Thilo Schneider / 06.05.2021 / 11:00 / Foto: Timo Raab / 24 / Seite ausdrucken

Germany in a Coffee-Mug

Falls Sie sich je gefragt haben, liebe Lesende und Leidende, warum angesichts der Impf- und Umweltbeschlüsse von Regierung und Bundesverfassungsgericht die Bürger nicht massenweise auf die Straße gehen und für ihre Grundrechte demonstrieren – hier ist die bittere und profane Antwort: weil es nicht um den Kaffeebecher geht.

Ich erinnere mich an den ersten Arbeitstag nach der Bundeswehr im Hause einer renommierten Versicherung in Frankfurt (…und nein, wenn Sie glaubten, „Stromberg“ sei Satire gewesen – war es nicht!), als ich, vorsichtig den Kaffeebecher balancierend, vor einem der ersten Personalcomputer Platz nahm. Mein neuer Arbeitskollege, ein alter erfahrener Innendienstmitarbeiter und so motiviert wie ein Grenzbeamter an der deutsch-dänischen Grenze, begrüßte mich mit dem Satz: „Drücken Sie nicht STRG-ALT-ENTF, sonst bricht das komplette System zusammen“. Und seitdem kreisten meine Gedanken sechs Monate um diese drei Tasten… Der zweite Satz, den ich an diesem Tag hörte, war der Satz: „Wo ist mein Kaffeebecher?“ Dieser kam von einer mir ebenfalls neuen Kollegin aus der Küche. Ich registrierte den Satz nur unbewusst, weil mir ja völlig egal war, wo ihr Kaffeebecher war. Aber nicht lange. Der Kopf einer üppig bestückten Mittdreißigerin ragte kurz durch die Bürotür und dann kam der Schlachtruf: „WAS MACHEN SIE MIT MEINER KAFFEETASSE?“

Nun, ich hatte mir in meinem jugendlichen Leichtsinn einfach irgendeinen Becher aus dem Küchenschrank über der Kaffeemaschine geholt, es standen ja genug drin. Ich hatte auch überhaupt nicht darauf geachtet, was es für ein Becher war, zumal es sich um einen schlichten hellblauen Becher unter vielen anderen schlichten farbigen Bechern gehandelt hatte. Wie hätte ich darauf kommen sollen, dass eine blaue Tasse bei einer Versicherung mit blauem Logo in irgendeiner Weise Privateigentum sein könnte? Und wer geht ins Büro und nimmt da seinen eigenen Becher mit? Mein neuer alter Kollege, der mir gegenübersaß, reckte den Kopf über den Bildschirm: „Das ist ja eine Unverschämtheit. Haben Ihnen Ihre Eltern nicht beigebracht, dass man fremdes Eigentum nicht einfach nutzt?“ Kurz war ich versucht, zu glauben, dass die beiden mich, den Neuen, einfach auf den Arm nähmen, aber die finsteren, leicht schäumenden Mienen verrieten mir, dass das hier kein Spaß war. Ich war so erschrocken, dass ich meine Eltern nicht verteidigen konnte, erst recht nicht, weil sie mir nie vermittelt hatten, dass das Benutzen mir fremder blauer Becher in Küchenschränken der Risikoprüfungsabteilungen von drögen Versicherungen ein Sakrileg in der Nähe der Kinderschändung bedeutete. Ich war erschrocken und entsetzt und spielte kurz mit dem Gedanken, STRG-ALT-ENTF zu drücken und mein restliches Leben als Musiker zu fristen.

