Georg Etscheit / 03.10.2023 / 14:00 / Foto: Christian Michelides / 19 / Seite ausdrucken

Das Wunder von Berlin: Thielemann ad portas

Christian Thielemann wird neuer Musikchef der Staatsoper Unter den Linden. Das ist ein kleines Wunder, gilt Thielemann doch als eingefleischter Konservativer, bekennender Preußen-Fan und wenig angetan von dekonstruktivistischen Operninszenierungen und zeitgenössischer Musik.

Es gibt Protagonisten der Kulturszene, die können wenig falsch machen, jedenfalls nicht in den Augen journalistischer Weihrauchschwenker. Zu ihnen gehört der Dirigent Sir Simon Rattle, der gerade beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks (BRSO) mit einer Reihe umjubelter Konzerte seinen Einstand als neuer Chefdirigent gab. Obwohl auch schon 68 Jahre alt und etwas steif im Kreuz, der Lockenkopf, sein Markenzeichen, längst ergraut, steht der sich locker gebende Brite immer noch im Ruf eines „jungen Wilden“ und unablässigen Erneuerers der Klassikszene. 

Wenn Rattle, wie jetzt in der Münchner Isarphilharmonie, einer Aufführung der „Sechsten“ von Gustav Mahler („Die Tragische“), ein oft gespieltes Werk des spätromantischen Kanons, die Komposition einer französischen Tonkünstlerin in deutscher Erstaufführung voranstellt, gilt dies als „starkes Statement“. Neue Musik! Von einer Frau! Vom Chef selbst dirigiert! Zum Beginn seiner Amtszeit beim BRSO! Auch wenn das Stück mit dem Titel „Latest“ gerade mal zwanzig Minuten dauert, mutmaßlich sofort wieder in der Versenkung verschwinden wird, und Jolas auch schon 97 Jahre auf dem Buckel hat. Wobei hier keineswegs gegen alte, weiße Frauen gestänkert werden soll.

Andere haben es weniger leicht als Rattle. Zu ihnen zählt Christian Thielemann, der gerade vom Berliner Kultursenator Joe Chialo (CDU) zum neuen Musikchef der Staatsoper Unter den Linden gekürt wurde und ab der Saison 2025/26 Nachfolger des gesundheitlich angeschlagenen Daniel Barenboim wird, der das Haus als Generalmusikdirektor 30 Jahre lange prägte. An der Seite von Elisabeth Sobotka, die ab Herbst nächsten Jahres neue Intendantin der Staatsoper sein wird.  

Ausgerechnet im woken Berlin!

Dass Thielemann überhaupt in dieses Amt gehoben wurde, kann als kleines Wunder gelten. Gilt der gebürtige Berliner doch, ganz im Gegensatz zu Sir Simon, als eingefleischter Konservativer, bekennender Preußen-Fan und wenig angetan von dekonstruktivistischen Operninszenierungen und zeitgenössischer Musik, egal ob von Frauen oder Männern komponiert. Dafür brilliert er in dem von ihm mit Inbrunst und Bravour gepflegten klassischen bis spätromantischen Repertoire, allen voran den Opern Richard Wagners. Selbst der Großkritiker der Süddeutschen Zeitung musste bekennen: „Wer einmal die ,Meistersinger‘ von ihm gehört hat, war im Elysium.“

Ausgerechnet im woken Berlin wird ihm nun, als Krönung seiner ebenso glorreichen wie wechselvollen Karriere, der prestigeträchtigste Posten der hauptstädtischen Kulturszene zuteil. Was wird wohl Ton-Steine-Scherben-Claudia (Roth) dazu gesagt haben, aus deren Etat sich die Staatsoper und vor allem die Berliner Staatskapelle, deren Leiter Thielemann nun wird, zu einem erheblichen Teil finanziert? Wobei die grüne Kulturstaatsministerin vielleicht Beißhemmungen hatte, ihrem auch für „gesellschaftlichen Zusammenhalt“ zuständigen Kollegen Chialo, Sohn einer tansanischen Diplomatenfamilie, in die Parade zu fahren.

Den Ausschlag für Thielemanns Berufung dürfte vergangenes Jahr sein Dirigat von Wagners „Ring des Nibelungen“ als Einspringer für Barenboim gegeben haben. Man könnte, wenn man das fulminante Presseecho als Maßstab nimmt, fast von einem Jahrhundertdirigat sprechen. Spätestens seit diesem Triumph waren auch die Musiker der Staatskapelle auf ihn eingeschworen. Zudem ist Thielemann nach seinem Abschied von der Dresdner Staatskapelle, den Bayreuther Festspielen und den Osterfestspielen Salzburg nirgendwo mehr fest engagiert. An dem frei flottierenden Genie, dem seine Fans buchstäblich zu Füßen liegen, kam man einfach nicht mehr vorbei.

