Die übereifrigen Deutschen: „Wie wir wurden, was wir sind“

Von Deborah Ryszka.

Dass die Deutschen Weltmeister beim Moralisieren sind, wissen wir spätestens seit der Flüchtlingskrise 2015. Damals erwarteten meist links-grüne Träumer die Neuankömmlinge mit offenen Armen. Sie verlangten geradezu mit ihren „Welcome refugees“-Bannern nach den Flüchtlingen. Ohne an die Konsequenzen zu denken. Für Deutschland, für Europa, für die Welt.

Wie Süchtige ihren Stoff brauchen, so brauchten die Deutschen ihre Flüchtlinge – und eben auch Greta Thunberg. Wäre Deutschland polytheistisch geprägt, stiege Thunberg zur Göttin des Klimas auf. Vermutlich würden Göttin Gretas Statue und ihr Tempel auf dem neu zu konzipierenden Schlossplatz in Berlin erstrahlen. Wo früher Kaiser Wilhelm thronte, mahnte nun das Mädchen mit den beiden Zöpfen.

Aber: Warum sahen und sehen sich so viele Deutsche als Menschen- und Weltretter? Woher rührt dieser moralische Eifer, andere belehren und bekehren zu wollen? Heinrich August Winkler gibt in seinem neuen Buch „Wie wir wurden, was wir sind“ Aufschluss. Seine Antwort: eine falsche Vergangenheitsbewältigung, aus der eine ideologisch-fanatische Wiedergutmachung und Hybris resultiert.

Der Dreißigjährige Krieg war die nationale Katastrophe schlechthin

Im Detail bedeutet dies: Deutschland hatte es in seiner Vergangenheit nicht leicht. An einem nationalen Selbstverständnis fehlte es der deutschen Nation stets, an nationalen Kränkungen umso weniger. Und diese Niederlagen gehen bis zum Dreißigjährigen Krieg zurück. Das Ende dieses Krieges war DIE nationale Katastrophe schlechthin. Deutschland sollte sich hiervon nie so recht erholen.

Genauso wenig wie vom Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation im Jahre 1806. Damals unterlag Preußen den Franzosen unter Napoleon Bonaparte. Die Streitigkeiten innerhalb Deutschlands, ob nun eine kleindeutsche oder großdeutsche Lösung angestrebt werden sollte, spaltete die Nation. Doch auch „[die] Gründung der deutschen Nationalstaaten [nach dem deutsch-französischen Krieg 1870/1871] bedeutete weder den Beginn noch das Ende der Nationalbildung in Deutschland“.

Die Konsequenz? Der Weltgeltungsdrang Deutschlands verantwortete hauptsächlich den Ersten Weltkrieg und somit das Ende des deutschen Kaiserreiches. Mit der Weimarer Republik begann ein neues Kapitel in der deutschen Geschichte. Doch die unausgereifte neue republikanische Verfassung im Kombination mit Kriegsschulden und Problemen der neuen Regierung, innerländischen Aufständen und der Weltwirtschaftskrise ermöglichten die Machtergreifung Adolf Hitlers.

Die „deutsche Urangst vor Chaos und Bürgerkrieg“ half Hitler, einen deutschen Staat unter schwarz-weißer Reichsflagge und Hakenkreuzfahne aufzubauen. Diese Reichsmythosfantasie kulminierte schließlich im Zweiten Weltkrieg. In Europa endete der Schrecken mit der Niederlage Deutschlands am 8. Mai 1945.

Die Mauer in den Köpfen blieb

Doch nichts war, wie es vorher war. Ein Teil Deutschlands wurde zwangsdemokratisiert. Die andere Hälfte Deutschlands zwangsverstaatlicht. Sowohl BRD als auch DDR bewältigten die Gräueltaten der nationalsozialistischen Herrschaft auf ihre eigene Art. Gleiches galt auch für die nationale Selbstfindung beider deutscher Staaten. Von einem deutsch-deutschen Selbstverständnis war Deutschland wieder weit entfernt. Eine Einigung schien in weite Ferne gerückt.

Doch am 9. November 1989 geschah, was die wenigsten vermuteten. Die deutsche Mauer fiel. Deutschland war 1990 wieder vereint. Zwar fiel die innerdeutsche Mauer, aber die Mauer in den Köpfen blieb. Und mit dieser nationalen Belastung galt es nun zusätzlich europäische Fragen zu klären. Die BRD kannte sich bereits europapolitisch aus. Aber nicht als vereintes Deutschland.

Deutschland und Europa im Selbstfindungsprozess? Das kann nicht gutgehen. Und es ging nicht gut. Die Weltfinanz- und Schuldenkrise 2008 brachte die bestehenden, gärenden Konflikte zwischen den europäischen Staaten hervor. „Mit den Spannungen innerhalb der Währungsgemeinschaft wuchsen auch die nationalen Ressentiments.“

Der Protestantismus nimmt eine gefährliche Rolle ein

Der deutsch-österreichische Alleingang bei der Flüchtlingspolitik ließ den deutschen und europäischen Kessel so richtig dampfen. In Deutschland etablierte sich die AfD als europaskeptische und flüchtlingspolitisch-kritische Partei. Die Briten stimmten am 23. Juni 2016 für den „Brexit“. Beides Folgen einer fatalen, von Deutschland geleiteten Flüchtlingspolitik.

