Thilo Sarrazin / 31.10.2022 / 06:00 / Foto: Achgut.com / 175 / Seite ausdrucken

In dieser Frage kann es kein Einerseits-Andererseits geben

Für Putins Russland wird der Überfall auf die Ukraine nicht gut ausgehen, und Millionen Russen werden sich viele Jahrzehnte lang fragen müssen, wie es geschehen konnte, dass sich das Land in eine kleptokratische Diktatur verwandelte und dem Aggressionskurs gegen die souveräne Ukraine mehr oder weniger willenlos folgte.

Die Weltwoche, die ich wegen ihres breiten inhaltlichen Spektrums und ihrer Widerständigkeit zu den Moden des Zeitgeistes grundsätzlich sehr schätze, hat sich seit Russlands Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 alle Mühe gegeben, in ihrer Berichterstattung und in den wertenden Kommentaren, denen sie Raum gab, eine „neutrale“ Einerseits-Andererseits-Position einzunehmen. Dabei hat die Redaktion offenbar aus dem Auge verloren, dass es in moralischen Kernfragen ein Einerseits-Andererseits nicht geben kann und auch nicht geben darf.

Selbstverständlich wird durch einen gewalttätigen Überfall das Opfer nicht in allen Aspekten seines Wesens zum Heiligen, und der Gewalttäter muss trotz seiner Gewalttat nicht in allen Aspekten seiner Person ein Erzbösewicht sein. Das gilt analog auch für Völker und Staaten.

Die Ukraine ist nicht nur bewohnt von Heiligen und lupenreinen Demokraten, und die Misswirtschaft jahrzehntelanger Korruption darf auch nicht unerwähnt bleiben. Umgekehrt besteht Russland nicht nur aus kleptokratischen Oligarchen und einem aggressiven Diktator mit faschistischen Zügen.

Das russische Volk unter Putin befindet sich in einer ähnlichen Lage wie vor achtzig Jahren das deutsche Volk unter Hitler: Hin- und hergerissen zwischen Vaterlandsliebe, Opportunismus und persönlichem Überlebenswillen, vertraut die Mehrheit der politischen Führung, macht alles mit und hofft vage, dass es gut ausgeht. Im Falle der Nazi-Diktatur ging es nicht gut aus, und Millionen Deutsche mussten sich seit 1945 fragen, welche Schuld sie persönlich auf sich geladen hatten. Die späten Folgen merken wir in Deutschland bis heute.

Wie konnte es geschehen?

Für Putins Russland wird der Überfall auf die Ukraine auch nicht gut ausgehen, und Millionen Russen werden sich viele Jahrzehnte lang fragen müssen, wie es geschehen konnte, dass sich das Land nur wenige Jahre nach der Befreiung vom Kommunismus in Wladimir Putins kleptokratische Diktatur verstrickte und dem Aggressionskurs gegen die souveräne Ukraine mehr oder weniger willenlos folgte.

Die Sowjetunion wurde durch den Unionsvertrag von Ende 1991 wirksam aufgelöst, alle Unionsstaaten erkannten ihre Grenzen gegenseitig an und wurden souveräne Objekte des Völkerrechts. Die territoriale Integrität und Souveränität der Ukraine wurde von Russland erneut 1994 garantiert, als die Ukraine alle ihre Atomwaffen an Russland abgab.

Die Stabilität der europäischen Friedensordnung steht und fällt damit, dass alle Staaten ihre Grenzen gegenseitig als unverletzlich anerkennen. Nach dem blutigen Zerfall Jugoslawiens ist jetzt in dieser Hinsicht allein Russland der Störenfried, und ein besonders gewalttätiger dazu. Im Ukraine-Krieg gibt es jetzt auch nur noch einen denkbaren „Kompromiss“, nämlich dass Russland sich im Verhältnis zur Ukraine vollständig auf die Grenzen des Unionsvertrags von 1991 zurückzieht. Bis das erreicht ist, wird die Ukraine weiterkämpfen und dabei mit westlichen Waffenlieferungen unterstützt werden. 

Selbstverständlich stellt niemand im Westen das Existenzrecht Russlands in den Grenzen von 1991 infrage. Aber wahrscheinlich werden sich die Russen eine neue Führung suchen müssen, wenn sie bald Frieden wollen. Sobald die Russen Putin und seine kleptokratische Verbrecherbande von den Schalthebeln der Macht entfernt haben, können sie sich endlich darauf konzentrieren, das Wohlstandspotenzial ihres Landes zu entfesseln. 

