In seinem Buch „Krise als Mittel zur Macht“ legt der Volkswirt Fritz Söllner dar, wie die Krisen der vergangenen Jahre von der Politik zur Förderung der EU-Zentralisierung missbraucht wurden. Wer aus seiner Sicht an den Schnittstellen sitzt, warum der Mittelstand in einem solchen System stört und wie er als Ökonom mit Krisen umgehen würde, verrät er im Interview. Das Gespräch führte Ulrike Stockmann.
In Ihrem Buch legen Sie eine Chronik der Krisen der vergangenen Jahre dar – Finanzkrise, Flüchtlingskrise, Coronakrise und so weiter – und beschreiben auch, wie diese einzelnen Krisen von den Machthabern instrumentalisiert wurden. Könnten Sie kurz herunterbrechen, wie das im Allgemeinen funktioniert?
Die Instrumentalisierung funktioniert natürlich im Einzelnen von Fall zu Fall anders, weil die Krise jeweils eine andere ist. Und die Ansatzpunkte sind deswegen auch andere. Aber die Gemeinsamkeiten sind folgende: Zum einen hat man in der Krise natürlich immer die Möglichkeit, vonseiten der Regierung die Solidarität und Unterstützung der Bevölkerung einzufordern. Indem man sagt, wir müssten jetzt alle zusammenhalten und das gemeinsam durchstehen. Damit kann man auch gleich einen Teil der Kritik abbügeln.
Außerdem kann man an der Krisenpolitik weitere Gemeinsamkeiten erkennen, an denen man eine Instrumentalisierung womöglich festmachen kann, wie ich auch in meinem Buch dargestellt habe. Der rote Faden, der sich durch alle Krisen zieht, besteht einerseits darin, dass im Laufe jeder Krise die Zentralisierung immer weitergetrieben wurde, insbesondere auf der Ebene der EU. Das heißt also, dass Brüssel in jeder Krise an Kompetenz gewonnen hat: teilweise nur ein Stück, wie bei der Finanz- und Bankenkrise, teilweise einen Riesenschritt, wie bei der Coronakrise und der Klimakrise.
Andererseits hat nicht nur die Zentralisierung zugenommen, sondern gleichzeitig auch Regulierung, Bürokratie, also die „Bevormundung“ der Bürger. Der Freiheitsgrad der Bürger ist systematisch von Krise zu Krise eingeschränkt worden. Und wenn man sich überlegt, was in der Klimapolitik noch alles kommen soll, kann man sich unschwer ausrechnen, dass man noch wesentlich weitergehen will.
An einer Stelle Ihres Buches heißt es sogar, dass dieser Krisen-Missbrauch, den Sie gerade beschrieben haben, mit dem Ziel verfolgt werde, „einen technokratischen und bürokratischen europäischen Einheitsstaat zu etablieren, in dem eine sich moralisch überlegen fühlende Elite für das Wohl der entmündigten Bürger sorgt“. Wer genau wünscht sich das, wer ist diese Elite und warum wünscht sie das?
Wie gesagt: Es geht in Richtung einer zunehmenden Zentralisierung auf EU-Ebene, und als Endpunkt steht der europäische Zentralstaat: Ein bürokratischer, dirigistischer Zentralstaat, in dem diese Elite den Bürgern vorschreibt, wie sie zu leben und zu wirtschaften haben, was zu tun und zu lassen ist. Was ist das für eine Elite? Sie besteht nicht nur aus den Politikern, sondern aus einem politisch-medial-zivilgesellschaftlichen Komplex, der durch persönliche und finanzielle Kontakte miteinander verbunden ist und eine gemeinsame Ideologie teilt. Diese habe ich als Gleichheits-Ideologie beschrieben, deren wesentliches Instrument ein sehr straffer, bürokratischer, dirigistischer Zentralstaat ist, in dem man natürlich diese Gleichheits-Ideologie besonders gut umsetzen kann.
Sie sprachen gerade davon, dass dies neben Politikern auch durch Medienvertreter vorangetrieben werde. Wie sieht das dann im Einzelnen aus? Spielen auch Vertreter aus der Wirtschaft beziehungsweise große Unternehmen eine Rolle?
Die Haupt-Triebkräfte sind einerseits Politiker, andererseits bestimmte Medienvertreter, zwischen denen ein gewisses Geben und Nehmen, vielleicht sogar eine Art Symbiose herrscht. Die Wirtschaft ist grundsätzlich wertneutral, die Unternehmen sind vor allem daran interessiert, ihre Gewinne zu maximieren. Wenn sich die politischen Rahmenbedingungen verändert haben, so wie sie sich verändert haben, dann ist es bestimmt im Interesse der Unternehmen, sich da anzupassen, mitzumachen, alles abzunicken und im Gegenzug Steuervorteile oder Subventionen zu erhalten.
