Christoph Lövenich, Gastautor / 26.10.2021 / 09:15 / Foto: Pixabay / 83 / Seite ausdrucken

Der faule Zauber des neuen Bundestags

Heute tritt der neue Bundestag erstmals zusammen. Trotz Berliner Wahlchaos, dafür mit 3G-Beschränkung und einem Mandatsprivileg für den SSW. Diese Neuerungen belasten seine demokratische Qualität.

Wenn heute der 20. Deutsche Bundestag in Berlin erstmalig zusammentritt, dann ist manches anders, was einem aufrechten Demokraten zu denken geben sollte. Zunächst einmal liegt das daran, dass in einem Bundesland die ordnungsgemäße Durchführung der zugrundeliegenden Bundestagswahl scheiterte. Unregelmäßigkeiten von einem Ausmaß wie im Land Berlin, mehrere hundert Wahllokale betreffend, lassen sich durch Nachzählungen nicht heilen. Wenn die Wahlen – nicht nur die für das Abgeordnetenhaus und die kommunalen Vertretungen der Hauptstadt selbst, sondern auch die Bundestagswahl auf Berliner Gebiet – nicht wiederholt werden, bleibt ein schaler Nachgeschmack.   

Denn Berichtigungen in Berlin könnten auch Auswirkungen auf andere Bundesländer zeitigen. So ergab eine Nachzählung in Bayern, dass ein Grünen-Politiker aus NRW, der sich schon im Parlament gewähnt hatte, letztlich doch den Sitz einer bayerischen Parteifreundin überlassen muss. Er sagt: „Ich bin heilfroh, in einem Land zu leben, in dem bei einer Wahl nachgezählt wird, wenn es Zweifel gibt.“ Ich wäre noch froher, in einem Land zu leben, das Wahlen dort wiederholt, wo es zweifelsohne nicht mit rechten Dingen zugegangen ist.

Selbst wenn Wahlen zum reinen Ritual absinken, sollten sie doch wenigstens formaldemokratisch korrekt abgehalten werden. Angesichts der erbitterten Auseinandersetzungen um angebliche Wahlfälschungen bei den jüngsten US-Präsidentschaftswahlen täte man gut daran, jeden Anschein einer Ergebnisverfälschung zu vermeiden, und mag sie vielleicht nur eines der 736 Mandate betreffen, das anderweitig hätte vergeben werden müssen. Leider gehen die Roten Roben in Karlsruhe mit schlechtem Beispiel voran, wenn sie – bei ihrer Befangenheit – nicht einmal mehr die Wahrung des Scheins für nötig halten.

Ein Parlament ist kein Safe Space

Dass während des Wahlkampfs oppositionelle Kundgebungen zur Coronapolitik verboten worden waren (zum Beispiel im August in der Hauptstadt), Organisationen wie Querdenken und Journalisten wie Boris Reitschuster durch zensorische Maßnahmen von Social-Media-Plattformen zumindest zeitweise eingeschränkt wurden, ist aus demokratischer Sicht keinesfalls banal. Und ebenfalls ein Novum.

Apropos Coronapolitik: Wenn die Abgeordneten heute zusammentreffen, gilt im Plenarsaal die „3G-Regel“: Wer keinen einschlägigen Beleg vorweisen kann, darf nicht auf den für die gewählten Volksvertreter vorgesehenen Bänken Platz nehmen, sondern wird auf die Tribüne verbannt, wo ihm immerhin Wahlurne und Mikrofon gewährt werden sollen. Zwar hat das ein paar Kilometer entfernte Berghain mit „2G“ die „härtere Tür“, aber mit dieser bisher undenkbaren Zugangsdiskriminierung überschreitet der Bundestag die soundsovielte rote Linie der letzten anderthalb Jahre. Säßen vorwiegend anständige Bürger in unserem Parlament, wäre schon aus Prinzip, und um ein Zeichen zu setzen, der Plenarsaal gähnend leer und die Tribüne brechend voll.