In die rechte Ecke gestellt

Dass es dem seine Meinung stets offen zu Markte tragenden Thielemann gelungen ist, nicht der Cancel Culture zu verfallen, mutet indes rätselhaft an. Spätestens mit seinem Pegida-Interview von 2015 lieferte er seinen Kritikern genug Munition, um ihn endgültig in die rechte Ecke zu stellen. „Den Unzufriedenen zuzuhören scheint das Gebot der Stunde zu sein“, sagte Thielemann damals. In der Pegida-Bewegung sah Thielemann „Menschen, die sich ohnmächtig fühlen und diesem Gefühl Ausdruck geben. Wenn diese Ohnmacht weiter um sich greife, sei kein Staat mehr zu machen“. Im Stern schob er nach: „Ist denn C-Dur nach den zwölf Jahren Hitler etwa anders zu hören als zuvor?" Und, schrecklich, auch „Negerkuss“ wolle er weiterhin sagen können.

Schon zu Beginn seiner Karriere wurde ihm „Deutschtümelei“ unterstellt, weil er sich für das Werk Hans Pfitzners in die Bresche schlug. Pfitzner hatte sich in der Nazizeit den Machthabern angedient, wurde von den NS-Kulturbonzen später jedoch abserviert. Wie Richard Wagner war Pfitzner Antisemit und äußerte noch nach Kriegsende törichte Dinge über die Judenverfolgung. An der Größe seines musikalischen Werkes zwischen Spätromantik und Moderne, insbesondere seiner Künstleroper „Palaestrina“ und seiner Orchesterkantate „Von deutscher Seele“ besteht jedoch kein Zweifel. Der jüdische Dirigent Bruno Walter schrieb 1947: „Ich persönlich zähle die Aufführung des Palestrina, nach meiner Meinung eines der gewaltigsten musikalischen Bühnenwerke unserer Zeit, zu den großen Ereignissen meines Lebens.“

Nicht zuletzt auf die Qualität und Originalität von Pfitzners Kompositionen, die dringender denn je einer Renaissance bedürfen, bezog sich Thielemanns Äußerung, dass Musik vor und nach dem „Dritten Reich“ nicht anders klinge. Womit er sich natürlich quer zum Mainstream positionierte und zur musikalischen Nachkriegs-Avantgarde, die mit der Abkehr von Melodie und Tonalität oft weniger Kunst als Vergangenheitsbewältigung betrieb, was schließlich gradewegs ins Musica Viva-Ghetto führte.

Wahre Vielfalt

Wird die Berliner Staatsoper also mit Thielemann zum Hort des Konservativismus und kunstästhetischer Rückständigkeit, wie die Gegner des 64-jährigen Dirigenten fürchten? Schon liest man, dass nun gewissermaßen alle Hoffnungen auf Sobotka lägen, die Thielemann zusammen mit Joe Chialo einhegen müsse. Wenn es schon keine zweite Frau an der Spitze des Hauses geben soll, mit der sich, so die grüne Zeit, „viele“ leichter getan hätten, „am besten noch mit Migrationshintergrund“.

Aber was wäre eigentlich so schlimm daran, würde sich die Staatsoper, so die SZ, „eher dem konservativen Modell wie in Wien oder Mailand“ verpflichtet fühlen? Dank deutscher Teilung verfügt Berlin ja noch über ein zweites vollwertiges Opernhaus, die Deutsche Oper an der Bismarckstraße, an der sich egomanische Regisseure austoben könnten. Und dann gibt es noch die Komische Oper, wo der schrille Barrie Kosky, bis vor kurzem Intendant und nun „Hausregisseur“, seine Fans des Öfteren mit, meist intelligent gemachten, Travestieshows beglückt.

Wäre das nicht jene Vielfalt, die die Freunde von Aufbruch und Zukunftsorientierung immer auf den Lippen führen?

 

Georg Etscheit ist Autor und Journalist in München. Fast zehn Jahre arbeitete er für die Agentur dpa, schreibt seit 2000 aber lieber „frei“ über Umweltthemen sowie über Wirtschaft, Feinschmeckerei, Oper und klassische Musik u.a. für die Süddeutsche Zeitung. Er schreibt auch für www.aufgegessen.info, den von ihm mit gegründeten gastrosophischen Blog für freien Genuss, und auf Achgut.com eine kulinarische Kolumne. 