Anders sieht es beim traditionell deutschen Mittelstand aus, der hinten runterfällt. In einem bürokratisch-dirigistischen Staat stört der Mittelstand nur. Denn da ist es sinnvoll, wenn man möglichst wenig Akteure hat, auf der einen Seite ein paar Großunternehmen, auf der anderen Seite die Gewerkschaften. Aber der Mittelstand wird unter die Räder kommen, was man teilweise auch schon bei der Corona- oder der Klimakrise gesehen hat.
Mittelstand ist ein sehr gutes Stichwort. Sie sind ja Ökonom und kritisieren all diese Krisen auch aufgrund der Tatsache, dass zu wenig Ökonomie zu ihrer Bekämpfung zum Einsatz kommt. Und wie man heute weiß, war ja gerade auch in der Coronakrise der Mittelstand der große Leidtragende. Warum gibt es vonseiten des Mittelstands nicht mehr Protest gegen „unökonomische“ Maßnahmen?
Vonseiten des Mittelstands gibt es durchaus Proteste, wie man an den kürzlich stattgefundenen Handwerkerprotesten in Ostdeutschland sehen konnte. Wenn ich mit Mittelstands-Vertretern rede, die ich aus meiner Heimat kenne, höre ich, dass alle schimpfen, unzufrieden sind und sich Sorgen machen. Das äußert sich jedoch noch nicht auf politischer Ebene. Woran das liegt – ob die Leute sich nicht so richtig trauen oder immer noch die Hoffnung haben, dass es besser wird – weiß ich nicht. Aber es ist schon ein erstaunliches Phänomen, denn ich hätte gedacht, dass es da mehr Proteste, mehr Unwillen gibt. Wahrscheinlich ist dies auch der Tatsache geschuldet, dass die Regierung in Aktionismus verfällt. Viele denken ja: Jetzt gibt es die Strompreisbremse, Gaspreisbremse und andere Hilfen und vielleicht wird alles wieder gut. Und natürlich scheut man sich, in bestimmte politische Ecken gestellt zu werden, was ja bei einer relativ prononcierten Kritik an der Regierung leicht passieren kann.
Das ist ja die große Tragik. Wenn es wirklich ums nackte Überleben geht – es gibt ja viele Insolvenzen, es gibt sogar Selbstständige, die sich umgebracht haben, weil sie durch die Corona-Maßnahmen pleitegegangen sind – wenn selbst dann noch die Angst vor politischer Stigmatisierung größer ist, finde ich das schon erschreckend.
Da sieht man mal, was hinter der ideologischen Hegemonie für eine Macht steckt. Ich finde das auch sehr bemerkenswert und komme nicht umhin, der Elite ein gewisses Maß an Anerkennung zu zollen, die es geschafft hat, das so weit durchzuziehen.
Als schlimmste uns bevorstehende Krise beschreiben Sie die Geldentwertungskrise. Was genau ist damit gemeint?
Mit Geldentwertungskrise meine ich die aktuelle Inflation, die ihre Ursache vor allem in der desaströsen Geldpolitik der EU seit 2010 hat. Da ist ein gewaltiger Überhang an Zentralbankgeld geschaffen worden, vor allem durch den Ankauf von Staatsanleihen gewisser Krisenstaaten aus Südeuropa. Dieser Geldüberhang hat sich jetzt Bahn gebrochen. Ursache der Inflation ist diese Politik, Auslöser sind Lieferkettenprobleme im Zuge der Corona-Maßnahmen, der Ukrainekrise oder Energiepreisanstiege. Ich behaupte, dass diese Geldentwertungskrise hausgemacht ist. Die Führung der EZB kann froh sein, dass sie Putin als Sündenbock hat und von ihrer eigenen Verantwortung ablenken kann.
Aber realistischerweise muss man davon ausgehen, dass das Ziel einer Inflationsrate von zwei Prozent in den nächsten Jahren nicht zu erreichen ist. Das ginge überhaupt nicht. Weil in der Geldpolitik kein grundsätzliches Umsteuern zu erkennen ist, vielleicht auch nicht gewollt ist. Darunter würden nämlich die südeuropäischen Krisenstaaten leiden, so dass wieder Haushaltskrisen auf uns zukämen. Letztendlich wird durch diese Inflation die Zentralisierung wieder ein Stück weitergetrieben. Es wird wahrscheinlich argumentiert werden, dass wir den Euro krisenfest machen müssen und dafür eine Finanz-, Steuer-, Schuld- und Transferunion etc. brauchen, also im Endeffekt den von mir beschriebenen Zentralstaat. Und dieser Ansatz ist auch vollkommen korrekt. Denn der Euro wird wirklich erst in einem zentralen Staat funktionieren.
