Gérard Bökenkamp, Gastautor / 02.12.2021 / 15:00 / Foto: Pixabay / 37 / Seite ausdrucken

Die Impfpflicht ist Ausdruck einer kollektivistischen Ethik

Die kollektivistische Ethik sieht den Einzelnen in der Pflicht, seine persönlichen Interessen und Bedürfnisse den Zielen des Kollektivs unterzuordnen. Doch dem ist mitnichten so. 

Die Corona-Krise zeigt den Konflikt zwischen zwei unterschiedlichen ethischen Positionen, zwischen den Anhängern einer kollektivistischen Ethik und einer individualistischen Ethik. Die kollektivistische Ethik sieht den Einzelnen in der Pflicht, seine persönlichen Interessen und Bedürfnisse den Zielen des Kollektivs unterzuordnen. Daraus resultiert auch die Bereitschaft, den Einzelnen zum Impfen zu zwingen, wenn das aufgrund der medizinischen Indikatoren geboten erscheint. Das kollektive Ziel der vermeintlichen Pandemie-Bekämpfung ist aus dieser Sicht den persönlichen Interessen, Wertvorstellungen und Gewissensentscheidungen übergeordnet. Der Einzelne steht mit seinem Verhalten in Haftung für die anderen und ist deshalb persönlich verantwortlich für die Belegung von Intensivstationen.

Die individualistische Ethik sieht die Anerkennung des Rechts auf die Verfügung über den eigenen Körper, Selbstbestimmung, Selbstverantwortung und Eigentumsrechte als Ausgangspunkt für Normen und Werte. Wer Angst vor einer Corona-Ansteckung hat, hat demnach natürlich das Recht, seine Wohnung nicht zu verlassen, den Anspruch darauf, dass andere deshalb in ihrer Wohnung eingesperrt werden, gibt es hingegen nicht. Wer sein Risiko, an Corona schwer zu erkranken, als hoch einschätzt, hat natürlich das Recht, sich durch eine Impfung zu schützen. Er besitzt jedoch nicht das Recht, andere dazu zu verpflichten, sich impfen zu lassen, die für sich selbst zu anderen Schlussfolgerungen kommen. Der Einzelne haftet nicht für das Kollektiv und ist daher auch nicht verpflichtet, seine Freiheit einzuschränken, um Intensivstationen zu entlasten.

In der öffentlichen Debatte werden Zahlen und vermeintliche Fakten vorgetragen und den Kritikern dieser Zahlen „postfaktische“ Einstellungen vorgeworfen. Diese Debatte geht insoweit am Kern des Problems vorbei, als dass Zahlen, Daten und Fakten keine Antwort auf die Frage liefern, wie der Einzelne sich verhalten soll. Wer von „Fakten“ auf moralische Normen schließt, der begeht nach dem Philosophen David Hume den naturalistischen Fehlschluss. Vom Sein kann eben gerade nicht auf Sollen geschlossen werden. Es braucht dazu wenigstens eine ethische Prämisse, die selbst keine Tatsachenbehauptung ist. Dass die Debatte über die „Fakten“ so fruchtlos bleibt, liegt eben genau daran, dass die Debatte über Fakten verdeckt, worum es bei der Polarisierung innerhalb der westlichen Welt eigentlich geht, um den Streit dieser ethischen Grundhaltungen.

Der Einzelne ist nicht dazu verpflichtet, Grundrechte aufzugeben

„Fakten“ entscheiden eben nicht darüber, was ethisch geboten und was nicht geboten ist. Wenn sich die Temperatur auf der Erde erwärmt, folgt daraus keineswegs zwingend eine bestimmte Norm für das Verhalten des Einzelnen. Wenn eine Inselgruppe im Pazifik im Meer versinkt, dann folgt daraus nicht zwangsläufig, dass deshalb in Deutschland ein Tempolimit eingeführt werden muss. Aus dem Umstand steigender Infektionszahlen folgt nicht, dass der Einzelne dazu verpflichtet ist, Grundrechte aufzugeben. Aus überbelegten Intensivbetten folgt für den Einzelnen keine Pflicht, sich impfen zu lassen. Wer Zahlen in die Welt setzt und meint, daraus ergeben sich die Schlussfolgerungen für das Handeln des Einzelnen von selbst, setzt auf die psychologische und emotionale Überwältigung seines Gegenübers, was an sich aber noch kein Argument darstellt.

Implizit geht die Debatte um die Impfpflicht von bestimmten ethischen Prämissen aus, die aber explizit niemals in der Breite diskutiert worden sind, weil sie die Politik als selbstverständlich voraussetzt, die aber nicht selbstverständlich sind. Die ethische Norm, die der der Corona-Politik und der Forderung nach einer Impfpflicht zugrundeliegt, ist eine kollektivistische, nämlich, dass die Freiheit des Einzelnen sich kollektiven Zielen unterzuordnen habe. Wenigstens ein Teil meines Körpers gehört also nicht mir selbst, sondern der Gesellschaft, oder besser gesagt dem Staat, der diese Gesellschaft repräsentiert. Die entscheidende Frage in der Debatte über die Einschränkung von Freiheitsrechten und über eine allgemeine Impfpflicht lautet: Darf ich jemandem das Recht über seinen Körper nehmen, wenn ich damit die Lebenserwartung in der Gesellschaft erhöhen kann (nehmen wir einfach mal an, das wäre möglich)?