Es war mein erster Tag und ich hatte keine 10 Minuten noch nicht gearbeitet und mich schon unbeliebt gemacht. Der Abteilungsleiter kam den Gang entlang, meinte „Guten Morgen“ und dann gleich „Guten Morgen, Herr Schneider, schön, dass Sie da sind“ und dann: „Haben Sie Ihren Platz schon eingerichtet?“, und statt meiner antwortete die Blondine giftig: „Hat er. Mit meiner Kaffeetasse!“ Da saß ich nun: Ausgebildeter Versicherungskaufmann mit leidlich gutem Abschluss und mutmaßlich mehr Fachkenntnis als die beiden Kaffeetassenbesitzer zusammen und fühlte mich wie Ursula von der Leyen bei Erdogan. Alleine und verletzt. In meiner Not tat ich das, was wohl jeder, der sich integrieren will, tut: Ich bat reumütig um Entschuldigung und Verzeihung. Ich gab offen zu, dass mir das Prinzip des individuellen Eigentums an einer in Gesellschaft weiterer farbiger Becher stehenden Kaffeetasse nicht geläufig gewesen ist und ich es nicht besser gewusst habe und dass ich die Tasse gerne spülen würde und Blondie zurückgeben würde und sie mir doch bitte erklären solle, welche Tassen ich benutzen dürfe und welche Tassen exklusive und individuelle Trinkgefäße der Kollegen wären, damit mir dies nicht einst erneut widerführe. Das stimmte die Eva Braun der Kaffeetassen milde und sie klärte mich über die grundbuchamtlich verbrieften Rechte an den einzelnen Tassen auf.

In der Mittagspause ging ich dann auf die Zeil und kaufte mir einen Becher mit „Depeche Mode“-Logo, die ich danach stolz den neuen Kollegen zeigte, natürlich mit dem Hinweis versehen, dass dies die exklusive „Thilo-Schneider-Tasse“ ist, aus der nur ich trinken darf. Damit war dann der Betriebsfrieden wiederhergestellt. An diesem Tag starb übrigens Franz-Josef Strauß. Was niemanden interessierte. Kaffeebecher waren wichtig.

Ich habe diese Affinität zur eigenen Tasse und zum Thema „Das haben wir immer schon so gemacht“ in einigen Firmen, sei es als Kunde, als Coach oder als Vorgesetzter, immer wieder erleben dürfen. Plausibel war mir das nie, denn die gleichen Leute, die in Hotels, Gaststätten und Buffets aus jedem x-beliebigen Glas und jedem x-beliebigen Becher trinken, werden an ihren Arbeitsplätzen zu Tassennazis. Ich weiß nicht, wie es in anderen Ländern ist – ich vermute jedoch, es handelt sich hierbei um eine deutsche Eigenart. Solange die eigene Kaffeetasse im Küchenschrank steht, ist alles andere nebensächlich. Und daher wird es hier erst eine Revolution geben, wenn der Individualbesitz von Kaffeebechern sozialisiert wird. Bis dahin kann durchregiert werden, egal von wem. Und ich vermute so ein wenig, dass Egon Krenz im Politbüro am Morgen des 9. November versehentlich aus der Tasse von Günter Schabowski getrunken hat. Solange dieses Volk noch alle Tassen im Schrank hat, macht es alles mit.

(Weitere beschriftete Tassen des Autors unter www.politticker.de)  

 

Von Thilo Schneider ist soeben in der Achgut-Edition erschienen: The Dark Side of the Mittelschicht, Achgut-Edition, 224 Seiten, 22 Euro.

Foto: Timo Raab

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g.schilling / 06.05.2021

In den 1970er Jahren war ich bei einem NATO-Verband in Belgien. Dort pflegten die britischen Soldaten für ihre Teetassen das gleich Ritual. Im Regal der Teeküche standen u.a. etwa 20 individuelle Tassen in verschieden Größen. Jeder Brite hatte “seine” Tasse und “seine” Teebeutel und man achtete streng darauf, dass eine heilige Ordnung gewahrt wurde.

Karsten Dörre / 06.05.2021

Uns zieht es wie Magneten zur Impfung, um endlich wieder frei leben zu dürfen - wenn wir weiter sozialen Abstand halten und Maske tragen. Ist doch ein guter Kompromiss zum schlimmen Jahr 2020.

