Ein „Dokumentarfilm“ in der ARD zeigt Protagonisten der Koalition in Aktion, tapfer agierend und am Fenster sinnierend in schweren Zeiten, und das über anderthalb Jahre. Ein Meisterwerk der filmischen Ergriffenheits-Epik.
20 Jahre ist es her, da rumpelten Militärfahrzeuge der US-Army durch die irakische Wüste, und die amerikanischen Einheiten hatten Gäste dabei: Journalisten, die als Zivilisten unter der Kontrolle der US-Army über die Kriegshandlungen berichten sollten. „Embedded Journalism“ nannte sich das, und in Deutschland sprachen die Journalisten nur einigermaßen verächtlich von ihren eingebetteten Berufskollegen, die sich, wie Wikipedia es definiert, „den vorgegebenen politischen Strukturen und Erwartungen anpassen, also zum Sprachrohr der Regierung machen lassen.“
Und nun machen wir einen Sprung in die Jetztzeit, wo sich der natürlich vielfach preisgekrönte Journalist und Filmemacher Stephan Lamby alle Mühe gibt, den „Staatsfunk“-Vorwürfen, die sich die öffentlich-rechtlichen Medienschaffenden seit Jahren und zunehmend einfangen, tüchtig Nahrung zu geben. „Ernstfall – Regieren am Limit“ heißt sein neuestes Machwerk, und 75 Minuten lang sieht man, wenn man es aushält (in der Mediathek hier, hier und hier), deutsche Ampelmänner (und eine -frau), wie sie, Getriebene des „russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine“, zu dramatischer Hintergrundmusik durch Konferenzräume schnüren, Gangways hinauf- oder hinunterklettern, aus Limousinen steigen, die Hände ausländischer Staatsgäste schütteln und vor allem: aus dem Fenster gucken. Nachdenklich. Sorgenvoll. Aber entschlossen!
Was sie wohl sehen? Glas, klar. Möglicherweise auch die Misere, an der sie alles andere als unbeteiligt sind. Die Industrie, die wegen der exorbitanten Energiepreise ins Ausland abwandert. Die Folgen der unkontrollierten Massenmigration. Und vieles mehr, was in Lambys Film leider nicht vorkommt, denn die These desselben lautet: Die „Fortschrittskoalition“ genannte „Ampel“ hat sich ganz viel vorgenommen, aber dann kam das Kremlmonster um die Ecke, und nichts war mehr wie vorher. Seitdem müssen – in dieser Reihenfolge – vor allem Robert Habeck und Annalena Baerbock, Olaf Scholz, ein bisschen auch Christian Lindner sowie Kanzleramtsminister Wolfgang Schmidt geradezu übermenschliche Kraft aufwenden, um das Land unter erschwerten Bedingungen mit den Segnungen ihrer Reformprojekte zu beglücken. Und auch Boris Pistorius, der einige Male zu Wort kommen darf, während seine Vorgängerin Christine Lambrecht, zu Beginn des Ukraine-Krieges immerhin noch Ministerin und mit der Ankündigung auffällig geworden, Kiew 5.000 Helme zu schicken, gnädig übersehen bzw. überhört wird.
Lamby wittert für Habeck eine Kampagne
Einmal hören wir auch Karl Lauterbach, der mit Schnabelmaske im Dienstwagen sitzt und, wenig überraschend, sofort den Dreh zur „Pandemie“ kriegt: „Da gibt es eine Denkweise, Wissenschaft, Vernunft, gute Politik, da können wir Dinge planbar beherrschen“, sagt der Gesundheitsminister, ohne dass Lamby losprustet. Aber der Krieg, der sei ja was anderes, entziehe sich jeder Kontrolle. Neben den Bildern sind es unkommentierte Statements unserer rot-grünen Helden (Lindner zählt nicht wirklich), die die 75 Minuten füllen. Dazu diverse eingebettete Journalisten, die im Flieger ihre Ansichten zum Besten geben. Und: „Aus dem Off eingespielte Ausschnitte aus Nachrichtensendungen sowie gelegentliche Schrifttafeln sorgen für die nötigen Basisinformationen“, wie die Frankfurter Rundschau schreibt, jedenfalls die Informationen, die im Fernsehen so verbreitet werden. Wer meckert, kommt nur ganz kurz in Schnipseln zwischendurch vor, etwa Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer auf einer Friedens-Demo, dann darf wieder einer der Protagonisten das Bild in seinem Sinne geraderücken.
