Chaim Noll / 17.11.2021 / 06:10 / Foto: Achgut.com / 150 / Seite ausdrucken

„Folge nicht der Mehrheit zum Bösen“

Der jahrtausendealte Satz „Folge nicht der Mehrheit zum Bösen" hat seine Gültigkeit nie verloren. Es gibt keine Verpflichtung, der Mehrheit zu folgen. Sie kann in die Irre gehen. Dann zählen die wenigen, die den Mut hatten, einen anderen Weg einzuschlagen.

Wenn die selbst erklärte Mehrheitsgesellschaft zunehmend mit dem Mittel der Ausschließung, Verleumdung und Verfolgung Unliebsamer arbeitet, wenn abweichende Meinungen und oppositionelle Äußerungen mit spürbaren existenziellen Nachteilen verbunden sind, stellt sich dem Einzelnen die Frage, wie er in diesem Klima überlebt. Beliebteste Reaktion auf den „öffentlichen Druck“ ist die Anpassung. Man verstummt, unterdrückt den Zweifel in der eigenen Brust, man „hält sich raus“, lässt die lautstarke, sich als Mehrheit gerierende Gruppe gewähren, was in nicht wenigen Fällen zu einem erst passiven, dann aktiven Mitläufertum führt.

Der Vorteil dieser Haltung: Man wird allgemein akzeptiert, gefördert, genießt die finanziellen Segnungen des Mitmachens. Auf der anderen Seite schadet man der eigenen Gesundheit, wenn man starke und gefühlt gerechte Emotionen unterdrückt, man verkümmert menschlich und zerstört vielleicht das Beste in sich selbst. Das Problem ist seit uralten Zeiten bekannt, es wird schon in der Bibel behandelt und nicht erst durch den bekennenden Außenseiter Jesus, sondern bereits in den frühesten Texten des sogenannten „Alten Testaments“, den Mosaischen Büchern.

Eigentlich beschreiben diese Schriftrollen, deren älteste erhaltene Exemplare etwa zweieinhalbtausend Jahre alt sind, den Übergang aus einer nomadischen, für unsere Begriffe gesetzlosen, weitgehend gewalttätigen Lebensform in eine sesshafte, gesetzlich regulierte, um Humanität bemühte. Im Verlauf des Textes werden gesellschaftliche Strukturen aufgebaut, Gesetze für friedliches Zusammenleben erlassen, Verhaltensnormen entwickelt im Sinne des Allgemeinwohls. Es sind also keine anarchistischen Texte, sondern um Ordnung bemühte, keine Aufrufe zur persönlichen Willkür, sondern Regeln für ein harmonisches Miteinander. Es gibt starken Anpassungsdruck, bestärkt durch Androhung harscher Strafen für Gesetzesbrecher. Und doch heißt es im 2. Buch Mose 23,2 klipp und klar: „Folge nicht der Mehrheit zum Bösen“.

Ein starker Satz, ein Aufruf zur Verweigerung und zum Widerstand. Hier mit dem konkreten Fall einer durch die „öffentliche Meinung“ inspirierten falschen Anschuldigung gegen öffentlich Angeklagte verbunden. Der vollständige Satz heißt: „Folge nicht der Mehrheit zum Bösen, und sage in einer Streitsache nicht so aus, dass du Recht beugst, wenn du dich der Mehrheit anschließt.“ Damals erfolgten Gerichtsverfahren öffentlich, aber nicht in engen Gerichtssälen, die der Richter jederzeit, sollte Protest aufkommen, „räumen“ lassen kann, sondern in freier Landschaft, auf Marktplätzen oder in Amphitheatern, die Tausende fassten. Und bei solchen massenhaften Zusammenkünften entscheidet die „allgemeine Stimmung“.

Jüdischer Ehrgeiz: viele verschiedene Meinungen

Die Mächtigen jeder Gesellschaft wissen, wie man Stimmungen erzeugt, das gehört zu ihrem Handwerk, zum Handwerk der Macht. Heute geschieht es über Massenmedien, zum Beispiel über „öffentlich-rechtliche“ Fernsehsender, in denen nicht selten im Sinne des Machterhalts und eines – oft nur vorgeblichen – Mehrheitsinteresses offen gelogen wird (und für deren Erhalt die Belogenen sogar noch bezahlen müssen – auch die gezielte Erniedrigung gehört zum Handwerk des Machterhalts). Starke Strömungen öffentlicher Übereinstimmung werden erzeugt, durch gezielt ausgegebene Parolen und Denkmuster, denen sich der Einzelne, wie suggeriert wird, in seinem eigenen Interesse anzuschließen hat.

Für die Juden bilden die Mosaischen Bücher den Kompass ihrer Existenz. Die fünf Bücher werden im Verlauf jedes Jahres in der Synagoge einmal komplett gelesen, vom ersten bis zum letzten Wort, diese Gesetzeslesung ist seit der Rückkehr aus dem babylonischen Exil im sechsten vorchristlichen Jahrhundert schriftlich bezeugt (in den biblischen Büchern Esra und Nechemia) – seit rund zweieinhalb Jahrtausenden wird also auch immer der Satz im zweiten Buch, Vers 23, 2 laut vorgelesen: „Folge nicht der Mehrheit zum Bösen“. Das heißt nicht, dass ihm alle Juden gefolgt sind, dass alle Juden Helden des Widerstands waren, aber er stand doch immer als Forderung im Raum.

