Die Einführung von digitalem Zentralbankgeld wird weltweit vorangetrieben. In der EU sollen schon im kommenden Jahr entsprechende Pilotprojekte gestartet werden ‒ mit kaum absehbaren Folgen für unser alltägliches Leben.
„Die Europäische Zentralbank hat signalisiert, dass sie bis zur Mitte des Jahrzehnts einen digitalen Euro einführen will.“ Dieser lapidare Satz steht wörtlich auf der Webseite des Atlantic Councils, einer 1961 gegründeten Denkfabrik mit Sitz in Washington D.C., die ihre Aufgabe wie folgt beschreibt:
„Angetrieben von unserer Mission, die globale Zukunft gemeinsam zu gestalten, ist der Atlantic Council eine überparteiliche Organisation, die die Führungsrolle und das Engagement der USA in der Welt in Zusammenarbeit mit Verbündeten und Partnern stärkt, um Lösungen für globale Herausforderungen zu finden.“ Weiter heißt es: „Der Council bietet ein entscheidendes Forum für die Bewältigung der dramatischen wirtschaftlichen und politischen Veränderungen, die das einundzwanzigste Jahrhundert prägen, indem er sein einzigartiges, einflussreiches Netzwerk globaler Führungskräfte informiert und aktiviert.“
Dass der Atlantic Council nicht nur leere Worthülsen produziert, wird klar, wenn man tiefer in seine Webseite eintaucht. Denn dann stößt man auf den sogenannten CBDC-Tracker, über den sich herausfinden lässt, wie weit die Umsetzung der Einführung von digitalem Zentralbankgeld in verschiedenen Ländern fortgeschritten ist. Dabei wird CBDC vom Atlantic Council folgendermaßen definiert:
„Eine digitale Zentralbankwährung (Central Bank Digital Currency, CBDC) ist die digitale Form der Fiat-Währung eines Landes, die gleichzeitig eine Forderung an die Zentralbank darstellt. Anstatt Geld zu drucken, gibt die Zentralbank elektronische Münzen oder Konten aus, die durch das volle Vertrauen und die Kreditwürdigkeit der Regierung gesichert sind.“
Der CBDC-Tracker zeigt auf einer interaktiven Weltkarte an, dass zehn Länder ‒ darunter Nigeria und Jamaica ‒ bereits eine digitale Währung eingeführt haben. Vorreiter war Nigeria im Oktober 2021. Außerdem wird ersichtlich, dass Chinas Pilotprojekt bis 2023 erweitert werden soll. Vierzehn weitere Pilotprojekte ploppen auf in so unterschiedlichen Ländern wie Südafrika, Saudi-Arabien, Schweden, Ukraine, Singapur, Südkorea, Thailand und Kasachstan. Unter den 24 Ländern, die sich im Stadium der Entwicklung einer digitalen Währung befinden, wird neben beispielsweise Kanada, Japan, Brasilien, Australien und Indien auch die EU genannt. Und 43 Länder werden mit dem Status aufgeführt, die Realisierung des digitalen Zentralbankgeldes zu erforschen ‒ darunter die USA, Mexiko, Chile, Tansania, Indonesien, Pakistan, Marokko und Norwegen. Zu den zehn als inaktiv bezeichneten Ländern zählen Dänemark, Nordkorea, Ägypten und Argentinien. Lediglich zwei Länder fallen in die Rubrik „Canceled“, nämlich Ecuador und Senegal.
Pilotprojekt für den digitalen Euro schon 2023
Insgesamt prüfen laut Atlantic Council derzeit 105 Länder, die zusammen über 95 Prozent des weltweiten BIP repräsentieren, die Einführung von digitalem Zentralbankgeld. Im Mai 2020 waren es erst 35 Länder, die ein CBDC in Betracht zogen. 50 Ländern befinden sich mittlerweile in einer fortgeschrittenen Phase der Erprobung. Am wenigsten eingebunden ist der afrikanische Kontinent. Und dann fällt noch der bemerkenswerte Satz: „Das Finanzsystem könnte in naher Zukunft vor einem erheblichen Kompatibilitätsproblem stehen. Die Zunahme verschiedener CBDC-Modelle macht die Festlegung internationaler Standards dringend erforderlich.“ Demnach geht der Atlantic Council davon aus, dass weltweite Verhandlungen über digitale Zentralbankwährungen anstehen.
