Gastautor / 02.01.2018 / 17:30 / Foto: Danilo Škofič / 17 / Seite ausdrucken

Bürgerversicherung – was ist da faul?

Von Frank Mußhoff.

Ein Dauerbrenner bei SPD, Bündnis 90/Die Grünen und DIE LINKE ist die sogenannte Bürgerversicherung (BV). Aktuell ist sie wieder ganz oben auf der öffentlichen Agenda gelandet, da die SPD die Einführung der Bürgerversicherung als Voraussetzung für eine erneute Koalition mit CDU/CSU benannt hat. Insbesondere Prof. Dr. Karl Lauterbach (SPD) steht innerhalb der SPD als Experte für die Bürgerversicherung und fordert, endlich die „Zweiklassengesellschaft“ in der Krankenversicherung abzuschaffen und ein einheitliches Modell – die Bürgerversicherung – einzuführen, mit der die privaten Krankenversicherungen (PKV) beziehungsweise deren Versicherte in die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) überführt werden sollen.

Dabei sollen laut seiner Aussage Beamte automatisch und andere privat Versicherte auf freiwilliger Basis in die Bürgerversicherung übernommen werden. Zudem sollen alle erstmalig Versicherten keine Wahlfreiheit mehr haben und müssen in der Bürgerversicherung versichert werden. Für Beamte soll es einen beihilfefähigen Tarif geben, und für Selbstständige werde man die „Bemessung der Beiträge … einkommensabhängig ausgestalten“. Selbstständige mit geringem Einkommen sollen weniger bezahlen. Die Pflege wird ebenfalls komplett in die Bürgerversicherung wandern, und es soll eine „einheitliche Honorarverordnung“ für Ärzte geben. Ziel der Bürgerversicherung sei zudem eine Rückkehr zur paritätischen Finanzierung.

Das aktuelle System

Die gesetzliche Kranken-Versicherung  ist die verbindliche Versicherung für alle Bürger in Deutschland. Allerdings gibt es die bekannten Ausnahmen. Arbeitnehmer, welche pro Monat mehr als 4.950 Euro Brutto (Stand 2018) verdienen, befinden sich oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze und dürfen entweder weiterhin freiwillig Mitglied der GKV bleiben oder aber in das System der PKV wechseln. Gleiches gilt – allerdings unabhängig vom Einkommen – für Selbstständige, Freiberufler, Beamte und Studenten. In der GKV sind Ehepartner und Kinder bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres mitversichert, sofern ein eventuelles eigenes Einkommen von 450 € pro Monat nicht überschritten wird. In der PKV müssen Ehepartner und Kinder selbstständig versichert werden.

Bei den Leistungen unterscheiden sich die GKV und PKV deutlich. In der GKV hat der Versicherte eingeschränkte Möglichkeiten der Selbstbestimmung, nur eingeschränkte Arzt- und Krankenhauswahl, Mehrbettzimmer, Einschränkungen bei Art und Umfang der gewährten Leistungen, kaum Zugang zu neuen und innovativen Produkten und Medikamenten am Markt.

Die PKV dagegen leistet, in Abhängigkeit vom gewählten Tarif, teilweise erheblich mehr und setzt deutlicher auf die Eigenverantwortung des Versicherten. Im Gegensatz zur GKV kann der Privatpatient seinen Arzt frei wählen, Einzel- oder Zweibettzimmer im Krankenhaus nutzen, erhält im Bereich von Zahnersatz und Sehhilfen eine umfangreiche Erstattung. Es gibt auch Mischformen bei den Tarifen in der PKV, wo beispielsweise ambulante Leistungen mit maximaler Leistung versichert sind, aber für den Krankenhausaufenthalt nur Regelleistungen (GKV) vereinbart wurden. Der Kunde kann also individuell entscheiden, wieviel Geld er investieren will und stellt sich seinen Versicherungsumfang entsprechend zusammen.