Wenn man sich fragt, wie die Juden viele Jahrhunderte einer Existenz als Außenseiter unter dem starken Druck repressiver Mehrheitsgesellschaften überstanden haben, warum sie geworden sind, wie sie heute sind, extrem überlebensfähig, flexibel, zu immer neuen Anfängen bereit, warum in diesem Volk Einzelgänger, Oppositionelle, Anders- und Querdenker immer eine Heimat haben, warum es jüdischer Ehrgeiz ist, immer und überall möglichst viele verschiedene Meinungen und möglichst viele „verrückte Einfälle“ zu haben, darunter Erfindungen, Erneuerungen und Problemlösungen, denen die Menschheit unendlich viel verdankt, dann muss man diesen seit Jahrtausenden immer wieder gelesenen Satz in Betracht ziehen: Folge nicht der Mehrheit zum Bösen. Es gibt keine Verpflichtung, der Mehrheit zu folgen. Sie kann in die Irre gehen. Dann zählen die wenigen, die den Mut hatten, einen anderen Weg einzuschlagen.

Ich erinnere daran in Tagen, in denen eine – oft nur dreist proklamierte – Mehrheit zum Fetisch erhoben wird und Abweichler, Andersdenkende, alle Arten „Verweigerer“ und „Leugner“ der Mehrheitsmeinung von Delegitimierung, Denunziation, Ausgrenzung und Verfolgung betroffen sind. Gerade in solchen Tagen sollte man der Mehrheit nicht folgen. Sondern die uralte Weisheit beherzigen, dass es sich oft außerhalb der Mehrheit besser leben lässt. Trotz aller Nachteile, aller Drohungen und Gefahren. Sie sind nicht von Dauer. Wie auch die Mehrheit nicht.

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Markus tho Pesch / 17.11.2021

Wichtiger Artikel. Allerdings ist der Michel ein Hasenfuß erster Güte..

Dieter Weingardt / 17.11.2021

Um 10 Gerechter Willen hätte Gott Sodom wohl verschont, sagt die Bibel und gibt damit zwei Hinweise. Zum einen auf die menschliche Natur, die sie als „Böse von Jugend auf“ realistischer einschätzt als das aktuelle traumtänzerische Jakobinat. Zum anderen, wie schwer es ist sich dem Sog der Masse zu widersetzen.

Walter Weimar / 17.11.2021

Man könnte auch sagen: Gegen den Strom zu schwimmen, um an die Quelle der Erkenntnis zu gelangen, macht alle mal mehr Spaß, als sich ins Meer der Dummen spülen zu lassen.

Nils Knospe / 17.11.2021

Habe in den Nachrichten gerade einen kurzen Ausschnitt gesehen, in dem sich der bekannte Philosoph Herr Nida-Rümelin zu den Coronaregeln äußert. Er sagt, es ginge dabei nicht um Ausgrenzung (oder so ähnlich), und es werde damit kein Völkermord vorbereitet. Man kann wohl davon ausgehen, dass er die richtigen Connections zu den richtigen Leuten hat - also die, die wissen wo es langgeht und die Entscheidungen treffen - und es klang auch ehrlich! Das ist doch schon mal nicht schlecht, oder?

Johannes Schuster / 17.11.2021

Bitte nicht falsch verstehen: Das ist der erste - wirklich - jüdische Text, den ich von Noll lese und ich habe ihn sehr sehr gerne gelesen ! Ohne Gott und die fünf Bücher des Logos sind wir in einem Meer aus Galle nicht zu retten. Was Jesus angeht: Jesus ja, Christus: Nein, denn das eine ist eine Spielart des Judentums und das andere ist eine “Maßnahme Roms” und von Regelungen und Maßnahmen habe ich so ungesund genug, wie wenn man keine drei Stunden wartet um nach dem Rinderbraten das Eis zu essen, wobei ich mir immer nicht eins bin, ob es das Gewissen ist oder tatsächlich die Verdauung, die dann grummelt. Noch einmal vielen vielen Dank für den Text und bitte mehr Inhalte aus der Thora vorstellen, ich würde mich sehr freuen, ja endlich mal freuen und nicht bloß kommentieren in der Mode des Themas. Zuviel über Corona reden ist ja auch irgendwann praktischer Götzendienst. Erzählen Sie doch einmal etwas aus den Inhalten in der Synagoge und stellen Gespräche mit Rabbinern vor um hier die Lese ein wenig in die Wüste mit zu nehmen um in der Kargheit in aller Fülle nur reicher zu sehen ! Ich unterhalte mich definitiv lieber über die fünf Bücher als über jede irre Mode der Zeit.

T. Weidner / 17.11.2021

Werter Herr Noll - eine kluge Aussage, an die sich allerdings auch die Mehrzahl der Israelis halten sollte. Denn wer sämtliche Errungenschaften von Arzneimittelsicherheit diktatorisch schleift - folgt auch einem Fetisch…

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