Das theoretische Fundament für den Vorwurf der „kulturellen Aneignung“ wirft einige Fragen auf. Nimmt man die Behauptungen ernst, dürften die Konsequenzen der Wokeria nicht gefallen.
Im Zuge der Karnevals ist die Debatte wieder entflammt, ob es legitim sei, sich als Indianer zu verkleiden. Ähnliche Debatten gibt es auch darüber, ob Europäer Reggae-Musik spielen, Rasta-Frisuren tragen oder gar Yoga treiben dürfen, das geht in die Diskussion über, ob die Kolonialmächte von einst legitimerweise die Kunst der Kolonialisierten ausstellen sollten oder vollständig zurückgeben müssten. Dabei macht sich offenbar kaum jemand die Mühe, die zugrundeliegenden Thesen zu Ende zu denken, denn das führt zu einigen paradoxen Konsequenzen, von denen man sich nicht vorstellen kann, dass die Protagonisten dieser Denkrichtung selbst allzu glücklich darüber wären, wenn diese Realität würden. Betrachten wir kurz die Grundannahmen, die diesem Theorem zugrundeliegen, die für sich genommen eine erstaunliche Begeisterung für ethnisch-kulturelle Kollektive und Abstammungsgemeinschaften zeigen:
- Erstens: Es gibt homogene ethnische und kulturelle Gruppen, die über Jahrhunderte weg stabil bleiben und deren Zugehörigkeit durch Abstammung definiert ist. Also ein afroamerikanischer Immobilienmakler in New York ist per Abstammung ewig und untrennbar mit seinem Vorfahren verbunden, der im 18. Jahrhundert auf einem Sklavenschiff in die neue Welt gekommen ist.
- Zweitens: Diese Gruppen verfügen über ein kollektives geistiges Eigentum. Zu diesem kollektiven geistigen Eigentum gehört jede Tradition, Kunst, Musik, Kleidung, die je einzelne Personen aus diesen Gruppen erzeugt haben. Wenn zum Beispiel in einer Gruppe von Millionen von Menschen eine Gruppe von Musikern einen bestimmten Musikstil entwickelt, dann haben alle Millionen Angehörigen dieser Gruppe auch Generationen später noch das Recht, darüber zu entscheiden, wer diesen Musikstil verwenden darf.
- Drittens: Dieser Anspruch existiert allerdings nur, wenn diese Gruppe weniger Macht hatte als eine andere Gruppe, was bedeutet, dass „Macht“ kein individuelles Vermögen ist, sondern immer kollektiv von einer Abstammungsgemeinschaft ausgeübt oder erlitten wird.
Wenn man diese Thesen ernst nimmt, ergeben sich daraus eine Reihe von Fragen. Wer kann zum Beispiel für sich in Anspruch nehmen, Teil dieser Gruppe zu sein, und wer hat das Recht, für dieses imaginierte Kollektiv zu sprechen? Welcher Gruppe gehört zum Beispiel die Reggae-Musik? Allen Bewohnern der Karibik, allen Jamaikanern, die Reggae hören, allen jamaikanischen Musikern, die Reggae spielen? Wer entscheidet dann letztendlich darüber, wer und wann unter welchen Bedingungen Reggae spielen darf? Die jamaikanische Regierung, die jamaikanische Künstlerinnung, ein neu zu wählendes Kulturparlament per Mehrheitsentscheidung oder per Meinungsumfrage oder jeder einzelne Jamaikaner mit einem persönlichen Veto? Oder am Ende Akademiker an westlichen Universitäten, die sich in einem Akt der Selbstermächtigung aufgrund überlegener intellektueller Einsicht zur moralischen Autorität erheben und verbindliche Verhaltensregeln für die übrige Menschheit erlassen?
Ein Verbot der kulturellen Aneignung würde die Erinnerung auslöschen
Eine weitere Frage lautet, was genau unter einem Machtungleichgewicht zwischen Kulturen zu verstehen ist. Polen war eine spätmittelalterliche Großmacht und besaß sehr viel Macht. Im 19. Jahrhundert war Polen zwischen Preußen, Österreich und Russland geteilt worden und besaß keine Macht mehr. Türken und Italiener besaßen als Kolonialherren enorme Macht, als Gastarbeiter in Deutschland eher weniger. Muslime waren im Indien des 17. Jahrhunderts mächtiger als ihre Hindu-Untertanen, heute wird Indien von der Hindu-Mehrheit regiert und von den Hindu-Nationalisten regiert. Die Chinesen waren eine Weltmacht, wurden dann zum Spielball westlicher Großmächte und sind heute wieder Weltmacht. Ist es jetzt legitim, sich als Konfuzius zu verkleiden, weil die Chinesen heute mächtig sind, oder nicht legitim, weil sie um 1900 ohnmächtig waren? Sollte Jamaika durch Wirtschaftsreformen ein karibischer Wirtschaftstiger werden, darf man dann in Europa wieder Reggae spielen?