Kritik am aktuellen System

Die Politik hat immer wieder an der GKV Hand anlegen müssen. In der Regel, um die Leistungen für die Versicherten zu verschlechtern, da das System finanziell immer wieder aus dem Ruder lief. Meist wirken die „Korrekturen“ kurzfristig und die gesetzlichen Krankenkassen können Schulden abbauen oder, wie es vor einigen Jahren war, sogar Überschüsse erwirtschaften.

Die privaten Versicherer haben als Geschäftsmodell natürlich die Erwirtschaftung von Gewinnen in Ihrer Agenda stehen und agieren dementsprechend. Je nachdem, wer sich in der PKV versichern möchte, gibt es vorab Untersuchungen und umfangreiche Fragebögen zum allgemeinen Gesundheitszustand des Antragstellers. Im Gegensatz zur GKV besteht für die PKV keine Verpflichtung zur Versicherung. Das erlaubt der PKV, sich die Rosinen herauszupicken oder aber Angebote zu unterbreiten, die wenig attraktiv für den möglichen Neukunden sind.

In der Debatte um die Bürgerversicherung als Ersatz für GKV und PKV, wobei die Bürgerversicherung letztlich die GKV mit neuem Namen ablöst und in erster Linie an die Besserverdiener herankommen möchte, werden meist die klassischen Neidargumente angeführt. Die Wartezeit beim Arzt und die schlechteren Leistungen. Auch hier hat der Gesetzgeber versucht, die Terminvergabe zugunsten der Mitglieder der GKV zu beeinflussen, aber es hängt trotzdem nach wie vor von der Praxis, dem Arzt und der Auslastung ab.

Der Gesetzgeber versucht durch immer neue Regelungen, welche zumeist Einschränkungen sind, das System zu regulieren. Dabei wurden immer neue Stell- und Daumenschrauben installiert. Das System an sich krankt nach wie vor an einer Überregulierung und vielen Beschränkungen. Wettbewerb und Leistungsstärke sind nicht unbedingt das Credo staatlicher Reglementierung. Stattdessen werden viele vom Arzt zu erbringenden Leistungen vorgegeben, bei einer im Vergleich zur PKV deutlich schlechteren Vergütung.

Ein Arzt, welcher ausschließlich von gesetzlich versicherten Patienten leben soll, hat es durchaus nicht leicht. Um dessen Situation noch zu erschweren, wurde 1993 die Budgetierung eingeführt, welche klar vorgibt, welchen Höchstbetrag ein Arzt im Quartal respektive im Jahr abrechnen kann. Damit wird natürlich nicht nur der von den Krankenkassen zu zahlende Betrag gedeckelt, sondern auch die Leistungen für den Patienten und der Anreiz für den Arzt, eine umfassende Leistung zu erbringen.

Bis heute kann man der GKV bescheinigen, dass die Leistungen für die Versicherten in der Regel immer schlechter wurden, während die Beiträge fast immer anstiegen. Zudem wurde die paritätische Finanzierung dieses Systems zum Teil ausgesetzt, da der Beitragssatz für den Arbeitgeber festgeschrieben wurde. Unter’m Strich also eine fragwürdige Situation in der GKV.

Die PKV befindet sich im Gegensatz dazu in der Situation, dass sie niemanden versichern muss. Das ist natürlich ein unschätzbarer Vorteil für die gewinnorientierten Unternehmen. Allerdings erhält der Kunde der PKV gerade deswegen die hervorragenden Leistungen. Zumeist finden sich unter den Versicherten – meist dann, wenn es sich um Selbstständige oder Arbeitnehmer in Führungspositionen handelt – verantwortungsbewusste, auf ihre Gesundheit bedachte Menschen, die Leistungen der PKV nur dann in Anspruch nehmen, wenn es notwendig ist.

Das hat auch mit dem üblichen Selbstbehalt von mehreren hundert Euro pro Jahr zu tun, die der Versicherte selbst aufwenden muss, bevor die Versicherung die weiteren Kosten übernimmt. Diese Tatsache diszipliniert und entlastet die Gemeinschaft der Versicherten, was wiederum den wirklich Kranken dann zugute kommt.

