Um zu realisieren, wie bescheuert die Kritik der „kulturellen Aneignung“ ist, muss man das konsequent zu Ende denken: People of Colour dürfen dann weder Handy noch Internet nutzen, keine Autos fahren, keine Lifte betreten, keine Antibiotika einnehmen.
155 nach Christus schwärmte der griechische Autor Aelius Aristides für Globalisierung und kulturelle Aneignung. Entlang der Handelsrouten wurden Produkte getauscht, zu Hause kopiert und weiterentwickelt. „Cultural appropriation“ führte meistens zu einer Bereicherung und Beschleunigung des Fortschritts. Ohne diese gegenseitige Inspiration würden heute noch große Teile der Menschheit als Nomaden durch die Steppen ziehen, mit Holzspeeren ihr Mittagessen jagen und Emojis an die Höhlenwände malen. Einige würden bereits in der Bronzezeit leben, andere zum Mond fliegen.
Um zu realisieren, wie bescheuert die Kritik der „kulturellen Aneignung“ ist, muss man das konsequent zu Ende denken: People of Colour dürfen dann weder Handy noch Internet nutzen, keine Autos fahren, keine Lifte betreten, keine Antibiotika einnehmen. Und kein Nichtweißer dürfte „Give peace a chance“ singen. Denn all diese Errungenschaften wurden nun mal von Weißen vollbracht, aber kein Bleichgesicht käme auf die Idee, People of Colour die Nutzung ihrer kulturellen Leistungen übel zu nehmen.
Im Gegenteil: Es ist uns völlig egal, ob Nichtweiße jodeln, in Appenzeller Trachten herumlaufen oder Fondue essen. Wir sehen das eher als Kompliment. Und haben wir nicht selbst arabische Zahlen, Geometrie, Astronomie, Schießpulver, Papierherstellung, den Blues und vieles mehr übernommen?
Tanzen Sie Samba, kochen Sie indonesisch
Darf man sich morgen noch exotische Sprachen aneignen? Es ist schon erstaunlich, dass diese Absurditäten Universitäten erobern. Wie wohlstandsverdorben muss man sein, um solche „Probleme“ zu erfinden? Erleben wir nicht bereits in der Gastronomie, wie kulturelle Aneignung Speisekarte und Lifestyle bereichern?
Wer diese gegenseitige Befruchtung ablehnt, erschwert die Verständigung zwischen den Kulturen, grenzt sich ab und spaltet die Gesellschaft wie Rechtsextreme, die Fremdartiges ablehnen. Auch wenn die Motivation eine andere ist.
Die Welt ist nun mal bunt wie die Natur und hat nichts übrig für diesen totalitären Zeitgeist. Tragen Sie Dreadlocks, tanzen Sie Samba, kochen Sie indonesisch und schicken Sie Ihre Kinder in Indianerkostümen an die Fastnacht. Wenn jemand damit ein Problem hat, ist es sein Problem und nicht Ihr Problem.
Claude Cueni (66) ist Schriftsteller und lebt in Basel. Er schreibt jeden zweiten Freitag im BLICK, wo dieser Beitrag zuerst erschien. Zuletzt erschienen bei Nagel & Kimche die Romane „Genesis – Pandemie aus dem Eis“ und „Hotel California“.