Christian Thielemann wird neuer Musikchef der Staatsoper Unter den Linden. Das ist ein kleines Wunder, gilt Thielemann doch als eingefleischter Konservativer, bekennender Preußen-Fan und wenig angetan von dekonstruktivistischen Operninszenierungen und zeitgenössischer Musik.
Es gibt Protagonisten der Kulturszene, die können wenig falsch machen, jedenfalls nicht in den Augen journalistischer Weihrauchschwenker. Zu ihnen gehört der Dirigent Sir Simon Rattle, der gerade beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks (BRSO) mit einer Reihe umjubelter Konzerte seinen Einstand als neuer Chefdirigent gab. Obwohl auch schon 68 Jahre alt und etwas steif im Kreuz, der Lockenkopf, sein Markenzeichen, längst ergraut, steht der sich locker gebende Brite immer noch im Ruf eines „jungen Wilden“ und unablässigen Erneuerers der Klassikszene.
Wenn Rattle, wie jetzt in der Münchner Isarphilharmonie, einer Aufführung der „Sechsten“ von Gustav Mahler („Die Tragische“), ein oft gespieltes Werk des spätromantischen Kanons, die Komposition einer französischen Tonkünstlerin in deutscher Erstaufführung voranstellt, gilt dies als „starkes Statement“. Neue Musik! Von einer Frau! Vom Chef selbst dirigiert! Zum Beginn seiner Amtszeit beim BRSO! Auch wenn das Stück mit dem Titel „Latest“ gerade mal zwanzig Minuten dauert, mutmaßlich sofort wieder in der Versenkung verschwinden wird, und Jolas auch schon 97 Jahre auf dem Buckel hat. Wobei hier keineswegs gegen alte, weiße Frauen gestänkert werden soll.
Andere haben es weniger leicht als Rattle. Zu ihnen zählt Christian Thielemann, der gerade vom Berliner Kultursenator Joe Chialo (CDU) zum neuen Musikchef der Staatsoper Unter den Linden gekürt wurde und ab der Saison 2025/26 Nachfolger des gesundheitlich angeschlagenen Daniel Barenboim wird, der das Haus als Generalmusikdirektor 30 Jahre lange prägte. An der Seite von Elisabeth Sobotka, die ab Herbst nächsten Jahres neue Intendantin der Staatsoper sein wird.
Ausgerechnet im woken Berlin!
Dass Thielemann überhaupt in dieses Amt gehoben wurde, kann als kleines Wunder gelten. Gilt der gebürtige Berliner doch, ganz im Gegensatz zu Sir Simon, als eingefleischter Konservativer, bekennender Preußen-Fan und wenig angetan von dekonstruktivistischen Operninszenierungen und zeitgenössischer Musik, egal ob von Frauen oder Männern komponiert. Dafür brilliert er in dem von ihm mit Inbrunst und Bravour gepflegten klassischen bis spätromantischen Repertoire, allen voran den Opern Richard Wagners. Selbst der Großkritiker der Süddeutschen Zeitung musste bekennen: „Wer einmal die ,Meistersinger‘ von ihm gehört hat, war im Elysium.“
Ausgerechnet im woken Berlin wird ihm nun, als Krönung seiner ebenso glorreichen wie wechselvollen Karriere, der prestigeträchtigste Posten der hauptstädtischen Kulturszene zuteil. Was wird wohl Ton-Steine-Scherben-Claudia (Roth) dazu gesagt haben, aus deren Etat sich die Staatsoper und vor allem die Berliner Staatskapelle, deren Leiter Thielemann nun wird, zu einem erheblichen Teil finanziert? Wobei die grüne Kulturstaatsministerin vielleicht Beißhemmungen hatte, ihrem auch für „gesellschaftlichen Zusammenhalt“ zuständigen Kollegen Chialo, Sohn einer tansanischen Diplomatenfamilie, in die Parade zu fahren.
Den Ausschlag für Thielemanns Berufung dürfte vergangenes Jahr sein Dirigat von Wagners „Ring des Nibelungen“ als Einspringer für Barenboim gegeben haben. Man könnte, wenn man das fulminante Presseecho als Maßstab nimmt, fast von einem Jahrhundertdirigat sprechen. Spätestens seit diesem Triumph waren auch die Musiker der Staatskapelle auf ihn eingeschworen. Zudem ist Thielemann nach seinem Abschied von der Dresdner Staatskapelle, den Bayreuther Festspielen und den Osterfestspielen Salzburg nirgendwo mehr fest engagiert. An dem frei flottierenden Genie, dem seine Fans buchstäblich zu Füßen liegen, kam man einfach nicht mehr vorbei.
