Derzeit erleiden Städte einen heftigen Imageverlust. Wer Videos von der jüngsten Randale in Paris gesehen hat, will dort nicht mehr sein, noch nicht einmal als Tourist. Unter Paris als Stadt der Liebe stellt man sich was anderes vor. Die Touristikbranche klagt über massenhafte Stornierungen.
Stadtluft macht frei! Oh ja. Weg aus der miefigen Enge der Provinz, aus dem Kontrollbereich der Nachbarschaft, hinaus in die Ferne und ins Freie. Ist schon eine Weile her, dass ich geflohen bin, und ich erinnere mich geradezu nostalgisch verklärt an Hamburg und Frankfurt am Main im vergangenen Jahrhundert, an die Musik- und Kneipenszene, an Gegenkultur und Eroberung der Nacht. Da, wo die Bürger ihre Stadt aufgegeben hatten, in den zum Abbruch bestimmten Altbauvierteln, war Platz für Alternatives.
Heute sind die verbliebenen Altbaubestände oft liebevoll restauriert und teuer vermietet, mancherorts, wie in Frankfurt am Main, wurde ein ganzes Altstadtviertel nachgebaut. Und doch scheinen viele Städte ihre Seele nicht wiedergefunden zu haben, vor allem nicht, nachdem die Coronapanikpandemie Kneipen und Kleingewerbe ruiniert hat. Und die Gegenkultur findet mittlerweile in No-Go-Areas statt, in der Zugezogene ihre eigene Kultur aggressiv gegen die einst angestammte abschotten.
„Stadtluft macht frei“ galt früher ganz wörtlich: Leibeigene konnten sich durch Flucht in die Stadt von ihrer Dienstherrschaft befreien. In einer Stadt lässt sich leichter in der Menge untertauchen, und man kann sich gegebenenfalls in größerer Zahl zusammenrotten. Aufstand, Revolution und Randale sind städtisch. Keine Freiheit ohne Risiko.
Wieder einmal ist die Provinz fein raus
Doom and Gloom! Werden Städte nun wieder zu jenem Sündenpfuhl, vor dem die Altvorderen einst gewarnt haben? Zu einem heruntergekommenen Tummelplatz für Ali the Ripper? Was Neues wäre das nicht. Und es muss auch nicht so bleiben. Derzeit aber erleiden Städte einen heftigen Imageverlust. Wer Videos von der jüngsten Randale in Paris gesehen hat, will dort nicht mehr sein, noch nicht einmal als Tourist. Unter Paris als Stadt der Liebe stellt man sich was anderes vor. Die Touristikbranche klagt über massenhafte Stornierungen.
Wieder einmal ist die Provinz fein raus. Paris ist weit weg vom Vivarais, einem Landstrich, der einst den gallischen Krieg erleben durfte. Und das ist auch gut so: Paris ist hier nicht sonderlich beliebt, was auch damit zu tun haben dürfte, dass sich die Hugenotten des Vivarais bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts erfolgreich gegen die königlichen Armeen behauptet haben. Mag sein, dass Frankreich zentralistisch ist – es gibt nur wenige Großstädte neben Paris, während in Deutschland dank der guten alten Kleinstaaterei viele mehr oder weniger große Städte miteinander konkurrieren, ein kraftvoller Motor für Innovation und Wirtschaftswachstum.
Aber Paris geht den Bewohnern der Provinz am Allerwertesten vorbei, selbst belgische oder holländische oder englische Touristen zieht manch einer den Parisern vor. Vor allem aber gönnt man den größeren Städten ihre Anziehungskraft auf jene, die Paris jüngst in Schutt und Asche zu legen versuchten – nach dem tödlichen Schuss eines Polizisten auf einen jungen Mann mit Hintergrund. In der Provinz gibt es eher selten derartige Zusammenballungen zorniger junger Männer, die offenbar wenig halten von dem, was das Land ihnen zu bieten hat.
Kein Ersatz für eine lebendige städtische Öffentlichkeit
Dass die Gendarmerie in Frankreich sonderlich beliebt wäre, kann man allerdings auch nicht behaupten. Kaum ein deutscher Polizist ist vergleichbar autoritär und aggressiv – und mit einer Maschinenpistole bewaffnet. In voller Montur überwachten Gendarmen die Ausgangssperre während der Panikpandemie, das vergisst man nicht. Umso überraschender und bezeichnender also, dass in kürzester Zeit 1,5 Millionen Euro an Spendengelder für die Familie des wegen des Schusses auf den 17-jährigen Nahel in Untersuchungshaft genommenen Polizisten zustandegekommen sind. Da dürften nicht nur „Rechtsextreme“ Geld gegeben haben, wie in Deutschland insinuiert wird, da der Initiator der Aktion einst Sprecher von Eric Zammour gewesen ist, den unsere Medien in bekannter Manier nicht nur als rechts, sondern als „rechtsextrem“ verorten. Wenn schon, denn schon.
Die Spendenbereitschaft dürfte vor allem einen Hinweis darauf geben, wie leid viele Franzosen die Migrationspolitik der Vergangenheit und der Gegenwart sind. Wie sehr sie die jungen Männer satt haben, denen beinahe jeder Anlass recht ist, zu randalieren, zu zerstören, zu plündern. Doch die Flucht aufs Land, in die weitläufige französische Provinz, beschleunigt nur die Zerstörung der Stadt – und für eine lebendige städtische Öffentlichkeit gibt es keinen Ersatz.
Wer rettet die Stadt, in der die Luft frei macht?