Das System der GKV dagegen unterstützt die Eigenverantwortung nicht. Hier will wieder einmal mehr der Staat das Denken für den Bürger übernehmen und ihn nach Schema F behandeln. Es wird dem Versicherten nicht einmal die freie Arztwahl zugestanden, eine alternative Behandlungsmethode auch nur in seltenen Ausnahmefällen. Zudem ist die Budgetierung ein ewig kreisendes Damoklesschwert über dem Haupt der Versicherten und der Ärzte.

Man gewinnt den Eindruck, dass es mehr um die Verwaltung von Versicherten geht und um eine möglichst ohne großen Aufwand betriebene Behandlung, um zumindest den Anschein zu erwecken, man würde sich umfassend um den Versicherten sorgen und bemühen. Die PKV bietet dazu das entsprechende Kontrastprogramm.

Bürgerversicherung – der große Wurf?

Nun soll die Bürgerversicherung also der große Wurf sein. Es wird versprochen, dass damit die Zwei-Klassen-Gesellschaft in der Krankenversicherung abgeschafft wird und alle Versicherten nach ihrem (finanziellen) Leistungsvermögen solidarisch das Gesundheitswesen finanzieren sollen. Keine Ausnahmen, keine Vorteile für einige Wenige und keine Nachteile für die Masse der Versicherten. Es soll für alle alles besser werden und das System insgesamt finanziell wesentlich besser dastehen. Wird es das wirklich? Was bedeutet es, wenn alle Beamten zwangsweise und all diejenigen, welche unter die deutlich anzuhebende Bemessungsgrenze fallen, in der BV versichert sind? Ist eine Verbesserung der Leistungen zu erwarten?

Nein. Natürlich nicht. Es gibt mehr (zum Teil) solvente Beitragszahler, die ein eher marodes und aufgeblähtes System finanziell retten sollen. Denn die zusätzlich verfügbaren finanziellen Mittel werden kaum relevant sein. Schließlich sind nur knapp 9 Mio. Menschen in der PKV versichert, während es in der GKV über 72 Mio. sind. Insgesamt also nur rund 11 Prozent. Denn die in der PKV Versicherten haben sofort einen vollumfänglichen Anspruch in der BV inklusive der eventuell zuvor individuell versicherten Familienmitglieder.

Es werden also mitnichten 9 Mio. neue Beitragszahler sein. Außerdem stellt sich beim Zugriff auf die von den Versicherten der PKV gebildeten Altersrücklagen die rechtliche Frage, ob es sich hier um eine Zwangsenteignung handelt. Das wäre verfassungswidrig. Das allerdings mag die Politik nicht tangieren, da man mit dem Erlass nicht verfassungskonformer Gesetze durchaus über einen soliden Erfahrungsschatz verfügt. Insgesamt reden wir hier über eine Summe von 233 Milliarden Euro. Man darf hier aber nicht verkennen, dass dieses Geld, sofern man darüber für die BV irgendwie verfügen kann, irgendwann aufgebraucht ist. Da kommt dann auch nichts mehr nach. Eine klassische Einmaleinnahme ohne Wiederholungsoption.

Offene Fragen und die Gretchenfrage: Was tun?

Warum werden, anstatt das gesamte, durchaus bewährte System umzukrempeln – mit entsprechenden kollateralen Schäden – nicht einfach die Leistungen der GKV an die Leistungen der PKV angeglichen? Damit wäre die Neiddebatte überflüssig und die GKV wäre genauso attraktiv wie die PKV. Es gäbe keinen Grund mehr, die PKV zu wählen, und sie würde sukzessive vom Markt verschwinden. Warum macht man es nicht? Eben. Es ist nicht finanzierbar.

