Leider muss ich meinen Artikel über die Königsberger Klopse noch einmal verschieben, denn wieder drängt sich die Aktualität in den Vordergrund, diesmal in Form der aus der VW-Kantine gestrichenen Currywurst. Namentlich Alt-Bundeskanzler Gerhard Schröder, der idealtypisch für einen der letzten alten weißen Machos in der bundesdeutschen Politik steht, äußerte Unverständnis über die Entscheidung, die wohl in Wahrheit eher ein Werbegag war und dem immer noch unter dem Abgasskandal leidenden Unternehmen ein wokes Image verleihen soll, mit dem man Tesla und seiner Berliner „Gigafactory“ Paroli bieten kann.
„Currywurst mit Pommes ist einer der Kraftriegel der Facharbeiterin und des Facharbeiters in der Produktion. Das soll so bleiben“, wurde Schröder nach der epochemachenden Entscheidung in der Fachpresse zitiert, ein wundervoller Satz, über den ein ganzes Team von PR-Spezialisten seines Büros stundenlang gebrütet haben muss. Schröder zelebrierte stets formvollendet seine Herkunft aus dem „Volk“ (heute wahlweise „Bevölkerung“ oder „Pack“) und huldigte offensiv der Currywurst, die mit Pommes accompagniert in den Rang einer „Kanzlerplatte“ erhoben wurde. Dabei stammte Schröder weder aus Berlin, der Urheimat dieser Spezialität, oder dem Ruhrpott, wo ein anderer Edelprollo namens Horst Schimanski seine Currywurst mampfte und Herbert Grönemeyer dichtete: „Gehste inne Stadt / Wat macht dich da satt? 'Ne Currywurst / Kommste vonne Schicht / Wat schönret gibt et nich' / Als wie Currywurst“.
„Mit oder ohne Darm“
Für die Currywurst ist nun jedenfalls Schicht im Schacht, zumindest in der Kantine des „Markenhochhauses“ von VW, was immer man sich darunter vorstellen mag. Denn natürlich wollten die VW-Oberen keinen ArbeiterInnenaufstand provozieren, weshalb das Gericht in einer anderen Kantine in der Nähe weiter erhältlich ist. Wie auf Wikipedia zu lesen, ist die VW-Currywurst seit 1973 „über die Werksgrenzen“ hinaus bekannt und beliebt, wird von der VW-eigenen Fleischerei in Millionenstückzahlen produziert, und zwar in Form einer Currybockwurst, einer Brühwurst, bei der das Gewürz schon dem Brät beigemischt ist, was sie besonders pikant machen soll.
Für die Originalversion, wie sie im September 1949 die Berliner Gastronomin Herta Heuwer in ihrer Imbissbude Ecke Kant-/Kaiser-Friedrich-Straße im Berliner Bezirk Charlottenburg erstmals ihren Gästen serviert haben soll, wird dagegen eine weder geräucherte noch gepökelte Bratwurst verwendet – mit oder ohne Darm. Dabei wird, zumindest in Berlin, der armen Bratwurst nicht das Fell über die Ohren beziehungsweise der Darm vom Brät gezogen. Es handelt sich um zwei verschiedene Produkte, wobei die Variante „ohne Darm“ den bayerischen Wollwürsten ähnelt, die auch ohne die tierische Hülle ihre Form behalten. Als Tourist in Berlin sollte man auf die Frage „mit oder ohne Darm“ vorbereitet sein und sich von der anzüglich klingenden Ansage nicht den Appetit verderben lassen.
