Detlef Scheele, Chef der Agentur für Arbeit (AfA), schien erfreut, als er am 30.06.2021 die Arbeitslosenzahlen für Juni 2021 in Nürnberg verkündete: „Die umfassende Besserung am Arbeitsmarkt setzt sich im Juni fort. Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung sind weiter kräftig gesunken. Die Unternehmen reduzieren weiter die Kurzarbeit und suchen wieder mehr nach neuem Personal.“
Und in der Tat: Laut der Pressemeldung sind rund 73.000 Menschen weniger arbeitslos. Jedoch ist es so, dass die monatlichen Zahlen der Pressemitteilungen der AfA in etwa den Wert der Verlautbarungen über die Wirtschaftsleistung der DDR in der Zeitung „Neues Deutschland“ haben. Beides haben vor allem eines gemeinsam: Sie dienen der Propaganda.
Hubertus Heil darf sich Monat für Monat ans Revers heften, wie grandios er doch die Beschäftigung in Schwung hält, obwohl er mit Testbürokratie, Arbeitsschutzkontrollgesetz und vielem mehr Einstellung erschwert, teurer macht und somit verhindert. Hubertus Heil ist der Arbeitsverhinderungsminister par excellence.
Hubertus Heils Himmelszahlen
Die Zahl 73.000 ist Unsinn, was auch Herr Scheele weiß und daher die etwas näher an der Realität gehaltene Zahl von 38.000 nachreicht. 38.000 waren „saisonbereinigt“ weniger arbeitslos als im Mai. Saisonbereinigt bedeutet, dass Statistiker entsprechende externe Faktoren mit berücksichtigen, um die Erhebung ein wenig realitätsnäher zu gestalten. So beginnt die Produkton für Grillware häufig im Februar/März, Glühwein und Lebkuchen im Sommer. Doch auch die Tatsache, dass im Sommer sich Abiturienten häufig, bis ihre Ausbildung oder ihr Studium beginnt, arbeitslos melden, wird berücksichtigt. Aber die Pressemitteilung spricht von den 73.000, die kritiklose Medien wie üblich übernehmen dürften.
Soweit der Monatsbericht der AfA dies hergibt, sind immer noch rund 6 Millionen Menschen arbeitslos. Die entsprechende Herleitung erörterte ich in der Kolumne vom April. Wichtig zu wissen ist, und auch, wenn ich mich jeden Monat wiederhole: Die 2.614.000 Arbeitslosen im Juni 2021, die die Agentur für Arbeit in die Medien bringt, sind Fake News.
Eigentlich sollten sich die ARD und Co. der Realität widmen statt Monat für Monat Hubertus Himmelzahlen zu propagieren. Weshalb zum Beispiel sind so viele Stellen unbesetzt, gleichzeitig aber erleben wir 6 Millionen Arbeitslose? Warum liegen bei Personaldienstleistern Aufträge offen, gleichzeitig aber beziehen so viele Leistungen, statt zu arbeiten? Herauskommen könnten Fakten, die in Teilen die Menschen verunsichern.
Die Mär von der armen Pflegekraft
Eine große, inzwischen kaum mehr zu bewältigende Herausforderung hält seit Jahren an und wurde schon oft beschrieben: Es fehlt an Fachkräften. Wir – ich arbeite für einen Personaldienstleister – erleben es bei jeder internen Stelle, die wir für uns ausschreiben, aber auch bei Bedarf unserer Kunden. Bäcker, Elektroniker, aber auch Lebensmitteltechniker, Metzger oder Krankenpfleger fehlen an jeder Ecke. An den Gehältern kann es meines Erachtens nicht liegen. So bekommt ein Bäcker im Durchschnitt (Median) laut Stepstone rund 31.000 Euro. Aus meinem Alltag kann ich auch von deutlich höheren Löhnen, je nach Qualifikation und Berufserfahrung, sprechen. Hinzu kommen Schichtzulagen und ein durchaus attraktiver Tarifvertrag.