Die Finanzspritze für ein völlig überreguliertes und gängelndes System mag kurzzeitig die monetäre Situation der GKV verbessern. Mittel- und langfristig wird das System aber wieder die gleichen Probleme aufweisen, und die Beitragsspirale wird sich erneut drehen. Nach oben. Und die Leistungen werden sich weiter verschlechtern. Deswegen dürfte auch die Budgetierung nicht entfallen, was aber eine grundlegende Voraussetzung für eine Verbesserung der Leistungen wäre.

Solange die systemimmanenten Probleme der GKV nicht behoben werden, macht es auch keinen Sinn, dem Kind nur einen neuen Namen zu geben und ein gut funktionierendes System sehenden Auges zu zerstören. Das ist letztlich nur ideologisch basierter Aktionismus mit Nebelbomben und Augenwischerei. Am Ende wird sich sogar herausstellen, dass die Zwei-Klassen-Medizin sich noch deutlicher etablieren wird. All diejenigen, welche sich dann gute und wohl auch teure Zusatzversicherungen leisten können, werden in privat geführten Praxen und Krankenhäusern eine exklusive medizinische Fürsorge erhalten, während die lediglich vergrößerte Masse der Versicherten weiterhin in die Röhre schaut. Zudem wird diese neue exklusive Krankenversicherung wohl nicht mehr in dem Umfang auch die BV quer finanzieren, wie es die PKV mit der GKV tut. Am Ende haben wir viel mehr Verlierer und nur ganz wenige Gewinner.

Was die Idee der BV anbelangt, fühle ich mich an die bekannte Aussage von Franz Josef Strauß erinnert: „Was passiert, wenn in der Sahara der Sozialismus eingeführt wird? Zehn Jahre überhaupt nichts und dann wird der Sand knapp.“

Frank Mußhoff lebt im Ruhrgebiet, ist selbständiger Unternehmer und Geschäftsführer in der IT-Branche, ehrenamtlich in der Kommunalpolitik (SPD) tätig.

Quellen zu einzelnen Aspekten dieses Beitrages:   

www.karllauterbach.de/inhalte/buergerversicherung-2017.html
https://de.wikipedia.org/wiki/Budgetierung_(Gesundheitswesen)
https://www.pkv.de/service/zahlen-und-fakten/
https://www.pharmazeutische-zeitung.de/index.php?id=37573
http://www.procontra-online.de/artikel/date/2017/12/buergerversicherung-spd-spart-fakten-aus/
http://www.zeit.de/2017/49/buergerversicherung-gesundheitssystem-private-krankenversicherung
https://www.krankenversicherung.net/gesetzliche-private-krankenversicherung

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netiquette:

rainer bayer / 02.01.2018

“welche pro Monat mehr als 4.950 Euro Brutto (Stand 2018) verdienen, befinden sich oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze” das ist nicht ganz richtig; der autor bringt “beitragsbemessungsgrenze” und “versicherungspflichtgrenze” durcheinander. die beitragsbemessungsgrenze beträgt 2018 53.100 eur p.a, also (als anschaulichere größe) 4.425 eur pro monat. dieses einkommen wird als maximale größe für die beiträge zu grunde gelegt. der betrag stieg gegenüber 2017 übrigens um 1,72%. die versicherungspflichtgrenze beträgt 2018 die im beitrag irrtümlich als beitragsbemessungsgrenze ausgewiesenen 59.400 eur p.a., also 4.950 eur pro monat. ab diesem - höheren - betrag kann man sich prinzipiell - es gibt ggf. zusätzliche zu erfüllende bedingungen - privat versichern, also aus der gkv aussteigen. der betrag stieg gegenüber 2017 um 3,13%. (ganz korrekt ist der begriff “versicherungspflichtgrenze” insofern nicht mehr, als es “eigentlich”  nicht mehr möglich ist, sich überhaupt nicht mehr zu versichern (bzw. es in diesem fall zu sanktionierungen kommt.) die beiden begriffe sollte man auseinanderhalten. und: anschaulichkeit hin oder her, maßgeblich sind die jahresbeträge.

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