Von Georg Etscheit.
Ich bin schwul. Ob das gut so ist, weiß ich nicht. Es ist eben so. Allerdings ist das Bessere der Feind des Guten. Und früher war es besser, das Schwulsein, davon bin ich überzeugt. Zum einen war man jung, aber das Älterwerden trifft auch Heteros und alle anderen Was-weiß-ich-wie-viele-Geschlechter. Zum anderen war man als Homosexueller noch etwas Besonderes. Man durfte sich gewissermaßen als Angehöriger einer Geheimgesellschaft fühlen, eines verschworenen, von der Mehrheitsgesellschaft diskriminierten und verfolgten Ordens mit speziellen Codes, die den Nicht-Eingeweihten unverständlich blieben. Es waren die Zeiten, als man einen möglichen Sex- oder Lebensabschnittspartner noch am Ohrring erkennen konnte: „Links cool, rechts schwul“, hieß es.
Doch spätestens seit die Zugbegleiter der Deutschen Bahn durch die Bank mit Stecker im Ohr die Karten knipsten, ist der Informationswert dieser klandestinen Form männlichen Körperschmucks gleich null. Den Hankycodes – zusammengefalteten, bunten Taschentüchern in einer der Gesäßtaschen, die dem Kundigen Auskunft gaben über zum Teil bizarre sexuelle Vorlieben – ist es ähnlich ergangen, seit man im Internet seine Präferenzen auf die Zehntelperversion genau differenzieren kann in der Hoffnung, der Algorithmus – früher nannte man es Zufall – möge einen Match finden.
Dies vorab: Ich sehne mich keineswegs in Zeiten zurück, als Homosexualität unter schwerer Strafandrohung stand, als Schwule und Lesben zum gesellschaftlichen Abschaum zählten und ins Gefängnis oder ins Lager gesperrt wurden und dort oft unsägliche Qualen erleiden mussten. Nein, diese Zeiten sind glücklicherweise und hoffentlich ein für allemal vorbei.
Aber um stinknormal zu sein, habe ich mich nicht jahrelang mit meinem Coming-out herumgequält. Der Lohn der Plackerei, „es“ endlich anzunehmen und danach zu leben, war immerhin ein wenig auch das Gefühl der Exzeptionalität. Psychologen würden von Krankheitsgewinn sprechen, wobei nur noch die eingefleischtesten Freudianer Homosexualität für eine Krankheit beziehungsweise Neurose halten.
Dreimal schlich man um den Block herum
Als ich meine kurze Karriere in der schwulen Szene begann, musste man an den für Männer reservierten Bars noch klingeln, um hereingelassen zu werden. Manchmal erkannte man die betreffenden Etablissements von außen auch gar nicht, nur eine rote Lampe schwebte über dem Eingang. Dreimal schlich man um den Block herum, bis man endlich wagte, Einlass zu begehren. Oder man ging frustriert wieder nach Hause, weil man wieder mal keinen Mumm gehabt hatte. Oh Gott, war das verrucht!
Auf dem Land hießen solche Kneipen „Harlekin“ oder „Chapeau Claque“ und erinnerten an Zeiten, in denen man Schwul- oder Lesbischsein noch mit Künstlertum tarnen musste. Verrückte Künstler durften schließlich alles oder zumindest mehr als Normalos. Im liberalen Berlin hatten Schwulenlokale dagegen schon früh programmatische Namen wie das berühmte „Café anderes Ufer“ an der Schöneberger Hauptstraße. Wenn die Heteros ins Kranzler pilgerten oder ins Einstein, hingen die Homos im „Ufer“ ab, manchmal, um einen Kaffee zu trinken, meist, um jemand abzuschleppen.
Die legendären Anlaufpunkte der „Szene“, darunter auch das „Ufer“, gibt’s nicht mehr, weil sich die schwule und lesbische Partnersuche fast komplett ins Internet verlagert hat. Und Corona macht gerade den allerletzten einschlägigen Adressen den Garaus. Doch schuld ist nicht nur der technische Fortschritt, sondern auch und vor allem die Antidiskriminierungspolitik, maßgeblich gefördert von den Grünen. Wozu braucht es für etwas so Stinknormales wie Homosexualität noch besondere Treffpunkte?
Als ich vor ein paar Jahren meine erste Einladung zu einer „Schwulenhochzeit“ erhielt, hatte ich das Gefühl, dass mit der Emanzipation etwas schief läuft und zwar grundlegend. Der Bräutigam, jedenfalls einer von beiden, berichtete in seinem Einladungsschreiben, er habe auf irgendeiner Heterohochzeit „den Brautstrauß aufgefangen“ und dies als himmlisches Zeichen gesehen, jetzt mit seinem Mann ebenfalls in den Stand der Ehe zu treten.
"Musterschüler eines bürgerlichen Spätkapitalismus"
Ich verzichtete darauf, der Veranstaltung beizuwohnen, die irgendwo im Oberbayerischen stattfand und bei der es sicher recht zünftig zuging, eingeschlossen alte Hochzeitsbräuche wie das Reiswerfen, das dem Brautpaar eine fruchtbare Ehe mit vielen Kindern bescheren soll. Was das bei einer Homohochzeit zu suchen hat, außer vielleicht als ironisches Zitat, erschließt sich mir nicht. Und hatten „wir“ uns nicht einmal gesellschaftliche Vielfalt auf die Regenbogenfahnen geschrieben? Waren „wir“ nicht angetreten, um alte Zöpfe abzuschneiden und ganz neue Beziehungsformen zu leben?