Wenn ich diese Frage mit Ja beantworte, sind die Konsequenzen weitreichend: Wenn wir diese Norm konsequent anwenden und das Kollektiv über das Individuum stellen, dürfte der Staat Bürger zur Abgabe einer Blutspende oder sogar Organspende zwingen, wenn Blutreserven und Spenderorgane knapp sind und dadurch Menschenleben gerettet werden können. Oder der Staat dürfte Pflegepersonal zwangsrekrutieren, wenn es auf den Intensivstationen an diesem mangelt. Oder er dürfte Ärzten die Auswanderung verbieten, wenn das negative Folgen für die medizinische Versorgung hätte. Das zeigt, wenn wir die Norm akzeptieren, dass das Recht auf den eigenen Körper eingeschränkt werden darf, wenn die Rettung von Menschenleben das erfordert, sind wir nur einen Schritt von der Legitimierung von Zwangsarbeit und Ausreiseverboten wie in der DDR entfernt.

Kollektivismus führte immer zu mehr Leid und Unrecht

Hat ein Geimpfter also Grund, sich für das Recht der Ungeimpften, ungeimpft zu bleiben, einzusetzen, auch wenn er ihre Befürchtungen bezüglich der Neben- und Folgewirkungen nicht teilt? Bei der Impfpflicht geht es nicht nur um das Impfen an sich, sondern um den Präzedenzfall. Wer heute für die Impfpflicht ist, weil er die Freiheit seines renitenten Nachbarn für nicht so wichtig hält, kann morgen schon seine Freiheit, sein Hab und Gut verlieren, weil sein renitenter Nachbar seine Freiheit und Eigentumsrechte auch nicht mehr für so wichtig hält, dass es sich lohnen würde, sich für sie einzusetzen. Wenn die Norm nämlich allgemein akzeptiert wird, dass das Recht auf die Verfügungsgewalt über den eigenen Körper und das mit diesem erworbene Eigentum für kollektive Ziele aufgehoben werden darf, dann ist das auf viele andere Situationen übertragbar.

Sich als Geimpfter zurückzulehnen und die Eingriffe in die Freiheit von Ungeimpften gleichgültig oder sogar zustimmend zur Kenntnis zu nehmen, ist wenigstens kurzsichtig. Wie viele Menschen in den Elendsgebieten dieser Welt könnten kurzfristig vor Krankheit und Elend bewahrt werden, wenn große Teile der Bevölkerung der westlichen Welt enteignet würden und ihr Geld direkt in die Gesundheitssysteme dieser Länder transferiert wird? Ist es nicht ebenso „egoistisch“, sich dagegen zu stellen, wie sich nicht impfen zu lassen? Solange es Krankheit, Armut und Elend in der Welt gibt, das kurzfristig durch Umverteilung gelindert werden kann, kann die Enteignung der vermeintlich Glücklicheren, Gesünderen und Bessergestellten oder einfach nur Andersdenkenden mit kollektivistischen Normen legitimiert werden. Die Impfpflicht ist das Einfallstor für weitreichende Eingriffe in die Freiheit aller, egal ob geimpft oder ungeimpft.

Die kollektivistische Ethik kann für sich in Anspruch nehmen, das „Allgemeinwohl“ im Blick zu haben, wohingegen individualistische Ethik ein Ausdruck von „Egoismus“ sei.  Was hat aber in der Geschichte zu mehr Unrecht und Leid geführt? Der Schutz individueller Freiheit unter der Preisgabe kollektiver Ziele oder die Verwirklichung kollektiver Ziele unter Preisgabe individueller Freiheit? Nationalsozialismus, Faschismus, Kommunismus und Islamismus haben alle gemeinsam, dass sie das Kollektiv über das Individuum stellen. Es ist ganz offensichtlich, dass kollektivistische Systeme schlimmere Verbrechen begangen und Katastrophen verursacht haben als individualistische Gesellschaften. Eben deshalb hat das Grundgesetz den Individualrechten einen so hohen Stellenwert eingeräumt. Wenn das Bibelwort gilt, dass wir Werte an ihren „Früchten“ erkennen sollen, dann schneidet die Ethik des Individualismus um vieles besser ab als die des Kollektivismus.

Foto: Pixabay

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Arjuna Shiva / 02.12.2021

Und die kollektivistische “Ethik”, die ein verklausulierte Unethik ist, versagt ja schon bei ihrem ersten Einsatz. Denn es ist ja klar, dass Kinderimpfungen in jedem Fall völlig überzogen sind. Aber da die Mehrheit die kollektivistische Ethik mitträgt, sind Verbrechen möglich, die bei individuellen Gewissensentscheidungen unmöglich wären. Kinderimpfungen werden da leider erst der Anfang sein. Gott schütze uns!