Neubeginn nur nach der Niederlage

Wirtschaftlich brach die große Zeit Deutschlands und Japans erst nach 1945 an, als sie aufgrund ihres militärischen und moralischen Zusammenbruchs gezwungen waren, von ihren imperialen Träumen auf immer Abschied zu nehmen und sich auf ihre inneren Stärken zu besinnen. Die notwendige vollständige Niederlage Russlands im Ukrainekrieg wird nicht das Ende der russischen Geschichte sein, sondern ihr verheißungsvoller Neubeginn als friedlicher Vielvölkerstaat und Brücke zwischen Asien und Europa.

Bis zur vollständigen Befreiung der Ukraine aus den Fängen der russischen Aggression ist es die Aufgabe der Medien, möglichst objektiv über den Verlauf des Konflikts zu berichten, aber das schließt die moralische Parteinahme für den Überfallenen und gegen den Aggressor keineswegs aus, sondern erfordert sie geradezu.

Die geheiligte Schweizer Neutralität ist das historisch überkommene Privileg eines kleinen Bergvolks im Windschatten der Weltgeschichte. In den Zeitläuften nach Napoleon war sie für die Schweiz eine kluge Wahl. Aber politische Neutralität sollte nicht unnötig moralisch überhöht werden. Außenpolitisch gesehen ist mein Respekt für die künftigen NATO-Mitglieder Schweden und Finnland deutlich ausgeprägter. Sie haben jedenfalls Neutralität nicht in den Rang einer heiligen Kuh erhoben, sondern verantwortungsethisch richtig gehandelt, indem sie eindeutig Stellung bezogen haben.

Zuerst erschienen in der Zürcher Weltwoche

Foto: Achgut.com

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Bodo Bastian / 31.10.2022

Dieser Artikel geht dermaßen an den Geschehnissen in und seit 2014 in der Ukraine vorbei, dass mir die Worte fehlen. Und zur Frage wie es damals geschehen konnte, hier ein Erklärungsversuch: Es konnte erstens geschehen, weil es immer irgendwelche selbst ernannten Großkopferten gab, die für sich in Anspruch nehmen, die absolute Deutungshoheit inne zu haben. Denenjenigen, denen wenig eigenes Wissen vergönnt ist, bleibt i.d.R. wenig übrig, als alles zu glauben. Das gilt vor allem, wenn das Geschreibsel an prominenter Stelle verbreitet wird. Das war damals, zweitens, das andere Problem. Beide Probleme haben wir heute noch, und sie haben die gleichen Auswirkungen wie damals.

Axel Gojowy / 31.10.2022

Reflektiert man die Deutscghe Geschichte, gibt es Grund zur Annahme, dass es sich um russischen Faschismus handelt. Der ist aber nicht nur dem “Führer” anzulastenm der besteht seit 1917, als die Romanows hemeuchelt wurdenm. Dem akacemisch gebildeten Meuchelmörder Lenin folgte der etwas dümmliche Klosterschüler Stalin, der Lenins Verbrecherstaaat perfektionierte und dem Millionen zu Opfer fielen. Der verstand sich logischerweie prima mit dem Gröfaz, bis sich beide in die Haare bekamen. Der Russenfaschismus mit seinem Weltherrschaftsanspruch knechtete nach dem Siegüber Hitlerdeutschland die besiegten Staaten, wenn sie freiheitliche Gelüste verspürten, 1953 DDR, 1956 Ungarn 1968 CSSR. In Afghanistan brachgten sie den “Hilferufer” gleich selbst mit.Die Abkehr vom Machtmonopol unter Gorbantschow ließ Lichtblicke zu, wurde im Staatsstreich gekanzelt und seit Putins Machtergreifung guing es nahtlos weiter, Tschetschenien, Georgien, die Krim und nun offene Annektion der Ukraune. Allerdings kann Putin der Kriegsführung des Gröfaz nicht das Wasser reichen, der brauchte für den Polenfedzug lediglich 14 Tage.

Gottfried Meier / 31.10.2022

Lieber Herr Sarrazin, ich schätze sie sehr und habe schon etliche Bücher von Ihnen mit großem Gewinn gelesen. Aber hier sind Sie mir zu einseitig. Sie blenden die Geschichte dieses Konflikts weitestgehend aus. Ohne hier als Russland- oder Putinversteher dastehen zu wollen, halte ich es für zwingend notwendig, sich mit den Ursachen dieses schrecklichen Krieges auseinanderzusetzen, also eine ehrliche Analyse zu machen. Nur so kann man auf dem Verhandlungsweg ein möglichst baldiges Ende dieses Krieges erreichen.

Wolfgang Fischer / 31.10.2022

Für den Herrn Sarrazin beginnt der Krieg in der Ukraine im Februar 2022. da muss man nicht mehr weiter lesen. “„Wer sich nicht impfen lässt muss akzeptieren, dass sein Arbeitgeber ihn von der Arbeit freistellt“=19.09.2021 Na dann könnte man ja auch sagen….wer sich den Amerikanern in der Ukrainefrage nicht unterwirft?...oder so ähnlich.