Und jetzt können viele Homos nicht schnell genug unter die Haube kommen, einschließlich behördlichem und – je nach Geschmack – auch kirchlichem Segen und dem im mann-männlichen Zusammenhang völlig sinnentleerten Brimborium von Polterabend bis Bräutigam-Entführung: „Hiermit erkläre ich Sie zu Mann und Mann.“ Ich muss gestehen, dass mich bei diesem Satz heftiges Unwohlsein befällt.
„Der oder die Homosexuelle war in den 1960er Jahren ein Gegenpol zur Gesellschaft (…). Das hat sich mittlerweile normalisiert, eigentlich verzerrt übernormalisiert“, schreibt der österreichische Soziologe Karl Kollmann in einem lesenswerten Buch. „Konnten sich vor 50 Jahren bekennende Homosexuelle, die zweifellos gesellschaftlich krass benachteiligt, bedrängt und geächtet wurden, als Fanal des Ungehorsams gegenüber dem Mainstream, der heterosexuellen Anpassung, Gleichrichtung und verlogener Kultur darstellen, so wirken sie heute mit ihren Integrationsbestrebungen, etwa der Ehe und Kinderadoption, als Musterschüler eines bürgerlichen Spätkapitalismus.“
Ich habe die Homoehe von Anfang an abgelehnt. Natürlich gilt: gleiche Rechte (und Pflichten) für alle. Aber den Heteros mit ihren marginalen 97 Prozent Bevölkerungsanteil den Ehebegriff streitig zu machen, war pure Rechthaberei. Man hätte es auch bei der eingetragenen Partnerschaft belassen können ohne den jahrelangen Kampf um Worte und den krampfigen Schmus auf dem Standesamt. Und ob sich ein katholischer oder evangelischer Priester weigert, ein gleichgeschlechtliches Paar zu segnen oder nicht, ist mir völlig egal. Erstens ist Religion Privatsache. Zweitens verlange ich von niemandem, dass er mich liebt. Mir reicht es, wenn die Leute die Gesetze befolgen, mich wegen meiner partiellen Andersartigkeit nicht beleidigen, verletzten oder totschlagen. Das war immer das Problem der Homo-Aktivisten: Sie wollten nicht Respekt oder Toleranz, was ja nur so viel heißt, wie etwas auszuhalten, was einem nicht schmeckt, sondern Liebe! Welche Hybris!
Müssen „wir“ den Heteros denn alles nachmachen?
Noch ein Wort zur Frage der von linksgrünen Wohlmeinenden und den meisten Medien gepriesenen „Regenbogenfamilie“. Ich habe keine Einwände gegen die Stiefkindadoption und auch nichts dagegen, wenn schwule und lesbische Paare nicht-leibliche Kinder annehmen, wie es seit Einführung der Homoehe möglich ist. Aber auch hier gilt: Müssen „wir“ den Heteros denn alles nachmachen? Ist es nicht auch ein Freiheitsgewinn, keine Kinder haben zu müssen? Und muss man im Zweifelsfall, das gilt für Homo- wie Heteropaare, immer alle Hebel der Reproduktionsmedizin in Bewegung setzen, um sich den je eigenen Kinderwunsch zu erfüllen?
Mich graust, wenn ich mir vorstelle, dass irgendwann in näherer Zukunft aus Stammzellen eines Mannes eine Eizelle oder aus denen einer Frau eine Samenzelle geformt werden kann, eine Technik, die dann auch gleichgeschlechtlichen Paaren „vollwertige“, gemeinsame Kinder ermöglichte. Ausgetragen werden diese Geschöpfe der Gentechnik und eines grenzenlosen hedonistischen Voluntarismus von Leihmüttern aus Indien, solang jedenfalls, bis noch keine künstliche Gebärmutter zur Verfügung steht. Dem „queeren“ Familienglück stünde dann nichts mehr im Wege, außer der Frage, ob man sich das finanziell leisten kann.
Eigentlich sind es die heutigen Mainstream-Homos, die Andersartigkeit nicht aushalten können. Und mit ihrer spießigen Gleichmacherei, exekutiert von wohlbestallten Genderpolitikern und Gleichstellungsbeauftragten, haben sie dem Phänomen der gleichgeschlechtlichen Liebe jeden Thrill geraubt. Auf dem weiten, unbestimmten Feld der Sexualität ist die völlige Abwesenheit von Regeln, vulgo Tabus, genauso öde wie rigides Pochen auf deren Einhaltung. Interessant ist die Grenzüberschreitung, das Schillernde und Changierende, die Grauzone, der Nebel, die Andeutung, das Vor- und Zurückweichen. Jeder, der mal Kind war, weiß es: Nichts ist so unwiderstehlich wie das Verbotene.
Die Homepage von Georg Etscheidt finden Sie hier.
Literaturhinweis: Karl Kollmann. Die neuen Biedermenschen. Von der 68er-Revolution zum linksliberalen Establishment. Wien (2020)