Während der Corona-Krise wurde viel über Pflegekräfte gesprochen. Und tatsächlich: Es handelt sich um einen Beruf, in dem man sowohl körperlich, aber auch mental und intellektuell stark gefordert ist. Ich selbst arbeitete in dem Bereich, zwar bereits vor einiger Zeit, aber immerhin. Ich kann die Diskussionen in Teilen nachvollziehen. Nicht nachvollziehbar ist jedoch das Gejammer über den Lohn.
So verdienen Pflegekräfte im Durchschnitt rund 37.000 Euro im Jahr. Die seit Covid-19 viel zitierten Fachkräfte für Intensivpflege liegen zwischen 43.000 Euro und 60.000 Euro. Das sind Summen, für die sich ein Bäcker oder Metzger, aber auch ein Elektroniker lange nach der Decke strecken muss. Von Fachkräften aus dem Dienstleistungssektor, Einzelhandelskaufleute oder Personalkaufmänner möchte ich gar nicht sprechen. Die werden im Regelfall ihrer Karriere ein solches Salär, zumindest in der Spitze, nicht erreichen. Aber auch Akademiker werden Zeit und Ausdauer benötigen, bis sie dieses Gehalt beziehen werden.
Duale Ausbildung wird unterschätzt
Der Fachkräftemangel liegt also weniger am Gehalt, sondern eher an falschen Anreizen und schlechter Kommunikation. Wenn immer mehr junge Menschen lieber im Hörsaal Platz nehmen als sich an die Werkbank zu stellen, müssen sich Politik und Unternehmen fragen, woran das liegt.
Kommunikation kann vieles ermöglichen, aber auch einiges zerstören. Wenn Pflegekräfte laut vielen diejenigen sind, „die die Hintern abputzen“ und Einzelhandelskaufleute „nur an der Kasse sitzen“, letzteres hörte ich als Jugendlicher in meinem Umfeld ständig, dann läuft etwas gehörig schief. Es ist immer eine unangenehme Angelegenheit, wenn Menschen über Dinge sprechen, von denen sie keine Ahnung haben. Das gilt für so ziemlich jeden Lebensbereich.
Wir erleben also eine zunehmende Akademisierung der Arbeitswelt. Selbst aus der Pflege kommt die Forderung, den Beruf wie in anderen Ländern als Hochschulstudium anzubieten. An der Fernuni Hagen kann man sich jetzt schon in den Studiengang „Pflege“ einschreiben. Ob Online-Vorlesungen im praktischen Alltag auf der Station weiterhelfen, darf bezweifelt werden. Hier wird der enorme Vorteil der dualen Ausbildung völlig außer Acht gelassen.
So kann eine frisch ausgebildete Fachkraft bereits auf ein bis zwei Jahre Berufserfahrung zurückblicken. Ein Hochschulabsolvent durchlief möglicherweise Praktika. Diese sollte man auch nicht unterschätzen. Eine strukturierte Ausbildung, in der Theorie und Praxis dicht aufeinander abgestimmt sind, kann ein Praktikum jedoch nicht kompensieren. Die Politik sollte sich gut überlegen, bewährte Ausbildungsberufe durch praxisferne Studiengängen zu ersetzen.
Ich fasse zusammen: Trotz offener Stellen haben wir es mit mehr als 6 Millionen Arbeitslosen zu tun. An den Löhnen liegt es offenbar nicht. Vielmehr können Stellen schlicht nicht besetzt werden, weil geeignetes Personal fehlt. Möglicherweise ist für viele das Sozialsystem noch zu attraktiv. Zwar erhält man daraus in aller Regel weniger Geld. Jedoch könnte der Freizeitgewinn einiges kompensieren.
Woran es liegen könnte, dass auch im Helferbereich händeringend Mitarbeiter gesucht werden und inwiefern dieser Engpass zu Problemen bis hin zu Preissteigerungen von Grundnahrungsmitteln führen könnte, erfahren Sie in der nächsten Kolumne.
Dieser Beitrag erschien zunächst auf Neomarius.