Bei der Konstituierung sowohl des 3. als auch des 6. Bundestags grassierten übrigens heftige Grippepandemien, bei der des 17. Bundestags war die (wenngleich milde und „falsche“) Schweinegrippe-Pandemie medial präsent, ohne dass jemand an derlei Eingriffe auch nur gedacht hätte. Ein Parlament ist kein Safe Space – wie ich vor Jahren in einem anderen Kontext getitelt habe –, auch nicht vor Atemwegsviren. Wenn man nun ernsthaft einigen demokratisch legitimierten Parlamentariern ihren rechtmäßigen Sitzplatz im Plenum und den Gang zum zentralen Redepult verweigert, schafft man eine Abgeordnetenapartheid sondergleichen. Das wirft die Frage auf, wann denn den Ungeimpften ihr Mandat aberkannt wird. (Immerhin: Als geimpft gilt „eine asymptomatische Person, die im Besitz eines auf sie ausgestellten Impfnachweises ist“ und man kann ja auch über ein echtes Impfzertifikat verfügen, ohne dass man vorher die Nadel gesehen hat.)

Ausgrenzung der AfD

Aber nicht nur Diskriminierung kann zum Problem werden, sondern auch Privilegierung. So sitzt erstmals seit 1953 wieder ein Abgeordneter des Südschleswigschen Wählerverbands (SSW) im Bundestag. Damals, für die erste Wahlperiode, galt die Fünfprozenthürde pro Bundesland, und in Schleswig-Holstein hatte der SSW sie übersprungen. Mit einem Landesergebnis von 3,2 Prozent kann davon 2021 keine Rede sein. Die Partei verdankt den Einzug in den Bundestag vielmehr einer Sonderregelung, die gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Wahlgleichheit verstößt. In den Bonn-Kopenhagen-Erklärungen von 1955 hat die Bundesregierung Dänemark – außenpolitisch motiviert – zugesagt, dass die sogenannte „dänische“ Minderheit in Schleswig-Holstein von der Sperrklausel ausgenommen wird – bei dortigen Landtags-, aber auch bei Bundestagswahlen.

Von der identitätspolitischen Konstruktion dieser seltsamen Minderheit, ihrer Subventionierung und der segregierenden Schulpolitik Schleswig-Holsteins abgesehen – siehe dazu meine Ausführungen an anderer Stelle –, handelt es sich beim SSW um eine normale Partei, für die dieselben Regeln gelten sollten wie für alle anderen. Es kann nicht sein, dass der SSW mit gerade einmal 0,1 Prozent bundesweitem Stimmanteil ein Mandat erlangt, während die Freien Wähler mit 20-mal so vielen Wählerstimmen leer ausgehen.

Oder die Basis (mehr als 10-mal so viele Stimmen), die sich unter anderem für eine tatsächlich relevante und diskriminierte Minderheit, nämlich die der Ungeimpften, einsetzt. Gewiss, mit dem fraktionslosen Einzel-MdB Stefan Seidler wird der SSW im Bundestag vermutlich nie eine machtpolitisch relevante Rolle spielen – im Gegensatz zur schleswig-holsteinischen Landespolitik. Dennoch: Jede Stimme muss den gleichen Zählwert haben – darauf basieren übrigens die Ausgleichsmandate, die uns die Rekordanzahl von 736 Abgeordneten beschert haben.

Seit der letzten Wahlperiode kein Novum mehr ist die Ausgrenzung der AfD. Sind zu diesem Zweck angestammte Regeln einmal gebrochen, setzt sich das fort. Wieder wird Wolfgang Schäuble statt des ältesten Abgeordneten (diesmal Alexander Gauland) die Alterspräsidentenrede halten. Wieder wird der Partei ein Sitz im Bundestagspräsidium vorenthalten bleiben. Bei den Ausschussvorsitzen müssen wir noch sehen.

Fehlende Repräsentation einer Fraktion im Präsidium, keine „0G“ im Plenarsaal, keine Wahlrechtsgleichheit beim SSW und der Makel eines unsauber zustandegekommenen Wahlergebnisses. Von anderen grundsätzlichen Problemen ganz abgesehen. Was demokratische Qualität und Kultur angeht, wohnt dem Anfang der 20. Bundestags-Wahlperiode ein sehr fauler Zauber inne.