Und einer „moralischen Selbstüberhebung der Deutschen“. Eben diese deutsche Hybris schreckt nicht davor zurück, die Geschehnisse der nationalsozialistischen Vergangenheit für ihre eigenen politischen Zwecke zu instrumentalisieren. Das ist gefährlich. Gefährlicher aber scheint die Rolle, die der Protestantismus hier einnimmt. Denn dieser unterstützt diese Form der moralischen Instrumentalisierung. Und fördert somit „[die] deutsche Neigung zum Wunschdenken“.

Was das für die deutsche Coronapolitik bedeutet? Das kann der Historiker Winkler noch nicht sagen. Zu früh ist es für eine Diagnose. Jedoch gibt es Hinweise. Hinweise, die für eine Renationalisierung europäischer Staaten sprechen. „Eine weltweite Rückkehr des nationalen Protektionismus wäre vor allem für ein so stark exportorientiertes, auf einen florierenden Außenhandel angewiesenes Land wie Deutschland verhängnisvoll.“

So sachlich und nüchtern Winkler mit seinen Betrachtungen beim Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation und seiner Gründung im Jahre 1512 beginnt, so spannend und hochexplosiv endet der Autor mit seinen Beobachtungen und Schlussfolgerungen zur aktuellen Lage Deutschlands. 232 Seiten, die nicht ungelesen bleiben dürfen!

Manch einem Leser, meist aus links-grünen Kreisen, werden Winklers Thesen nicht gefallen. Diesen sei zu erwidern: Das Leben ist kein Ponyhof! So ist die Wirklichkeit. Entweder man akzeptiert das und handelt verantwortungsvoll. Oder man lebt in seinen Luftschlössern, verliert den Bezug zur Realität und verursacht Schäden. Die deutsche Geschichte liefert uns genügend fatale Beispiele. Wir sollten aus unserer Vergangenheit lernen und nicht die gleichen Fehler wiederholt begehen.

Oder mahnend mit Heinrich Heine enden, den auch Winkler zitiert:

„Franzosen und Russen gehört das Land,
Das Meer gehört den Briten.
Wir aber besitzen im Luftreich des Traums
Die Herrschaft, unbestritten.
Hier üben wir die Hegemonie,
Hier sind wir unzerstückelt;
Die anderen Völker haben sich
Auf platter Erde entwickelt.“

„Wie wir wurden, was wir sind“ von Heinrich August Winkler, 2020, München: C.H. Beck, hier bestellbar.

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Marco Artico / 17.09.2020

Der Protestantismus war tatsächlich die erste und schwerste Ursünde der Deutschen an der westlichen Zivilisation. Der Schaden war danach faktisch nie wieder gutzumachen.

Gerd Heinzelmann / 17.09.2020

“zwangsdemokratisiert” gefällt mir nicht. Habe ich Sie schon mal zwangsdemokratisiert? Achten Sie bitte auf Ihre Wortwahl.

Jakob Mendel / 17.09.2020

Ich bitte in folgenden Punkten um Aufklärung: a) „[…] half Hitler, einen deutschen Staat unter schwarz-weißer Reichsflagge […]“ – schwarz-weiße Reichsflagge?; b) „Der deutsch-österreichische Alleingang bei der Flüchtlingspolitik [2015]“ – Was ist mit „österreichisch“ gemeint?; c) „beim Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation und seiner Gründung im Jahre 1512“ – Wie meinen?

Rainer Niersberger / 17.09.2020

Da ist ohne Zweifel einiges richtig analysiert, aber vermutlich noch nicht ganz vollständig. Denn abgesehen von diesen Neurosen und dem Junkie erhalten gibt es natuerlich noch weitere, spätere Einflüsse, wie wir sie durchaus auch in anderen westlichen Ländern bzw. Gesellschaften sehen. Allen voran Schweden oder die USA, wo derartige Phaenomene keine Rolle spielen duerften, wobei in den USA mit einem anders hergeleiteten Schuld - und Erloesungskult operiert wird. Es gibt offensichtlich auch menschliche Konstanten, die kulturell relativ leicht getriggert werden koennen und dann fuer MachthaberInnen und ihre Narrative eine ideale Basis fuer den späteren Totalitarismus darstellen. Auch die Sympathie fuer De - und Neukonstruktion, fuer Aberglaube und Geschichten weisen auf Entwicklungen im Westen hin, die allein historisch nicht zu erklären sind. Da muesste man die Ansätze von Maatz und anderen zu psychischen Deformitaeten noch dazunehmen, den Wunsch nach Vollkommenheit gepaart mit dem zunehmendem Zweifel an sich selbst, die Ich-schwaeche, die ihr Heil in der Flucht in den Kollektivismus und seinen vermeintlich haltsstiftenden Orientierungen sucht. Die Instabilität des Indivuums, die Infantilisierung als Flucht aus der Selbstverantwortung sind Folgen einer psychokulturellen Entwicklung in den letzten Jahrzehnten, die hierzulande leider perfekt durch die zutreffenden Feststellungen von Winkler ergänzt werden. Das Ergebnis sehen wir. Die Lösung, eine individuelle und kollektive Therapie, steht aus und ist nicht zu erwarten, weil von polit medialen Dealern und ihren Junkies ohne Ersatz nicht gewünscht.

