Der aufgeklärte Zeitgenosse moralisiere gerne, heißt es. Er spreche gendergerecht und politisch korrekt, engagiere sich für „Fridays-for-Future“ und kämpfe gegen das „böse“ Patriarchat. Vielleicht ist es daher ratsam, sich mit dem Begriff der Moral auseinanderzusetzen. Oder sich die vier christlichen Haupttugenden anzuschauen. Diese sind: Weisheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Mäßigung.
Politische Inhalte finden dort offensichtlich keinen Platz. Doch Gendergerechtigkeit, politische Korrektheit und Klimaengagement sind höchst politisch aufgeladen. Mitnichten hat das etwas mit Moral zu tun. Wer etwas anderes behauptet, missbraucht den Begriff der Moral. Wer hier von Moral spricht, dem fehlen offensichtlich die Argumente für seine eigene Position.
Was wirklich Moral und Werte, fernab politischer Vereinnahmung sind, zeigt auf hübsche Weise J. K. Rowling mit ihren neuen Buch „Der Ickabog“. Mit seinen rund 350 Seiten kann es exzellent als abendliche Gute-Nacht-Geschichte für die Kleinen dienen. Die kurzen Kapitel und die einfache Sprache machen es möglich. Obwohl „Der Ickabog“ vermutlich für die Kleinsten geschrieben ist, die sich gerade am Übergang vom Kindergarten zur Grundschule befinden, so kann es auch eine spannende und lehrreiche Geschichte für die ganze Familie werden.
Ist das „grüne Monster“ der grüne Zeitgeist?
Eben weil die Geschichte nicht politisch instrumentalisiert wird, wirkt dieser Umstand ungemein entspannend. Im Gegensatz zu einem gewissen grünen Vorzeigepolitiker, der Kinderbücher mit seiner Frau publiziert, geht es der „Harry Potter“-Autorin darum, die Kinder zu unterhalten, nicht politisch zu belehren.
Selbstverständlich ist Rowlings Lektüre auch lehrreich. Doch Kinder und Eltern können ihre eigenen Lehren ziehen. Die Autorin serviert ihren Lesern keine politisch aufgeladene Lehre auf dem Silbertablett, sondern überlässt diese Eigenleistung ihren Lesern. Ein großes Plus für diese Geschichte, die sich um ein grünes Monster, den „Ickabog“, dreht.
Für die ganzen eifrig-missionarischen Berufsaktivisten und Hobbyexegeten, die alles politisieren und überall einen Angriff wittern: Meinte vielleicht Rowling mit dem „grünen Monster“ den grünen Zeitgeist? Befindet sich hier eine versteckte politische Botschaft? Gar eine sexistische Positionierung der Autorin? Schließlich heißt es „der“ Ickabog.
Wieder im Ernst: Obwohl „Der Ickabog“ ein Kinderbuch ist, kann es als soziologischer Roman bezeichnet werden. Grandios zeigt Rowling die gesellschaftlichen Machtverhältnisse auf. Jedoch fokussiert sie sich nicht auf die „Pseudomachtverhältnisse“, wie etwa diejenigen zwischen Mann und Frau oder Weiß und Schwarz. Realitätstreu bezieht sie sich auf die entscheidenden Verhältnisse, wenn es um Macht geht, nämlich denjenigen zwischen Regierenden und Regierten.
Mehr und mehr Bürger hinterrücks ermordet
So entwickelt Rowling eine Geschichte von Lüge, Betrug und Intrigen unter den Regierenden, die auch alle Unbeteiligten massiv betreffen. König Fred von Schlaraffien, ein selbstsüchtiger, eitler und nicht gerade heller Kopf, will sein Leben in Saus und Braus genießen. Eben diese Selbstfixiertheit bringt Schlaraffien in den Ruin und den König zu Fall. Diese Selbstsucht des Königs nutzen seine „Freunde“ aus.