Frances Johnson / 06.05.2021

Das ist irre, weil sehr treffend. Ich habe das im Kindergarten erlebt, wenn ich mal Spüldienst hatte. In unserer Klinik nahm jeder irgendeine Tasse. Ärzte waren sich damals zu gut für sowas. Wie es heute ist, weiß ich nicht. Der letzte Satz ist großartig. Es hat noch alle Tassen im Schrank, dieses Volk, macht alles mit, hat aber deswegen nicht mehr die wirklichen Tassen im Schrank. Wer sich um Kafffeetassen streitet, hat eben einen Hirnschaden. Wahnsinnig gut erkannt. Ich finde ja “Mahlzeit” auch gut. Wie alle um Punkt 12 in der Kantine anstehen und “Mahlzeit” sagten. Nur sowas kann einen Holocaust am anderen Ende des Spektrums organisieren. Stromlinienförmig, bis auf deren Kaffeetasse.

Gabriele H. Schulze / 06.05.2021

Ach, ich weiß nicht. Das hat sowas Vertrautes, ich werde schon ganz nostalgisch, in diesen Cancel-Zeiten, wo es dieses Land D bald nicht mehr geben wird. Gibt es eigentlich noch den Begriff “Sozialschränkchen”? Erinnere einen niedrigen Metallschrank im Großraumbüro in den Achtzigern. In selbigem waren Privattassen und Kaffeezubehör verstaut. Die frühmorgendlichen Liegenbesetzer am Pool, prä-Corona, fallen mir auch ein. Aber das ist vielleicht eine andere Baustelle.

Frances Johnson / 06.05.2021

Mal die zweite Tabelle in folgendem Stück von w-on ansehen und vor allem die letzte Spalte und dann die Überschrift dazu: “Baerbock hängt Laschet ab – Union auf historischem Tief”. Wirtschaft: Keine Partei/weiß nicht 31%, Gut durch die Corona-Krise führen: Keine Partei/weiß nicht: 52%. Flüchtlings- und Einwanderungspolitik: Keine Partei/weiß nicht: 43%. Digitalisierung: Keine Partei/weiß nicht: 56%. Usw. Meine Überschrift: Fast die Hälfte der Bürger weiß nicht weiter. Ich werde mein Abo bei dem Blatt übrigens kündigen, irgendwann ist mal ein Ende.

Silvia Orlandi / 06.05.2021

„Hoffentlich Allianz versichert“ gegen die Tassen mit den braunen Rändern im eigenen Haus.

sybille eden / 06.05.2021

Wenn man einem Volk die Mittel wegnimmt Eigentum zu bilden ,z.B. durch eine fast 50%ige Abgabenqoute, hält es sich ebend an der Kaffeetasse fest !

Andreas Rühl / 06.05.2021

Gibts einfach zu, Schneider, 1988 waren Sie noch Sozialist und gingen wie selbstverständlich davon aus, dass den Werktätigen das Eigentum an den Produktionsmitteln gehört (in einer Versicherung ist die Kaffeetasse vermutlich DAS Produktionsmittel schlechthin). Daher haben Sie sich so bedenkenlos die volkseigene Tasse gegriffen und mit volkseigenem Kaffee gefüllt. Kein Wunder, dass Sie sich in der FDP nicht einleben konnten - bei der Vergangenheit. Der echte Liberale riecht den Wendehals von weitem. Man sieht einfach, ob jemand mal lange Haare hatte und Marx im Kopf, da kann er die Haare noch so kurz schneiden. Selbst dem schließlich richtig fett gewordenen Joschka sah und sieht man bis heute an, woher er kommt. Sozen und Kommunisten altern eben auch anders, meistens werden sie zu richtigen Witzfiguren. Dass Sie sich eine depeche mode Kaffetasse gekauft haben, widerspricht meiner These zwar vollends. Das war doch was für Popper (wer an den Philosophen denkt, liegt falsch) und totale Weicheier! Aber mich täuschen sie damit nicht! Das sind die klassischen Techniken der Unterwanderung, der sozialistischen camouflage.

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