Für die EU wird ein recht präziser Zeitplan wiedergegeben:
„Die EZB (Europäische Zentralbank) hat mehrere Sondierungsberichte über die Machbarkeit eines digitalen Euro in den Jahren 2020 und 2021 in Auftrag gegeben. Das Arbeitspapier der EZB schlägt ein zweistufiges System für ein allgemeines CBDC vor. Im Juli 2021 kündigte die EZB an, dass sie eine 24-monatige Untersuchungsphase für das Digital-Euro-Projekt einleiten werde, in der zentrale Fragen zur Gestaltung und Einführung eines digitalen Euro geklärt werden sollen. Die Untersuchungsphase wird Fokusgruppen, Prototyping und konzeptionelle Arbeit umfassen. Im Februar 2022 kündigte die Europäische Kommission an, dass sie einen Gesetzentwurf vorlegen wird, der als Rechtsgrundlage für die Ausgabe eines digitalen Euro durch die EZB dienen soll. Im Mai 2022 erklärte Christine Lagarde, dass sie bereit wäre, den digitalen Euro zu unterstützen. Die EZB wird voraussichtlich 2023 mit einem Pilotprojekt für den digitalen Euro beginnen.“
Nun stellt sich zwangsläufig die Frage, welche Gründe es für eine derart tiefgreifende Transformation des Geldsystems gibt und welche Auswirkungen sie haben könnte. Auch hier hilft der Atlantic Council weiter:
„Es gibt viele Gründe, digitale Währungen zu nutzen, und die Motivation der verschiedenen Länder für die Ausgabe von CBDCs hängt von ihrer wirtschaftlichen Situation ab. Einige gängige Beweggründe sind: Förderung der finanziellen Inklusion durch einfachen und sicheren Zugang zu Geld für Bevölkerungsgruppen, die keine oder nur wenige Bankkontakte haben; Einführung von Wettbewerb und Widerstandsfähigkeit auf dem inländischen Zahlungsmarkt, der möglicherweise Anreize benötigt, um einen billigeren und besseren Zugang zu Geld zu bieten; Steigerung der Effizienz im Zahlungsverkehr und Senkung der Transaktionskosten; Schaffung von programmierbarem Geld und Verbesserung der Transparenz der Geldströme; und Gewährleistung eines lückenlosen und einfachen Verlaufs der Geld- und Finanzpolitik.“
China: E-Yuan ausgeben, aber totalüberwacht
Auch auf der Webseite der EZB werden vor allem die positiven Aspekte und Chancen, die sich durch die Einführung von digitalem Zentralbankgeld eröffnen würden, betont. Allerdings wirkt die Eigenwerbung auf ihrer Startseite in Anbetracht der derzeit deutlich spürbaren Inflation wenig vertrauensbildend, denn dort heißt es: „Wir bei der Europäischen Zentralbank (EZB) sorgen dafür, dass die Preise im Euroraum stabil bleiben. Warum wir das tun? Damit Sie mit Ihrem Geld morgen noch genauso viel kaufen können wie heute.“ Zum digitalen Euro wird bekräftigt:
„Auch ein digitaler Euro wäre ein Euro, genau wie Banknoten, nur eben digital. Er wäre eine elektronische Form von Geld. Das Eurosystem (die EZB und die nationalen Zentralbanken des Euroraums) würde ihn ausgeben. Privatpersonen sowie Unternehmen könnten damit bezahlen. Bargeld würde durch einen digitalen Euro nicht ersetzt, sondern ergänzt. Das Eurosystem wird auch in Zukunft dafür sorgen, dass Ihnen überall im Euroraum Bargeld zur Verfügung steht. Mit einem digitalen Euro würde eine weitere Zahlungsart zur Auswahl stehen. Er würde das Bezahlen vereinfachen und so zu Verfügbarkeit und Inklusion beitragen.“
Und daneben wird ein Zitat Lagardes eingeblendet: „Unsere Arbeit soll sicherstellen, dass Privatpersonen und Unternehmen im digitalen Zeitalter weiterhin Zugang zur sichersten Form von Geld haben: Zentralbankgeld.“ Wenn das Zentralbankgeld genauso erfolgreich umgesetzt wird wie die Bekämpfung der Inflation, ist zumindest Skepsis angebracht.