So instrumentalisieren Lord Schlabberlot und Lord Spuckelwert die Legende vom „Ickabog“, eines schreckenerregenden Monsters, das am Rande des Landes lebt, um ihre Macht auszuweiten und ihr Vermögen anzuhäufen. Dabei scheuen sie vor Mord nicht zurück. So tötet ein Komplize von ihnen vor den Augen der gesamten Königlichen Garde den Berater des Königs. Weil allen der Sold erhöht wird, bleiben alle ruhig. Nur drei mutige und ehrenhafte Männer widersetzen sich diesem grausamen Deal. Dafür landen sie lebenslang im Kerker.
In dieser Manier regieren Lord Schlabberlot und Lord Spuckelwert das Land Schlaraffien. Während sie von ihren Intrigen ungemein profitieren, schüren sie mit der angeblichen Existenz des „Ickabog“ weiterhin Angst und Panik in der Bevölkerung. Zudem verlieren die Bürger zunehmend ihre Rechte. Kleinste Abweichungen von der „Parteilinie“ werden geahndet. Mehr und mehr Bürger kommen in den Kerker oder werden hinterrücks ermordet – angeblich die schändliche Tat des „Ickabogs“.
„Ickabog“ möglicherweise personifiziertes Coronavirus
Obschon die meisten den bösen Machenschaften folgen oder tatenlos zusehen, widersetzen sich einige mutige und kluge Köpfe. Neben Lord Ehrenwort und Lady Esmalda sind es die Kinder Wim und Lilly. Eben beide Kinder bereiten der Schreckensherrschaft ein Ende. Denn der „Ickabog“ existiert tatsächlich. Jedoch handelt es sich um ein liebenswürdiges, menschenfreundliches Wesen.
Mit dieser Erkenntnis siegt schlussendlich das Gute. König Fred, Lord Schlabberlot und Lord Spuckelwert erhalten ihre Strafe. Die Monarchie Schlaraffien verwandelt sich in eine Demokratie, deren Oberhaupt Lord Ehrenwert wird. Den von Hunger und Armut gezeichneten Menschen geht es wieder gut.
Rowlings „Der Ickabog“ bietet unterschiedliche Interpretationen. So könnte man die Geschehnisse und die Verhältnisse auf unsere gegenwärtige Gesellschaft übertragen. Wenn man noch weitergehen möchte, könnte man womöglich im „Ickabog“ das personifizierte Coronavirus sehen: Niemand sieht es, alle wissen, dass es existiert und alle fürchten sich vor diesem Virus. Zusätzlich versuchen einige Lord Spuckelwerts und Lord Schlabberlots, mit der Angst Profite zu machen.
Was lehrt uns „Der Ickabog“?
Diejenigen, welche die politischen Maßnahmen der Bundesregierung zur Eindämmung des Virus kritisieren (gleichzeitig die Existenz des Virus aber nicht leugnen!), landen zwar nicht im Königskerker. Jedoch werden diese vorschnell als psychisch Kranke, rechte Hetzer oder „Covidioten“ etikettiert. Doch was, wenn diese recht haben? Wenn sich also in der Rückschau herausstellt, dass das Virus doch nicht so bedrohlich war? Wenn das einzige, was fehlte, ein kluger Umgang mit dem Virus war?
Wie dem auch sei. Rowling zeigt mit ihrer Lektüre auf wunderschöne Weise, wie wichtig Werte wie etwa Mut, Tapferkeit und Ehrlichkeit sind. Obwohl es nicht immer leicht ist, nach diesen Werten zu handeln, lohnt es sich letzten Endes. Andersherum weist Rowling darauf hin, welche Gefahren es birgt, stets konform, dem Zeitgeist entsprechend und von Angst beziehungsweise Habgier getrieben zu leben.
Im Moment ist es „Mainstream“, gendergerecht und politisch korrekt zu sprechen, die „Fridays-for-Future“-Kinder zu unterstützen und den „alten, weißen Mann“ als die Quelle alles Übels anzusehen. Was lehrt uns „Der Ickabog“?
„Der Ickabog“ von J. K. Rowling, 2020, Hamburg: Carlsen. Hier bestellbar.