F. Auerbacher / 17.09.2020

Ich bin der psychologischen Analysen des deutschen Wesens sowas von überdrüssig. Jeder zweite Hobbypsychiater meint feststellen zu können, was denn “die Deutschen” so an der Klatsche haben. Selbst wenn man dabei bis zum dreißigjährigen Krieg zurückgreifen muss. Frage: Wer braucht sowas?

R. Tesse / 17.09.2020

Sehr geehrte Frau Ryszka, made my day: ‘’... den AUCH Winkler zitiert: ...’‘. Wo sie recht haben, ...

Martin Johannes Marhoff / 17.09.2020

Schauen Sie mal nach Kanada. Dort wird die “Willkommenskultur” für Flüchtlinge noch weit heftiger betrieben. Mit Ihrer Anmaßung, zu wissen wie wir Deutschen seien, verhalten Sie sich genauso überheblich moralisierend, wie das die von Ihnen getadelten, angeblich immer machen. Von diesen stereotypen “Deutschlandanalysen” habe ich mittlerweile genug.

Martin Schmitt / 17.09.2020

“Der Dreißigjährige Krieg war die nationale Katastrophe schlechthin” - kann man unterschreiben. Aber das was den Deutschen in Zukunft widerfahren wird, wenn man die ganzen Moslems nicht mehr alimentieren kann bzw. deren Anzahl sich noch gesteigert hat - dagegen wird der 30jährige Krieg in Summe mit WK II. wie ein Kindergeburtstag wirken ( ist übertragbar auf fast alle europäischen Nationen).

Weitere anzeigen Leserbrief schreiben:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Deborah Ryszka, Gastautorin / 10.03.2024 / 15:00 / 7

Kultur-Kompass: „Was heißt denken?“

Der Reclam-Verlag hat den Vorlesungs-Zyklus „Was heißt Denken?“ von Martin Heidegger neu aufgelegt. Was hat es damit auf sich? „Wes Brot ich ess’, des Lied…/ mehr

Deborah Ryszka, Gastautorin / 11.02.2024 / 16:00 / 8

Kultur-Kompass: Deutschland kann nicht gut mit Krise

Sobald es etwas ungemütlich wird, wirtschaftlich, sozial, kulturell, verliert Deutschland die Nerven. Dass das eine typisch deutsche Eigenheit zu sein scheint, veranschaulicht Friedrich Meinecke in…/ mehr

Deborah Ryszka, Gastautorin / 25.12.2023 / 16:00 / 3

Kultur-Kompass: „La notte italiana“

Anfang Januar feiert das Stück „La notte italiana – Reise ans Ende der Gleichgültigkeit“ von Mario Wurmitzer in Wilhelmshaven Premiere. Er persifliert als junger Autor…/ mehr

Deborah Ryszka, Gastautorin / 03.12.2023 / 16:00 / 6

Kultur-Kompass: „Pornographie“

Pornographie umgibt uns in der heutigen Zeit überall. Vor sechzig Jahren galt das noch nicht als selbstverständlich. Aus dieser Zeit stammt der bemerkenswerte Roman „Pornographie“…/ mehr

Deborah Ryszka, Gastautorin / 29.10.2023 / 15:00 / 4

Kultur-Kompass: „Die Deutschen und die Revolution“

Die Deutschen können nicht Revolution? Von wegen! Das zeigt einer der renommiertesten Historiker Deutschlands, Heinrich August Winkler, in seinem neuesten Geschichtsbändchen „Die Deutschen und die…/ mehr

Deborah Ryszka, Gastautorin / 10.09.2023 / 14:00 / 5

Kultur-Kompass: „Tierleben“

Zeit-Kolumnist Jens Jessen und „Grüffelo“-Schöpfer Axel Scheffler haben sich für den Essayband „Tierleben. Oder: Was sucht der Mensch in der Schöpfung?“ zusammengetan. Texte und Zeichnungen…/ mehr

Deborah Ryszka, Gastautorin / 03.09.2023 / 14:00 / 8

Warum sich künstlerische Qualität selten durchsetzt

Sie wundern sich über die Banalität moderner Kunst und Kultur? Das ist jedoch keine neue Entwicklung. Schon vor 100 Jahren schrieb Levin L. Schücking die…/ mehr

Deborah Ryszka, Gastautorin / 09.07.2023 / 16:00 / 6

Kultur-Kompass: „Die Veredelung der Herzen“

Der junge österreichische Dramaturg Moritz Wurmitzer hält in seinem Stück „Veredelung der Herzen“ den gesellschaftlichen Eliten den Spiegel vor, ohne gleichzeitig politisch zu ideologisieren. Es…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com