 

Redaktioneller Hinweis:

In der ursprünglichen Fassung des Textes wurde Barrie Kosky als Intendant bezeichnet, der er aber seit kurzem nicht mehr ist. Vielen Dank für den Hinweis an unseren Leser Friedrich Luft!

Foto: Christian Michelides CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons

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Leserpost

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Hans Bendix / 03.10.2023

Nun, den verehrten Vorschreibern, die an der Überschrift Anstoß nahmen, sei die Lektüre des M. Tullius Cicero empfohlen. Sowohl in den Philippischen Reden gegen M. Antonius, als auch in “de finibus” verwendet er die beanstandete Formulierung.

Claudio Casula / 03.10.2023

@Hans-Peter Dollhopf und @Alfons Hagenau: Der Begriff „Hannibal ad portas“ kann zum einen die Lage des karthagischen Feldherrn Hannibal in der Nähe der Stadttore bezeichnen (Hannibal bei den Toren). Die Präposition „ad“ gibt aber vor allem die Richtung an, will sagen, Hannibal war auf dem Weg „zu den“ Toren. Diese Übersetzung scheint am sinnvollsten, weil Hannibal nach seinem Sieg bei Cannae erst einmal auf Rom zumarschierte – „ante“ ist, wie korrekt festgestellt wurde, zeitlich gemeint. Vielleicht irre ich mich aber auch, mein Großes Latinum liegt mittlerweile 38 Jahre zurück…

Hans-Peter Dollhopf / 03.10.2023

“Dirigat” war mir tatsächlich neu. Etscheit lesen bildet! “Ad portas” kann ich jedoch noch nicht darunter verzeichnen.

Gerhard Schmidt / 03.10.2023

Bereits am Anfang seiner Karriere attestierte der “Spiegel” Thielemann (damals noch in Zürich) einen “faschistischen Dirigierstil” und die “Titanic” verhöhnte ihn als “Hitlerjunge Thielemann”. Da hat wohl einer alles richtig gemacht…

M.-A. Schneider / 03.10.2023

Berlin kann sich glücklich schätzen!

Andreas Rühl / 03.10.2023

Wir werden jetzt oefter in Berlin sein, das steht fest, die dortige Verwandtschaft wurde schon vorgewarnt. Einen Tristan mit thielemann und in der Pause den Blick aufs stadtschloss… Da koennte man fast auf die Idee kommen, das Land wäre noch zu retten. Ein gutes hat die masseneinwanderung uebrigens doch, das sind Taxifahrer. Nach einem musikalischen Hochgenuss einefettleibige Berliner schnauze ertragen zu müssen, bleibt einem so nämlich erspart. Wir haben dieses Jahr noch die Gelegenheit genutzt, thielemann und die staatskapelle zu hören, meistersinger. War phänomenal. Fast schon zu phänomenal und eingespielt, es fehlte irgendwie die Spannung zwischen Dirigent und orchester. Ich denke daher, dass thielemann den Wechsel mehr als Chance begreift, auch vor dem Hintergrund, dass er sich ständig verändert hat und weiter verändern will. Wer in thielemann einen konservativen sieht, hat keine ohren. Der Mann ist mehr ein Tüftler, einer, der immer weiter will, immer besser werden. DAS allerdings wäre schon eher ein Grund, fuer einige aus einem bestimmten Lager, ihn zu hassen.

Alfons Hagenau / 03.10.2023

Die Überschrift scheint mir etwas mißglückt: Entweder “vor den (Stadt-)Toren”, sprichwörtlich im zeitlichen Sinne gebraucht, dann “ante portas” mit Plural. Oder “am (Brandenburger) Tor”, dann Singular und “ad portam”. “An den Toren” ergibt IMHO keinen Sinn.

R. Schürmann / 03.10.2023

Ein großer Gewinn für Deutschland. Die Sachsen sind (größen)wahnsinnig, ohne Not auf einen solchen, wie man wohl sagt,  Ausnahmedirigenten zu verzichten. Dass die Berliner ihn eingefangen haben, war sicher die letzte Chance, ihn nicht ins Ausland abdriften zu lassen, wo man ihn überall mit Kusshand genommen hätte. Ich persönlich werde ihn trotzdem nicht Unter den Linden hören, weil ich wegen der Regisseure schon lange nicht mehr in die Oper gehe. Aber für diejenigen, die das Regietheater noch ertragen können, ist Thielemann ein Superbonus.

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