Foto: Pixabay

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Karsten Dörre / 26.10.2021

SSW-Satzung: “§ 3 Mitgliedschaft -  Mitglied kann sein, wer das 15. Lebensjahr vollendet hat, sich zu den Grundlagen der Parteitätigkeit bekennt, keiner anderen Partei angehört und nicht infolge Richterspruchs die Wählbarkeit oder das Wahlrecht verloren hat.” Däne oder nationaler Friese ist keine Voraussetzung, nicht mal ein Wohnsitz in den drei Kreisverbänden.

Roland Müller / 26.10.2021

Die heutigen Äusserungen im Bundestag gegenüber der AfD und zur Weltrettung deuten darauf hin, dass der Bundestag die alte Tradition vom Reichstag wieder aufnehmen will, der in der Weimarer Republik als Schwatzbude bezeichnet wurde.

Paul Siemons / 26.10.2021

Dem Vulkan auf La Palma gleich würden alle staatlichen Medien Gift und Galle spucken, wäre eine Parlamentswahl in einem afrikanischen oder südamerikanischen Land so abgelaufen. Oder schlimmer noch: in Warschau oder Budapest!

Fred Burig / 26.10.2021

@Dr Stefan Lehnhoff:”.... Wir haben eine Demokratie, weil es so gesagt wird. So wie wir eine Pandemie haben. Mit der Wirklichkeit (kommt von Wirken!) hat das nix zu tun.” ......und deshalb schert sich auch keiner weiter drum, weil es sich so besser regieren lässt. MfG

Bauer, Karl Hans / 26.10.2021

Müsste der Titel nicht heißen; Der Zauber des faulen neuen Bundestages?

Andreas Rühl / 26.10.2021

Herr Lövenich. Sie irren sich, was die Dänen angeht. Die Regelung im Bundeswahlgesetz ist eindeutig, die Frage ist nur, was eine nationale Minderheit ist: ” Satz 1 findet auf die von Parteien nationaler Minderheiten eingereichten Listen keine Anwendung.” (meint: 5%) So weit ich das sehen kann, gelten die Dänen als “nationale Minderheit” im Sinne des Bundeswahlgesetzes, genau wie die “deutschen Sinti und Roma” und die “Friesen”. Das hat mit der britischen Besatzungsmacht, wenn überhaupt, heute nichts mehr zu tun. Ich finde das im übrigen auch richtig.

Günter H. Probst / 26.10.2021

Ich wünschte, es gäbe keine Versammlung der Maden im Speck, die meinen Lebensunterhalt ständig verteuern. So wie mein SMS-Stadtrat, der jetzt alle zwei Jahre den Hebesatz für Gewerbe- und Grundsteuer erhöht. Der fiskalische Begrif Hebesatz bekommt einen völlig neuen Sinn. Wird jetzt so ähnlich wie die Geldschöpfung der EZB.

Dr Stefan Lehnhoff / 26.10.2021

Den Anschein waren? Diese Wahlen wurden vermutlich gefälscht (weil das leicht ist und bereits passierte, also wieso diesmal nicht?) Fas Wahlrecht ist nicht verfassungsgemäß. Und eine sogroße Anzahl Briefwähler auch nicht und das nicht nur formal sondern auch ganz praktisch. Es sitzen in Mehrheit Listenkandidaten da, die kein wirkliches Mandat haben und auch schon mal nach der Wahl einfach ihre Plätze weitergeben. Dann die Wähler: Eine informierte Entscheidung setzt relevantes Wissen voraus- da fallen 90% schon mal aus. Von einem demokratischen Wahl ist die Realität so weit entfernt, wie ein VW Käfer ein Formel 1 Rennen zu gewinnen- es ist auch ein Auto und wenn es teilnimmt, darf es sich Rennwagen nennen. Wir haben eine Demokratie, weil es so gesagt wird. So wie wir eine Pandemie haben. Mit der Wirklichkeit (kommt von Wirken!) hat das nix zu tun.

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