Die kollektivistische Ethik sieht den Einzelnen in der Pflicht, seine persönlichen Interessen und Bedürfnisse den Zielen des Kollektivs unterzuordnen. Doch dem ist mitnichten so.
Die Corona-Krise zeigt den Konflikt zwischen zwei unterschiedlichen ethischen Positionen, zwischen den Anhängern einer kollektivistischen Ethik und einer individualistischen Ethik. Die kollektivistische Ethik sieht den Einzelnen in der Pflicht, seine persönlichen Interessen und Bedürfnisse den Zielen des Kollektivs unterzuordnen. Daraus resultiert auch die Bereitschaft, den Einzelnen zum Impfen zu zwingen, wenn das aufgrund der medizinischen Indikatoren geboten erscheint. Das kollektive Ziel der vermeintlichen Pandemie-Bekämpfung ist aus dieser Sicht den persönlichen Interessen, Wertvorstellungen und Gewissensentscheidungen übergeordnet. Der Einzelne steht mit seinem Verhalten in Haftung für die anderen und ist deshalb persönlich verantwortlich für die Belegung von Intensivstationen.
Die individualistische Ethik sieht die Anerkennung des Rechts auf die Verfügung über den eigenen Körper, Selbstbestimmung, Selbstverantwortung und Eigentumsrechte als Ausgangspunkt für Normen und Werte. Wer Angst vor einer Corona-Ansteckung hat, hat demnach natürlich das Recht, seine Wohnung nicht zu verlassen, den Anspruch darauf, dass andere deshalb in ihrer Wohnung eingesperrt werden, gibt es hingegen nicht. Wer sein Risiko, an Corona schwer zu erkranken, als hoch einschätzt, hat natürlich das Recht, sich durch eine Impfung zu schützen. Er besitzt jedoch nicht das Recht, andere dazu zu verpflichten, sich impfen zu lassen, die für sich selbst zu anderen Schlussfolgerungen kommen. Der Einzelne haftet nicht für das Kollektiv und ist daher auch nicht verpflichtet, seine Freiheit einzuschränken, um Intensivstationen zu entlasten.
In der öffentlichen Debatte werden Zahlen und vermeintliche Fakten vorgetragen und den Kritikern dieser Zahlen „postfaktische“ Einstellungen vorgeworfen. Diese Debatte geht insoweit am Kern des Problems vorbei, als dass Zahlen, Daten und Fakten keine Antwort auf die Frage liefern, wie der Einzelne sich verhalten soll. Wer von „Fakten“ auf moralische Normen schließt, der begeht nach dem Philosophen David Hume den naturalistischen Fehlschluss. Vom Sein kann eben gerade nicht auf Sollen geschlossen werden. Es braucht dazu wenigstens eine ethische Prämisse, die selbst keine Tatsachenbehauptung ist. Dass die Debatte über die „Fakten“ so fruchtlos bleibt, liegt eben genau daran, dass die Debatte über Fakten verdeckt, worum es bei der Polarisierung innerhalb der westlichen Welt eigentlich geht, um den Streit dieser ethischen Grundhaltungen.
Der Einzelne ist nicht dazu verpflichtet, Grundrechte aufzugeben
„Fakten“ entscheiden eben nicht darüber, was ethisch geboten und was nicht geboten ist. Wenn sich die Temperatur auf der Erde erwärmt, folgt daraus keineswegs zwingend eine bestimmte Norm für das Verhalten des Einzelnen. Wenn eine Inselgruppe im Pazifik im Meer versinkt, dann folgt daraus nicht zwangsläufig, dass deshalb in Deutschland ein Tempolimit eingeführt werden muss. Aus dem Umstand steigender Infektionszahlen folgt nicht, dass der Einzelne dazu verpflichtet ist, Grundrechte aufzugeben. Aus überbelegten Intensivbetten folgt für den Einzelnen keine Pflicht, sich impfen zu lassen. Wer Zahlen in die Welt setzt und meint, daraus ergeben sich die Schlussfolgerungen für das Handeln des Einzelnen von selbst, setzt auf die psychologische und emotionale Überwältigung seines Gegenübers, was an sich aber noch kein Argument darstellt.
Implizit geht die Debatte um die Impfpflicht von bestimmten ethischen Prämissen aus, die aber explizit niemals in der Breite diskutiert worden sind, weil sie die Politik als selbstverständlich voraussetzt, die aber nicht selbstverständlich sind. Die ethische Norm, die der der Corona-Politik und der Forderung nach einer Impfpflicht zugrundeliegt, ist eine kollektivistische, nämlich, dass die Freiheit des Einzelnen sich kollektiven Zielen unterzuordnen habe. Wenigstens ein Teil meines Körpers gehört also nicht mir selbst, sondern der Gesellschaft, oder besser gesagt dem Staat, der diese Gesellschaft repräsentiert. Die entscheidende Frage in der Debatte über die Einschränkung von Freiheitsrechten und über eine allgemeine Impfpflicht lautet: Darf ich jemandem das Recht über seinen Körper nehmen, wenn ich damit die Lebenserwartung in der Gesellschaft erhöhen kann (nehmen wir einfach mal an, das wäre möglich)?
