Marcel Luthe, ehemals Berliner Abgeordneter für die FDP, war eine treibende Kraft bei der Aufklärung des Berliner Wahldesasters, das nun vor Gericht verhandelt wird. Im Interview mit Ulrike Stockmann beurteilt er den ersten Verhandlungstag.
Am Mittwoch begannen die Verhandlungen über eine Wiederholung der Berliner Wahlen vom vergangenen Herbst vor dem Berliner Verfassungsgerichtshof. Gerichtspräsidentin Ludgera Selting erklärte zum Auftakt der mündlichen Verhandlung, dass nach einer vorläufigen Einschätzung, der Berliner Verfassungsgerichtshof eine komplette Wiederholung der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus für erforderlich halte.
Bei der Vorbereitung und Durchführung der Wahl habe es eine Vielzahl von Wahlfehlern gegeben, so Selting. „Diese seien nach einer vorläufigen Einschätzung mandatsrelevant gewesen – sie hatten nach Einschätzung des Gerichts also Auswirkungen auf die Zusammensetzung des Parlaments und die Verteilung der Mandate. Verantwortlich seien die Landeswahlleitung und der Senat“, meldet unter anderem zdf.de. Auch die Wahlen zu den zwölf Berliner Bezirksverordnetenversammlungen seien laut Selting davon betroffen. Sollte das Gericht zu dem Urteil kommen, dass Neuwahlen anstehen, würde spätestens im März 2023 erneut gewählt werden.
Bei den letzten Berlin-Wahlen war es zu chaotischen Zuständen, wie dem bezirksweisen Vertauschen von Wahlzetteln gekommen. Außerdem hatte es wegen zu wenigen Kabinen und fehlenden Stimmzetteln teilweise stundenlange Wartezeiten vor den Wahllokalen gegeben, sodass Bürger entnervt aufgaben oder nach dem vorschriftsmäßigen Ende um 18 Uhr noch wählten. Aktuell werden Rücktrittsforderungen des aktuellen Berliner Bau- und damaligen Innensenators Andreas Geisel (SPD) als Vorsitzendem der Innenverwaltung laut.
Eine treibende Kraft bei der Aufklärung des Wahldesasters war Marcel Luthe, ehemaliger Berliner FDP-Abgeordneter und bei den letzten Wahlen Spitzenkandidat der Freien Wähler. Er wurde bei den vergangenen Wahlen nicht ins Berliner Abgeordnetenhaus gewählt. Er hatte einen eigenen Einspruch gegen die Wahl vorgelegt, der jedoch nicht verhandelt wurde.
Im Interview beurteilt Marcel Luthe den bisherigen Verlauf der Verhandlungen und den Zustand der Berliner Verwaltung.
Wie ordnen Sie den Auftakt der Verhandlung ein?
Luthe: Schön, dass das Gericht meiner Argumentation weitgehend gefolgt ist. Aber der Verfassungsgerichtshof widerspricht sich einmal mehr selbst; wenn er einerseits – richtigerweise – derart schwere Wahlfehler erkennt, dass diese Wahlen wiederholt werden müssen, dann sind andererseits die Personen, die als Parlament handeln, nicht demokratisch legitimiert. Und wer nicht demokratisch legitimiert ist, kann nicht Abgeordneter sein – das aktuelle Parlament war also dann nie eines, sodass das 18. Abgeordnetenhaus nicht aufgelöst ist.
Was wäre denn die Schlussfolgerung dieser Feststellung? Dass sämtliche bisher gefassten Beschlüsse des aktuellen Abgeordnetenhauses „rückgängig“ gemacht werden müssten? Wie sähen in der Praxis die Konsequenzen aus, wenn die jetzige Regierung nie gültig gewesen wäre?
Das aktuelle tagende Parlament würde sich – aber eben erst mit der Entscheidung des Gerichts – als Scheinparlament entpuppen. Da das 2016 gewählte 18. Abgeordnetenhaus erst mit dem Moment des Zusammentretens eines – demokratisch gewählten – 19. Abgeordnetenhauses kraft Gesetz aufgelöst ist, wäre dieses also weiter im Amt und nie wirksam aufgelöst worden. Das daraus resultierende Chaos hätte man vermeiden können, wenn das Verfassungsgericht seinerzeit meinem Antrag gefolgt wäre, bis zur Entscheidung über den Einspruch zu verbieten, dass ein Scheinparlament zusammentritt. Aber das ist nun verschüttete Milch. Ich halte es für den pragmatischsten Weg, dass das 18. Abgeordnetenhaus die Beschlüsse dieses „Scheinparlaments“ bestätigen kann, wenn es das für richtig hält.
Wie stehen die Chancen, dass mögliche Neuwahlen korrekt und nicht chaotisch wie beim letzten Mal stattfinden?
Das kommt darauf an, wer diese Wahlen verantwortet. Der anwaltliche Vertreter der Innenverwaltung hat in der Verhandlung am Mittwoch eine erschreckende Mischung aus Wurschtigkeit und demokratischer Unkenntnis offenbart, ohne dass etwa der anwesende Chef der Verwaltung eingeschritten wäre. Wenn solche Leute die Wiederholung verantworten, wird man nur versuchen, die Mängel besser zu vertuschen, sie aber nicht abstellen.
Liegt denn die Mangelhaftigkeit der Berliner Verwaltung an einzelnen Personen oder handelt es sich um ein tiefer liegendes Problem?
Jede Organisation wird durch ihre Führung beeinflusst, so eben auch der Öffentliche Dienst. Wenn wir uns anschauen, wie wenig Fachkompetenz viele Senatoren mitbringen oder mit welcher Mischung aus Ignoranz, Arroganz und Mobbing manche Staatssekretäre ihre Verwaltungen führen, muss da zunächst angesetzt werden. Die Berliner Verwaltung ist nicht schlecht. Sie ist nur unfassbar schlecht geführt.
Warum gibt es demnach so viele schlechte Führungskräfte in der Verwaltung?
Wir sprechen hier – wieder – von den politisch besetzten Spitzenpositionen. Die rekrutieren sich üblicherweise aus dem jeweiligen Parteiklüngel und eben nicht aus den besten Fach- und Führungskräften, sondern denen, die versorgt werden müssen. So kann das nichts werden.
Haben kompetente Menschen die Chance, dieses Klüngel zu durchbrechen oder liegt der Fehler im System?
Das Problem ist meines Erachtens vor allem die Angst der Akteure, sich sichtbar kritisch zu äußern – und ohne, dass der Erste vorangeht, setzt sich eben auch keine Masse in Bewegung.
Falls die Wahlen erneut stattfinden – werden Sie wieder als Spitzenkandidat der Freien Wähler antreten?
Eine Wahlwiederholung findet normalerweise mit denselben Kandidaten und Parteien statt wie die Wahl selbst. Angesichts der langen Zeitdauer seit dem Wahltag halte ich das aber für verfassungsrechtlich fragwürdig, denn die Freiheit der Wahl erfordert auch eine Auswahlmöglichkeit, die sich nach so langer Zeit ändern kann. Wenn etwa nach anderthalb Jahren eine neue Partei oder eine Wählervereinigung entsteht, an die damals noch niemand gedacht hat, muss diese auch auf dem Wahlzettel stehen können. Ich werde mich einer demokratischen Wahl gerne stellen.
Korrektur: In einer früheren Fassung dieses Beitrags stand, Marcel Luthe sei Mitglied der Freien Wähler. Er ist jedoch bei den Berliner Wahlen 2021 lediglich als parteiloser Spitzenkandidat für die Freien Wähler angetreten. Wir bitten um Entschuldigung.