In die rechte Ecke gestellt
Dass es dem seine Meinung stets offen zu Markte tragenden Thielemann gelungen ist, nicht der Cancel Culture zu verfallen, mutet indes rätselhaft an. Spätestens mit seinem Pegida-Interview von 2015 lieferte er seinen Kritikern genug Munition, um ihn endgültig in die rechte Ecke zu stellen. „Den Unzufriedenen zuzuhören scheint das Gebot der Stunde zu sein“, sagte Thielemann damals. In der Pegida-Bewegung sah Thielemann „Menschen, die sich ohnmächtig fühlen und diesem Gefühl Ausdruck geben. Wenn diese Ohnmacht weiter um sich greife, sei kein Staat mehr zu machen“. Im Stern schob er nach: „Ist denn C-Dur nach den zwölf Jahren Hitler etwa anders zu hören als zuvor?" Und, schrecklich, auch „Negerkuss“ wolle er weiterhin sagen können.
Schon zu Beginn seiner Karriere wurde ihm „Deutschtümelei“ unterstellt, weil er sich für das Werk Hans Pfitzners in die Bresche schlug. Pfitzner hatte sich in der Nazizeit den Machthabern angedient, wurde von den NS-Kulturbonzen später jedoch abserviert. Wie Richard Wagner war Pfitzner Antisemit und äußerte noch nach Kriegsende törichte Dinge über die Judenverfolgung. An der Größe seines musikalischen Werkes zwischen Spätromantik und Moderne, insbesondere seiner Künstleroper „Palaestrina“ und seiner Orchesterkantate „Von deutscher Seele“ besteht jedoch kein Zweifel. Der jüdische Dirigent Bruno Walter schrieb 1947: „Ich persönlich zähle die Aufführung des Palestrina, nach meiner Meinung eines der gewaltigsten musikalischen Bühnenwerke unserer Zeit, zu den großen Ereignissen meines Lebens.“
Nicht zuletzt auf die Qualität und Originalität von Pfitzners Kompositionen, die dringender denn je einer Renaissance bedürfen, bezog sich Thielemanns Äußerung, dass Musik vor und nach dem „Dritten Reich“ nicht anders klinge. Womit er sich natürlich quer zum Mainstream positionierte und zur musikalischen Nachkriegs-Avantgarde, die mit der Abkehr von Melodie und Tonalität oft weniger Kunst als Vergangenheitsbewältigung betrieb, was schließlich gradewegs ins Musica Viva-Ghetto führte.
Wahre Vielfalt
Wird die Berliner Staatsoper also mit Thielemann zum Hort des Konservativismus und kunstästhetischer Rückständigkeit, wie die Gegner des 64-jährigen Dirigenten fürchten? Schon liest man, dass nun gewissermaßen alle Hoffnungen auf Sobotka lägen, die Thielemann zusammen mit Joe Chialo einhegen müsse. Wenn es schon keine zweite Frau an der Spitze des Hauses geben soll, mit der sich, so die grüne Zeit, „viele“ leichter getan hätten, „am besten noch mit Migrationshintergrund“.
Aber was wäre eigentlich so schlimm daran, würde sich die Staatsoper, so die SZ, „eher dem konservativen Modell wie in Wien oder Mailand“ verpflichtet fühlen? Dank deutscher Teilung verfügt Berlin ja noch über ein zweites vollwertiges Opernhaus, die Deutsche Oper an der Bismarckstraße, an der sich egomanische Regisseure austoben könnten. Und dann gibt es noch die Komische Oper, wo der schrille Barrie Kosky, bis vor kurzem Intendant und nun „Hausregisseur“, seine Fans des Öfteren mit, meist intelligent gemachten, Travestieshows beglückt.
Wäre das nicht jene Vielfalt, die die Freunde von Aufbruch und Zukunftsorientierung immer auf den Lippen führen?
Georg Etscheit ist Autor und Journalist in München. Fast zehn Jahre arbeitete er für die Agentur dpa, schreibt seit 2000 aber lieber „frei“ über Umweltthemen sowie über Wirtschaft, Feinschmeckerei, Oper und klassische Musik u.a. für die Süddeutsche Zeitung. Er schreibt auch für www.aufgegessen.info, den von ihm mit gegründeten gastrosophischen Blog für freien Genuss, und auf Achgut.com eine kulinarische Kolumne.
Redaktioneller Hinweis:
In der ursprünglichen Fassung des Textes wurde Barrie Kosky als Intendant bezeichnet, der er aber seit kurzem nicht mehr ist. Vielen Dank für den Hinweis an unseren Leser Friedrich Luft!