S.Buch / 02.12.2021

Die Begriffe Kollektivismus und Ethik miteinander in Verbindung zu bringen, scheint mir recht gewagt, zumal mit Blick auf die geplante Zwangsimpfung.

E. Albert / 02.12.2021

@ Josef Fischer - Durchaus sinnvolle Impfungen mit erprobten Impfstoffen, wie z.B.  gegen Tetanus, Pocken, Typhus, Hepatitis, Diphtherie etc. können Sie kaum mit den jetzt in kürzester Zeit zusammengemixten und mit Metallsplittern verunreinigten Gen-Cocktails vergleichen! Außerdem sollen wir uns nun offenbar daran gewöhnen, uns quasi alle paar Wochen mit irgendetwas “impfen” zu lassen. Das ist wohl etwas anderes, als Ihr angeführtes Beispiel. - Und das alles wegen eines “grippeähnlichen Erregers”?! Gut, der mag für angeschlagene Immunsysteme durchaus gefährlich sein und diese Menschen sollten sich auch entsprechend schützen, aber es kann nicht sein, dass Gesunde, die über ein gutes Immunsystem verfügen in Sippenhaft genommen, ihrer Freiheit beraubt und ganze Nationen weggesperrt werden! Das ist doch nur noch irre! Ob wäre es jemals darum gegangen, die Bevölkerung vor irgendetwas “zu schützen”! Dann hätte man schon lange das Rauchen, Alkohol oder Autofahren verbieten und jeden Bürger in Watte packen müssen. Das ganze Leben ist halt irgendwie ein Risiko. Das ist so und das hat eine Regierung nicht zu interessieren. Die können gerne Empfehlungen aussprechen, mehr aber auch nicht! Was war denn mit der Grippewelle 2017/18?! Um die 30.000 Tote. Und? Hat das “die Regierung” interessiert?! Nö. Aber 2019 großangelegte “Planspiele” für eine “Pandemie” durchführen…Zufälle gibt’s…Wahrscheinlich stammen daher die Fotos, die uns immer in den Öffis serviert werden, um zu dokumentieren, wie schlimm das doch alles ist. Dass “die Regierung” für den Bettennotstand durch entsprechenden Abbau von Kapazitäten - seien es Intensiv-Betten, seien es ganze Krankenhäuser - höchstselbst verantwortlich ist, wird lieber verschwiegen! - Contergan & Asbest galten ebenfalls als völlig ungefährlich…ich fürchte, da kommt noch schlimmes auf uns zu.

Karlheinz Patek / 02.12.2021

@Marcel Seiler. Denken sie doch etwas nach bevor sie diesen Unsinn verzapfen. Nicht besoffen Auto fahren ist natürlich nicht verkehrt. Aber, saufen sie doch zu Hause, keiner wird ihnen das verbieten. Auf dem Motorrad einen Sturzhelm, im Auto einen Gurt zu verwenden, verpflichtet sie nicht im Bett das Gleiche zu tun. Sie kommen mir vor wie jemand der im Bett einen Schutzhelm auf hat, einen Gurt anlegt und VON ALLEN ANDEREN das Gleiche verlangt. Von den Feinheiten der Abwägung haben sie keine Ahnung.

Alex Müller / 02.12.2021

@Josef Fischer: Wenn der Impfstoff gegen Covid 1. so gut wirkt, 2. so lange wirkt, 3. so wenig Nebenwirkungen hat, 4. die Krankheit ausrottet, 5. ein paar Jahrzehnte lang erprobt ist wie die gegen Pocken, Typhus, Polio,..., und wenn außerdem Covid die Sterblichkeit dieser Krankheiten aufwiese, dann hätte ich kein Problem damit. Und dann bräuchten wir auch keine Impfpflicht.

Jacob Gröning / 02.12.2021

Nach Impfabo kommt also jetzt die Impfpflicht… Mir gehen echt die Verschwörungstheorien aus, die sich noch nicht bewahrheitet haben!!!

F. Auerbacher / 02.12.2021

Ein Lehrstück in Sachen: Folgen wir der Wissenschaft. Vielen Dank Herr Bökenkamp. Lassen wir mal die deskriptive Prämisse außen vor und tun so, als wäre sie nicht strittig. Dann bleibt immer noch die normative Prämisse und auch hier gibt es keine Willkür mangels eines faktischen Außenkriteriums sondern eine Anzahl von Kriterien. Sie arbeiten sehr schön die Generalisierbarkeit heraus (andere Kriterien sind bekanntlich Widerspruchsfreiheit und Präskriptivität), und machen deutlich, dass die normative Prämisse eben nicht generalisierbar ist. Damit ist P2 falsch und der Schluss ungültig. Die der Impfpflicht zugrunde liegende Argumentation (zumindest das, was überall behauptet wird)  ist schlicht falsch.

Johannes Schuster / 02.12.2021

Die Geimpften sind die Verfügungsmasse, die dem Krebs entgegen harrt. Das ist eine Rolle wie eine Wegwerfverpackung.

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