Jetzt ist die Frage: Was war zuerst da – der Euro oder der Zentralstaat?
Diese Frage habe ich mir auch gestellt. Bei der Einführung des Euro gibt’s im Wesentlichen zwei Möglichkeiten: Entweder die Entscheidungsträger haben damals nicht gewusst, worauf sie sich einlassen, was ich mir nicht vorstellen kann, weil es durchaus warnende Stimmen vonseiten der Ökonomie gab. Oder aber, sie wussten es und die Absicht war, dass über den Euro diese Zentralisierung vorangetrieben werden soll.
Wie bewerten Sie die Effektivität der Sanktionen gegen Russland?
Das kommt darauf an, welches Ziel man mit den Sanktionen verfolgt.
Das gängige Erklärungsmodell lautet, dass wir diese Sanktionen brauchen, um Putin unter Druck zu setzen, damit er schneller aufgibt und sich aus der Ukraine zurückzieht.
Wenn das Ziel der Sanktionen der Rückzug Russlands ist, dann haben sie bislang offenbar nicht gewirkt. Dass man den Export von Hochtechnologiegütern und Waffen nach Russland verbietet und, soweit möglich, verhindert, ist klar. Sanktionen hinsichtlich der Exporte Russlands – Boykott von Öl- oder Gaslieferungen – werden nicht besonders erfolgreich sein, bislang sind sie es auch nicht. Aus dem einfachen Grund, dass zwar der mengenmäßige Absatz zurückgegangen ist, dies jedoch durch die hohen Preissteigerungen überkompensiert worden ist. Von dieser Seite her hat sich für Russland kaum etwas verändert. Zwar ist Schaden angerichtet worden. Bestimmt hat Russland 2022 einen Einbruch der Wirtschaftsleistung um zehn Prozent erlitten. Und in den nächsten Jahren wird die russische Wirtschaft allenfalls stagnieren. Das eigentliche Ziel wurde aber bislang nicht erreicht. Da fehlt auch eine Kosten-Nutzen-Analyse: Was schaden uns die Sanktionen, was bringen sie uns?
Die Sanktionen schaden ja auch uns selbst. Kann man feststellen, welcher Seite sie mehr Schaden zufügen?
Die Sanktionen schaden bestimmt Russland mehr als uns, weil einfach die Einbußen an Wirtschaftsleistung in Russland größer sind. Aber es geht ja nicht darum, wie groß der Schaden ist, den ich anrichte, sondern ob ich meine Ziele erreichen kann. Und bis jetzt wurden sie nicht erreicht.
Wenn Sie Wirtschaftsminister wären, welche Beschlüsse würden Sie dann angesichts der Kriegssituation treffen?
Aus ökonomischer Sicht müsste man grundsätzlich zweckrational vorgehen. Das heißt, man müsste erst einmal ein Ziel definieren, das mit den Sanktionen erreicht werden soll. Im zweiten Schritt würde man sich überlegen, wo der Gegner verwundbar ist und auf welche Weise man dieses Ziel am besten erreichen kann. Dann ergreift man die Sanktionen und viertens – ganz wichtig – stellt man sich die Frage, funktionieren sie oder nicht? Und falls sie nicht funktionieren, muss man die Sanktionen überarbeiten beziehungsweise revidieren. Welcher Art sollten die Sanktionen genau sein? Den Zugang zu den Waffen- und Hochtechnologiemärkten sollte man abschneiden, das ist klar. Wenn man das Ziel der Verhaltensbeeinflussung verfolgt, ist es wichtiger, dafür zu sorgen, dass Putin sich keine Waffen kaufen kann, anstatt dafür zu sorgen, dass er kein Geld hat. Von Gas- und Ölboykotten halte ich deshalb nichts.
„Krise als Mittel zur Macht“ von Fritz Söllner, 2022, München: Langen Müller Verlag. Hier bestellbar.
Fritz Söllner ist Professor für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Finanzwissenschaft, an der Technischen Universität Ilmenau. Er war an der Universität Bayreuth als Privatdozent tätig und hat sich als John F. Kennedy Fellow an der Harvard University in Cambridge/USA aufgehalten. Seine Forschungsschwerpunkte sind Migrationspolitik, Umweltökonomie und die Geschichte des ökonomischen Denkens. 2019 ist von ihm im Springer-Verlag das Buch „System statt Chaos – Ein Plädoyer für eine rationale Migrationspolitik“ erschienen, 2021 im gleichen Verlag das Lehrbuch „Die Geschichte des ökonomischen Denkens“.