürlich in der Praxis zur Folge, dass die CDU gar keine Listenmandate bekommt, und die anderen nur je nach Bedarf. Aber es hätte auch einen wesentlich kleineren Bundestag zur Folge.

Martin Landvoigt / 02.07.2020

Das Mehrheitswahlrecht mit nur einem Kandidaten für den Wahlkreis hat einen erhebliche Nachteile: Erstens ist dann der Kandidat viel weniger Repräsentant des Volkes, sondern nur Wahlmann: Mann wählt ihn nicht für sein Engagement, Leistung, Meinung, Loyalität oder Aussehen, sondern weil er der Partei zur Regierung verhilft, die der Wähler dort wählen will. Dass dann nur noch die Mehrheit im Wahlkreis zählt, lässt die kleineren Parteien meist außen vor.  Minderheiten werden systematisch missachtet und haben keine Stimme mehr. Viel mehr sollten die Erststimmen abgeschafft werden.

Marco Mahlmann / 02.07.2020

Das Bundesverfassungsgericht verlangt, daß die Zusammensetzung des Bundestages dem Zweitstimmenverhältnis entspricht, weil das den Wählerwillen am besten abbilde. Ein reines Verhältniswahlrecht würde weite Teile des Volkes nicht repräsentieren; Wähler nicht im Parlament vertretener Parteien finden sich dort nicht wieder. Das Verhältniswahlrecht begünstigt die großen Parteien und macht es neuen Parteien lange Zeit unmöglich, politisch mitzuwirken. Das ist undemokratisch. ### Wenn Direktkandidaten mehr als 50% der Stimmen bekommen müssen, wird ein offenes demokratisches Rennen mehrerer aussichtsreicher Kandidaten bestraft; wer mit 36 zu 33 zu 31 Prozent gewinnt, hat sich im demokratischen Wettstreit durchgesetzt und geht leer aus – ein unerträglicher Gedanke. Genauso unerträglich ist der AfD-Vorschlag, nur eine bestimmte Anzahl Direktkandidaten in’s Parlament zu lassen, nämlich abgezählt vom höchsten Wahlerfolg runter. ### Hettlage ist kein „nimmermüder Streiter für ein neues Wahlrecht“, sondern ein beratungsresistenter Verfechter für einen kleinen Bundestag; dabei sind ihm die geringeren Kosten wichtiger als die Konsequenzen für die Demokratie. ### Der Bundestag wird durch die Überhang- und die vom Verfassungsgericht geforderten Ausgleichsmandate so groß. Hettlage hält insbesondere die Ausgleichsmandate für verfassungswidrig und wirft damit dem Verfassungsgericht vor, Verfassungswidriges zu verlangen. Die Direktmandate sind redlich erworben, und insbesondere Befürworter des Verhältniswahlrechts können das nicht anders sehen. Dann ist es aber simple Mathematik, daß der Bundestag soweit durch Ausgleichsmandate vergrößert werden muß, daß das Zweitstimmenverhältnis abgebildet wird. Überhangmandate entstehen dadurch, daß viele Parteien in den Bundestag einziehen, die zwar mehr als 5% der Zweitstimmen erhalten, bei den Erststimmen aber den großen Parteien aussichtslos unterlegen sind. Das ist Demokratie.

N. Szczepanski / 02.07.2020

Nach dem Wortlaut des GG Art. 38, in welchem ein Verhältniswahlrecht keine Erwähnung findet, wurde seit 1949 noch nie “verfassungskonform” gewählt. So gesehen waren und sind alle Bundesparlamente ohne notwendige Legitimation. Und wer nicht legitim zusammentritt, kann auch keine legitimen Beschlüsse fassen. Genau so geht Demokratie nicht und kann auch nicht gehen. Deshalb ist dieses Land bereits hinter Friedrich den Großen zurückgefallen. Der verkündete und setzte durch, daß “Jedermann - einschließlich des Königs - vor dem Gesetze gleich sei”. Tempi passati, Vergl dazu: v.Arnim: “Staat ohne Diener” 1993, ISBN 3-463-40224-6

Siegfried Etzkorn / 02.07.2020

Der Beitrag blendet leider aus, dass ein Verhältniswahlsystem landes- und bundesweit die Mehrheitsverhältnisse und tatsächlichen Wählerstimmen wesentlich genauer abbildet als das Mehrheitswahlsystem in UK und das Wahlmännersystem in de USA. Auch wenn man Art. 21 Abs 1. S. 1, nach dem die Parteien an der politischen Willensbildung des Volkes “mitwirken” durchaus als Mahnung begreifen kann, nicht alle Willensbildung allein den Parteien zu überlassen, lassen sich die gegenwärtigen Realitäten nicht verkennen. Die Erststimme soll dem lokalen Kandidaten gelten. Die Zweitstimme soll der politischen Richtung des Wählers ihre Geltung verleihen. Beides kann durchaus auseinanderfallen. Ein reines Mehrheitswahlrecht würde m. E. - jedenfalls zur Zeit - auch eher zu einer Diktatur von Provinzfürsten und deren Mitläufern führen. Ich selbst komme aus einem Wahlkreis, in dem Landtags- und Bundestagsmandate im Filz quasi “vererbt” werden und weiß daher, wovon ich spreche. Ein reines Mehrheitswahlsystem hätte daher verheerende Folgen für die Demokratie, weil viele Stimmen wegen eines lokalen Herdentriebs schlicht unberücksichtigt blieben. Um dies zu verhindern, mag der Bundestag lieber noch eine zeitlang etwas zu Mitgliederstark sein.

Dov Nesher / 02.07.2020

Mehrheitswahl. Ein Traum!!! Das würde die Verantwortlichkeit der Abgeordneten gegenüber dem Wähler steigern und gegenüber der Partei schwächen. Aber vielleicht wäre ja die Abschaffung der Ausgleichsmandate ein Kompromiss.

Jürgen Fischer / 02.07.2020

Es wäre ein Wunder, wenn ausgerechnet die, die vom bestehenden System profitieren, daran was ändern wollten. Genausogut könnte man im Zoo ins Bärengehege gehen und die anwesenden Bären fragen, ob man ihnen die Futterration um die Hälfte zusammenstreichen soll. Daran scheitert jede geplante Reform. Nicht umsonst heißt es, frag nie die Frösche, wenn du den Sumpf trockenlegen willst. Das Listenwahlrecht steht Art. 38 (1) GG diametral entgegen, auch wenn immer wieder dahergelogen wird, dass kein Fraktionszwang bestünde. Aber das Gewissen, dem die Abgeordneten heute unterworfen sind, heißt in den meisten Fällen sowieso Angela Merkel.

Harald Unger / 02.07.2020

Es sollte uns kleine Minderheit von Regime Kritikern nicht wundern, wenn die BT Wahl ‘21 gänzlich auf Briefwahl, auch Cheat-by-Mail genannt, umgestellt wird. Damit sich Thüringen in der Blockflöten Republik Merkel nicht wiederholen kann. Der tatsächliche Grund für die Corona Hysterie.

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