Wenn ich diese Frage mit Ja beantworte, sind die Konsequenzen weitreichend: Wenn wir diese Norm konsequent anwenden und das Kollektiv über das Individuum stellen, dürfte der Staat Bürger zur Abgabe einer Blutspende oder sogar Organspende zwingen, wenn Blutreserven und Spenderorgane knapp sind und dadurch Menschenleben gerettet werden können. Oder der Staat dürfte Pflegepersonal zwangsrekrutieren, wenn es auf den Intensivstationen an diesem mangelt. Oder er dürfte Ärzten die Auswanderung verbieten, wenn das negative Folgen für die medizinische Versorgung hätte. Das zeigt, wenn wir die Norm akzeptieren, dass das Recht auf den eigenen Körper eingeschränkt werden darf, wenn die Rettung von Menschenleben das erfordert, sind wir nur einen Schritt von der Legitimierung von Zwangsarbeit und Ausreiseverboten wie in der DDR entfernt.
Kollektivismus führte immer zu mehr Leid und Unrecht
Hat ein Geimpfter also Grund, sich für das Recht der Ungeimpften, ungeimpft zu bleiben, einzusetzen, auch wenn er ihre Befürchtungen bezüglich der Neben- und Folgewirkungen nicht teilt? Bei der Impfpflicht geht es nicht nur um das Impfen an sich, sondern um den Präzedenzfall. Wer heute für die Impfpflicht ist, weil er die Freiheit seines renitenten Nachbarn für nicht so wichtig hält, kann morgen schon seine Freiheit, sein Hab und Gut verlieren, weil sein renitenter Nachbar seine Freiheit und Eigentumsrechte auch nicht mehr für so wichtig hält, dass es sich lohnen würde, sich für sie einzusetzen. Wenn die Norm nämlich allgemein akzeptiert wird, dass das Recht auf die Verfügungsgewalt über den eigenen Körper und das mit diesem erworbene Eigentum für kollektive Ziele aufgehoben werden darf, dann ist das auf viele andere Situationen übertragbar.
Sich als Geimpfter zurückzulehnen und die Eingriffe in die Freiheit von Ungeimpften gleichgültig oder sogar zustimmend zur Kenntnis zu nehmen, ist wenigstens kurzsichtig. Wie viele Menschen in den Elendsgebieten dieser Welt könnten kurzfristig vor Krankheit und Elend bewahrt werden, wenn große Teile der Bevölkerung der westlichen Welt enteignet würden und ihr Geld direkt in die Gesundheitssysteme dieser Länder transferiert wird? Ist es nicht ebenso „egoistisch“, sich dagegen zu stellen, wie sich nicht impfen zu lassen? Solange es Krankheit, Armut und Elend in der Welt gibt, das kurzfristig durch Umverteilung gelindert werden kann, kann die Enteignung der vermeintlich Glücklicheren, Gesünderen und Bessergestellten oder einfach nur Andersdenkenden mit kollektivistischen Normen legitimiert werden. Die Impfpflicht ist das Einfallstor für weitreichende Eingriffe in die Freiheit aller, egal ob geimpft oder ungeimpft.
Die kollektivistische Ethik kann für sich in Anspruch nehmen, das „Allgemeinwohl“ im Blick zu haben, wohingegen individualistische Ethik ein Ausdruck von „Egoismus“ sei. Was hat aber in der Geschichte zu mehr Unrecht und Leid geführt? Der Schutz individueller Freiheit unter der Preisgabe kollektiver Ziele oder die Verwirklichung kollektiver Ziele unter Preisgabe individueller Freiheit? Nationalsozialismus, Faschismus, Kommunismus und Islamismus haben alle gemeinsam, dass sie das Kollektiv über das Individuum stellen. Es ist ganz offensichtlich, dass kollektivistische Systeme schlimmere Verbrechen begangen und Katastrophen verursacht haben als individualistische Gesellschaften. Eben deshalb hat das Grundgesetz den Individualrechten einen so hohen Stellenwert eingeräumt. Wenn das Bibelwort gilt, dass wir Werte an ihren „Früchten“ erkennen sollen, dann schneidet die Ethik des Individualismus um vieles besser ab als die des Kollektivismus.