Friedrich August von Hayek sprach von den „unbeabsichtigten Konsequenzen“ von Politik. Damit meinte er, dass Politik oft genau das Gegenteil von dem erreicht, was sie ursprünglich intendiert hat, weil sie die Konsequenzen und Nebeneffekte einfach nicht zu Ende denkt. Die Theoretiker der kulturellen Aneignung haben die Regel aufgestellt, dass man sich nicht die Kultur jener Völker aneignen darf, zu denen ein Machtgefälle bestand oder besteht. Man dürfe sich aber die Kultur von Völkern aneignen, die mächtiger als die eigene sind oder auf Augenhöhe bewegen. Die Konsequenz dieser Regel ist ziemlich paradox: Ein deutsches Kind dürfte sich demnach nicht mehr als Indianer verkleiden, weil diese von Europäern unterworfen wurden, aber als japanischer Samurai-Krieger oder Shogun, weil diese den Europäern erfolgreich die Stirn geboten und selbst ein Kolonialreich aufgebaut haben. Die Konsequenz: Kinder dürften sich in Zukunft nur noch mit der Kultur der „Gewinner“ und nicht mehr mit der der „Verlierer“ der Geschichte identifizieren. Das ist fast schon ein Nietzscheanischer Ansatz: Nur die Kultur, die den Machtkampf gewonnen hat, schafft es noch ins Kinderzimmer.
Die Vertreter der These von der „Kulturellen“ Aneignung erklären, sie wollten die betreffenden Kulturen vor der Kommerzialisierung, Trivialisierung und Banalisierung schützen. Das klingt gut, hat allerdings einen Haken: Jede Kultur, die beim Stand der Globalisierung und allgemeinen Massengeschmacks nicht schafft, ein Teil der Populärkultur und der Trivialisierung zu werden, ist dem kollektiven Vergessen überantwortet. Die meisten Menschen würden ohne Asterix und Obelix gar nicht wissen, was „Gallier“ und „Druiden“ überhaupt sind. Was würde also passieren, wenn sich die Vorkämpfer des Verbots der „kulturellen Aneignung“ durchsetzen würden? Indianerkostüme würden aus dem Handel verschwinden, Karl-May-Romane aus den Regalen und der letzte Mohikaner aus dem Kino. Das Ergebnis wäre: Die Erinnerung an die Indianer würde einfach aus dem kulturellen Gedächtnis gelöscht. Das Verbot der kulturellen Aneignung würde nicht dazu führen, dass die Menschen ein enorm komplexes, historisch und völkerkundlich korrektes Bild der Indianer gewinnen, sondern dass sie gar kein Bild von Indianern mehr haben. Eine Kultur vor Trivialisierung zu schützen, heißt, sie vor gesellschaftlicher Relevanz zu schützen.
Die Forderung nach dem Ende der „kulturellen Aneignung“ birgt auch politisch eine ironische Pointe: Wenn man das konsequent zu Ende denkt, dann kommen wir zu einer Gesellschaft, in der man nur dann auf der sicheren Seite steht, wenn man einheimische Kleidung, Kultur, Musik, Kostüme und Motive verwendet: Zöpfe statt Rastalocken, deutsche Volkslieder statt HipHop, Bach statt Bob Marley, Turnen statt Yoga, Ritter und Prinzessin statt Indianerhäuptling und Pocahontas, Heimatkundemuseen statt afrikanischer Kunst. Spätestens wenn im Zuge der kolonialen Wiedergutmachung das letzte afrikanische Kunstwerk aus dem Humboldt-Forum entfernt und nach Afrika zurückgebracht worden ist, gibt es dort genug Museumsraum, um die Vision des früheren Berliner Bürgermeisters Müller zu verwirklichen, dort ein Berliner Heimatmuseum einzurichten. Bei Zilles Zeichnungen, Leierkästen, Litfaßsäulen und Ernst-Reuter-Reden besteht Klarheit darüber, dass es sich nicht um kulturelle Aneignung handelt, die Eigentumsfrage wäre geklärt und auch die Berliner und die Touristen wären wohl zufrieden. Insoweit fördert die Ablehnung der „kulturellen Aneignung“ im Endeffekt die kulturelle Homogenität und die Verdrängung außereuropäischer Einflüsse.
Dr. Gérard Bökenkamp, geb. 1980, ist Historiker und Autor. Für seine Doktorarbeit mit dem Titel „Das Ende des Wirtschaftswunders“ wurde er 2011 mit dem Europapreis des Vereins Berliner Kaufleute und Industrieller (VBKI) ausgezeichnet.