Dr. Armin Schmid / 31.10.2022

Herr Sarrazin hat ganz einfach recht (wie immer eigentlich). Und in dieser Frage ist die Antwort ja auch ganz einfach. Natürlich darf man auch fragen, ob nicht die Polen Hitlers Spezialoperation 1939 herbeiprovoziert haben (Sender Gleiwitz usw.), wir sind ja ein freies Land. Leider ist die Antwort auch da ganz eindeutig.

Ludwig Luhmann / 31.10.2022

@Dietrich Herrmann / 31.10.2022 -“Ein Vergleich Putins mit Hitler, wie er hier zelebriert wird, ist absolut unstatthaft. (...)”—- Vergleiche sind nicht nur immer statthaft, sondern stets notwendig. Das, was Sie meinen, nennt sich “Gleichstellung”.

Volker Kleinophorst / 31.10.2022

@ Ostrowsky Guter Blickwinkel. Zwei Antworten: 1. “Wieso wird Deutschland ausgehöhlt, zerstört, entwertet, mit Flüchtlingen gefüllt, zersetzt, seiner Industrie beraubt, obwohl Putin in Deutschland gar nicht regiert?” damit sich Deutschland nie, niemals, nie mit Russland verbindet und die Beherrschung der Meere der angloamerikanische geopolitische Faustpfand wertlos wird.” 2. “Wie konnte es soweit kommen, dass sich ein ganzes Land dem Willen von ein paar Verrückten beugt?” Das ist doch immer so. Demokratie ist ein Mythos, um Politik zu verkaufen. Alle politischen Systeme waren bisher im Kern Oligarchien.

Armin Reichert / 31.10.2022

Ich fühle mich nicht durch Russland bedroht, aber durch die Bundesregierung, die EU und deren Mastermind, dem WEF.

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Thilo Sarrazin / 20.05.2024 / 06:00 / 76

Verschuldung:  Die Ampel spielt Mikado

Der hypertrophe Sozialstaat frisst die Finanzmittel auf, die man zur Unterstützung der Ukraine, zur Ertüchtigung der Bundeswehr und zur Modernisierung der maroden Infrastruktur viel dringender…/ mehr

Thilo Sarrazin / 03.02.2024 / 06:15 / 102

Das Landhaus des Bösen

Nicht immer schärfere Töne gegen die AfD helfen der Demokratie, sondern mehr Erfolge bei dem Thema, das sie groß gemacht hat: Kontrolle der Grenzen und…/ mehr

Thilo Sarrazin / 08.01.2024 / 12:00 / 93

Die SPD im Panik-Modus

Mit der SPD geht es abwärts. Bundesweit liegt sie bei 14 bis 15 Prozent, in den Ost-Ländern noch tiefer, in Sachsen ist sie auf drei…/ mehr

Thilo Sarrazin / 12.12.2023 / 10:00 / 55

Jetzt kommt die Stunde der Wahrheit

Das Bundesverfassungsgericht hat es der Ampel-Regierung untersagt, die nicht verbrauchten Kreditermächtigungen des Corona-Hilfsfonds auf den Fonds für Energieversorgung und Klimaschutz zu übertragen. Das kann das…/ mehr

Thilo Sarrazin / 09.11.2023 / 06:15 / 72

Die deutsche Staatsraison droht leerzulaufen

13 Jahre nach „Deutschland schafft sich ab“ übersteigt die anhaltend hohe Einwanderung aus der islamischen Welt meine Prognosen von damals bei Weitem. Die daraus erwachsenden Probleme dominieren…/ mehr

Thilo Sarrazin / 26.10.2023 / 12:00 / 102

Die Angst der CDU vor der AfD

Die deutsche Politik ist gegenwärtig weit davon entfernt, sich mit der Problematik des ungebremsten Zustroms über offene Grenzen ernsthaft auseinanderzusetzen. Schon das öffentliche Nachdenken über…/ mehr

Thilo Sarrazin / 11.07.2023 / 06:00 / 154

Migration um jeden Preis

Der Bundesrepublik fehlen Facharbeiter. Deswegen brauchen wir Zuwanderung. Dass die meisten Migranten, die in Deutschland ankommen, weder eine abgeschlossene Schul- noch eine Berufsausbildung haben, müsste…/ mehr

Thilo Sarrazin / 22.06.2023 / 10:00 / 159

Warum die AfD im Aufwind ist

Der SPD hat es offenbar nicht geholfen, dass sie sich im Sommer 2020 vom Migrations- und Islamkritiker Thilo Sarrazin getrennt hat. Er hatte immerhin ein…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com