Süchtig machende Mischung aus süß, salzig und fettig
Vom rein gastronomischen Standpunkt aus betrachtet, ist die Currywurst schwerlich mit den Maßstäben verfeinerter Küche zu messen. Die Mischung aus gebratenem Schweinefett und süß-scharfer Tomatensauce verklebt zuverlässig jede Geschmackspapille und lässt als begleitendes Getränk eigentlich nur Dosenbier oder ein Stamperl Magenbitter zu. Trotzdem muss das Gericht seine Qualitäten haben, führte es doch fast dreißig Jahre lang die Hitliste der beliebtesten Kantinengerichte an, bis sie 2020 von Spaghetti Bolognese auf Rang zwei verwiesen wurde. Es ist wohl, wie so oft, die Mischung aus süß, salzig und fettig, die unwiderstehlich ist und allen Speisen zugrunde liegt, die suchtartige Reaktionen auslösen. Und der kurze Durchhänger der Currywurst könnte eine Folge von Corona sein. Vielleicht wollten die Menschen nur ihren unbefriedigten Reisehunger stillen und griffen deshalb noch häufiger als sonst zu Nudeln mit Tomatensoße.
Fast- oder Streetfood nach Art der Currywurst kann einen hohen Spaß- und Genussfaktor haben, vor allem dann, wenn man versteht, daraus ein kleines, kultiges Ereignis zu machen. Wobei ich persönlich eine Currywurst niemals als Tellergericht in einem Restaurant oder einer Kantine sitzend zu mir nehmen würde. Das Transitorische ist unabdingbarer Bestandteil der Currywurst-Kultur, wie die hölzerne Pieke, das weiße Pappschiffchen, das Dosenbier, der von den scharfen Krusten der zeitgleich verschlungenen Pommes aufgeraute Gaumen und das sich der hektischen Mahlzeit anschließende Völlegefühl.
Proll-Charakter, der immer auch an Ejakulat denken lässt
Natürlich gibt es Versuche, die Currywurst zum Edelgericht zu erklären, gar emporzuheben in die Sphären der Hochküche. Fernseh-Sternekoch Johann Lafer, der einmal vorschlug, die Snack-Spezialität zum Weltkulturerbe zu erklären, lässt für seine selbst hergestellte Currywurstsauce Zwiebeln mit Currypulver gut anrösten, gibt dann Tomatenmark und passierte Tomaten dazu. Lafer bevorzugt Madras-Curry. „Dann muss man das ganz lange und langsam kochen ähnlich wie eine Bolognese-Soße. Die Soße wird durch ein feines Sieb passiert und dann hat man in der Regel eine wirklich schöne, cremige, nicht gebundene Soße.“
Abschmecken kann man den Sugo ganz nach eigenem Gusto mit Zucker, Ingwer, Vanille oder gar einem Schuss Coca-Cola. Man kann sie auch gleich ganz auf der Basis der Brause herstellen und mit Apfelmus, Ketchup, Worcestersauce und Tabasco anreichern. Natürlich ist die Güte der Bratwürste nicht ohne Belang, wobei die scharfe Sauce den feinen Fleischgeschmack meist überdeckt. Zu scharf gewürzt oder geräuchert sollten sie indes nicht sein, das wäre eindeutig zu viel des Guten. Wer will, kann die Pommes dazu selbst schnippeln und frittieren oder Ofenkartoffeln zur hausgemachten Currywurst reichen.
Doch, wie gesagt, der machohafte Proll-Charakter, der immer auch an Pimmel und Ejakulat denken lässt, gehört zur Currywurst wie Thanner zu Schimanski. Sie ist eines der letzten Zeugnisse einer schon fast untergegangenen Arbeiterkultur. Und wenn der Imbiss um die Ecke schon auf modisches Pulled Pork oder veganen Wurstersatz umgestellt hat, tut es zu Hause allemal das Curry-Ketchup aus der Plastikbuddel, nebst Fertig-Pommes aus dem Gefrierbeutel. Danach darf man laut aufstoßen und sich mit Sixpack vor die Glotze knallen. Nochmal Grönemeyer: „Bisse dann richtig blau / Wird dir ganz schön flau / Von Currywurst / Rutscht dat Ding dir aus / Gehse dann nach Haus / Voll Currywurst / Auf'm Hemd auffer Jacke / Ker wat ist dat 'ne ka, alles voll Currywurst.“