Ein Blick nach China nämlich illustriert, welche weniger erfreulichen Auswirkungen digitales Zentralbankgeld haben könnte, vor allem dadurch, dass es programmierbar wäre. In einem Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung vom 27. Januar 2021, dessen Autor dem Zentralbankgeld grundsätzlich gewogen scheint, wird ein konkretes Pilotprojekt beschrieben, das in Chengdu, der Hauptstadt der Provinz Sichuan, durchgeführt worden ist: Ausgelosten Teilnehmern wurde dort ein digitaler roter Umschlag auf ihr Smartphone gesendet. Den darin als E-Yuan enthaltenen Geldbetrag konnten sie bis zu einem bestimmten Datum in ausgewählten Geschäften und online ausgeben. Was sie nicht ausgaben, verfiel. Ein Bankkonto war zur Teilnahme nicht erforderlich, jedoch ein Smartphone und Zugang zum Internet. Allerdings wurde in China auch schon eine technische Lösung entwickelt, über zwei wenige Zentimeter voneinander entfernt liegende Smartphones ohne Internet kontaktlos zahlen zu können. Auf diese Weise kann genau erfasst und gesteuert werden, wer wann, wo und wofür Geld ausgibt, und wie lange ein bestimmter Geldbetrag zur Verfügung steht.
Vollständig gläserne Bankkunden
Zu den Vorteilen, die beispielsweise darin bestünden, keine Geldautomaten mehr betreiben und keine Sicherheitsvorkehrungen für Geldtransporte mehr treffen zu müssen, würde auch zählen, dass die umfassende Transparenz des Geldflusses Behörden in die Lage versetzen würde, die Finanzierung von Terrorismus oder auch Steuerhinterzieher nachverfolgen zu können. Für den Bankkunden liegen die Nachteile jedoch auf der Hand: Er wäre vollständig gläsern. Und das kann schnell gehen. In einem Beitrag auf dem EZB-Blog vom 25. März 2021 mit dem Titel „Digitales Zentralbankgeld für die Menschen in Europa: für die Zukunft bereit sein“ wird etwa betont, dass es noch gar nicht entschieden sei, ob ein digitaler Euro überhaupt eingeführt werde. Ein gutes Jahr später ist genau dies offensichtlich schon beschlossene Sache.
Der digitale Euro solle laut EZB
„ein alternatives, modernes und sicheres Zahlungsmittel für die Europäerinnen und Europäer sein, hinter dem das Stabilitätsversprechen einer unabhängigen Zentralbank steht. Er würde als Basis und integraler Bestandteil moderner Zahlungsdienstleistungen fungieren, nicht als Gegenentwurf dazu. Der digitale Euro würde, sollte er eingeführt werden, den Schutz der Privatsphäre gewährleisten, und er wäre kostenfrei. Dank seiner Verfügbarkeit wäre es möglich, in jedem Winkel des Euroraums digital zu bezahlen.“
Klingt schön. Und noch wird in Europa wie aktuell in Bologna und geplant in Wien tatsächlich ausschließlich Wohlverhalten durch ein Punktesystem belohnt, noch wird unliebsames Verhalten ‒ anders als in China ‒ nicht sanktioniert, noch wird versichert, dass das Bargeld nicht abgeschafft werden soll, sondern der digitale Euro nur zusätzlich kommen würde: Doch wie glaubwürdig ist das?