Das Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) ist ganz begeistert: „Durch die Langzeitbeobachtung von fast zwei Jahren schafft Lamby ein umfassendes Bild des politischen Alltags und der stetigen Herausforderungen, denen sich die Ampel stellen muss; eine eindringliche Chronik von Höhen und Tiefen, von politischen Drahtseilakten und gewagten Manövern…“ Jedoch: „Man sieht auch einen hadernden Robert Habeck, der im Zuge der Energiekrise gegen seine Überzeugungen die Kohlekraftwerke am Laufen hält: ,Das ist Mist', sagt er zerknirscht zu den Sachzwängen, die der Krieg mit sich bringt.“ Nun ist es zwar kein Sachzwang, der sich aus dem Krieg ergeben hätte, mitten in einer Energiekrise die letzten drei Atomkraftwerke abzuschalten, aber Kritik bekommt Habeck nicht zu hören. Er ist ganz klar der Star des Films, ist am häufigsten zu sehen, unmaskiert dozierend inmitten maskierter Bewunderer.
„Insbesondere das erste Jahr war eine unglaubliche Herausforderung für die Regierung“ zitiert der SWR Lamby, denn, so heißt es im Bericht, „innerhalb weniger Tage habe eine neue Außen-, Sicherheits- und Energiepolitik entworfen werden müssen. Das habe die Regierung insgesamt gut hinbekommen.“ Damit dürfte seine Ampel-Bilanz sogar positiver sein als die der Überzeugungstäter selbst. An einer Stelle sagt Lamby tatsächlich zu Habeck: „Man sieht, wie die Bild-Zeitung ganz offensichtlich eine Kampagne nicht nur gegen das Heizungsgesetz, sondern auch gegen Sie persönlich fährt.“ Und Habeck antwortet: „Ja, das ham Sie jetzt gesagt.“ Genau.
„Bester Journalismus zur Primetime!“
Matthias Deiß, stellvertretender Leiter des ARD-Hauptstadtstudios und selbst in drei Szenen zu sehen und zu hören (mit dem schönen Versprecher „Friesenszeiten“, by the way), jubelt bei X: „Diesen Film muss man gesehen haben… Bester Journalismus zur Primetime!“ Dieses Urteil wird allerdings nicht von allen Medien geteilt, der Rezensent der Zeit (!) findet den Film „auf interessante Weise nicht gut“, die taz resümiert: „Die Regierung kann mit dem Film ziemlich zufrieden sein, heftige Kritik gibt es kaum.“ Kaum? So gut wie gar nicht. Abgesehen vom Vorwurf der Klima-Kleber, die maulen, dass die Politik noch zu wenig täte, und das stimmt ja auch, denn obwohl die Erde etwa 4,3 Milliarden Jahre alt ist, haben wir ja „nur noch zwei bis drei Jahre“, um sie zu retten. Ein irrer Zufall. Das wird dann doch verdammt eng.
Dass der Ernstfall das unselige Wirken der Ampel-Koalition ist, dass sie das Problem ist, für dessen Lösung sie sich hält, wird an keiner Stelle des Films auch nur angedeutet. Wir sehen Politiker, die unter der Last der Verantwortung ihr Bestes geben, sich aufreiben, Tag und Nacht. Und trotzdem noch die Zeit finden, sich um eher nicht so drängende Themen wie die freie Wahl des Geschlechts oder Cannabis-Freigabe zu kümmern. Beeindruckend! Einziges Manko: Man hat vergessen, den Hinweis „Dauerwerbesendung“ einzublenden.
Die Hommage an unsere Regierung im Allgemeinen und die vier bis sechs Protagonisten im Besonderen stieß allerdings, obwohl direkt nach der 20.00-Uhr-Tagesschau ausgestrahlt, nicht eben auf großes Interesse. Ließen sich tatsächlich noch 4,42 Millionen „Zuschauende“ (Dunja Hayali) von der Hauptnachrichtensendung die Welt erklären, schalteten zweieinhalb Millionen gleich danach um oder ab und verpassten damit die Würdigung der Politik, die uns heroisch durch diese von anderen aufgezwungenen schweren Zeiten zu lenken versucht. Das ist die Strafe für solcherart Undankbarkeit. Wir aber sagen: Danke, Robert, Dir vor allem, aber auch Dir, Annalena, und Dir, Olaf, für Euren aufopferungsvollen Einsatz! Nicht umsonst hieß es ja recht märchenhaft zu Beginn des Films: „Es war einmal. Es war einmal eine neue Regierung mit guten Vorsätzen.“ Und wenn sie nicht gestorben sind, dann starren sie noch heute aus dem Fenster.
Claudio Casula arbeitet als Autor, Redakteur und Lektor bei der Achse des Guten.