Das World Economic Forum warb kürzlich für Chip-Implantate, die unser aller Gesundheit und Lebensqualität verbessern sollen – ob als Hilfsmittel für Gehörlose und Depressive oder zum Orten von Kindern. Manche Vorschläge klingen vernünftig, andere haarsträubend.
In Zeiten von Transformationsallianzen und Transformationsforscherinnen werden Transformationen an allen Ecken und Enden zur neuen Normalität. Eine besonders weitreichende Transformation wird gerade vom WEF (Weltwirtschaftsforum) thematisiert: die Etablierung der „Augmented Reality“ (AR). Damit ist die computergestützte Erweiterung der Realität gemeint. Was bei Fernsehübertragungen von Fußballspielen harmlos ist, nämlich beispielsweise das Einblenden von Entfernungen bei Freistößen, bekommt auf der Website des WEF jedoch eine eklatant weiter gefasste Dimension: In einem Beitrag vom 16. August dieses Jahres werden allen Ernstes Chip-Implantate beworben.
Dabei wird beschwichtigend ergänzt:
„So beängstigend Chip-Implantate auch klingen mögen, sind sie doch Teil einer natürlichen Entwicklung, die 'Wearables' einst durchliefen. Hörgeräte oder Brillen sind nicht mehr mit einem Stigma behaftet. Sie sind Accessoires und werden sogar als Modeartikel geschätzt. In ähnlicher Weise werden sich Implantate zu einem Gebrauchsgegenstand entwickeln. Wenn das unwahrscheinlich klingt, dann denken Sie an die Alternativen, die wir derzeit nutzen. Medikamente zeigen oft unerwünschte Wirkungen, weil sie multiple biologische Prozesse gleichzeitig beeinflussen. Jemand, der langfristig Medikamente einnimmt, könnte stattdessen ein Implantat ausprobieren wollen, das sehr präzise elektrische oder optische Impulse aussendet.“
Musste nicht gerade die Warnung vor Chip-Implantaten allzu oft als Paradebeispiel für das wirre Geschwurbel von Aluhutträgern herhalten? Und nun proklamiert das WEF selbst Chip-Implantate als ganz normale zukünftige Gebrauchsgegenstände? Natürlich stellt sich die Frage, wie ernst das WEF überhaupt zu nehmen ist, doch versammelt es nach eigenen Angaben 1.000 führende globale Unternehmen unter seinem Dach und kooperiert eng mit Regierungen sowie mit NGOs, Medien, Kulturschaffenden und Wissenschaftlern.
Wenn das WEF also eine Werbekampagne für die „Augmented Reality“ fährt, ist zumindest davon auszugehen, dass in seinem Netzwerk ein nicht unerhebliches Interesse an dieser Erweiterungs-Technologie besteht. Besonders apart ist übrigens, dass dem Beitrag auf der WEF-Seite die Bitte vorangestellt wird, „die Verbreitung von Desinformationen zu verhindern“ und den Artikel selbst zu lesen. Und genau das sollte tatsächlich jeder tun, der die Zukunftsszenarien des WEF kennenlernen möchte.
„Gehirn-Computer-Schnittstellen“
Zwar klingen manche Vorschläge vernünftig, andere jedoch haarsträubend. Einerseits könnten beispielsweise Cochlea (Hörschnecke-)Implantate „verlorene oder beeinträchtigte“ Körperfunktionen wiederherstellen, andererseits könnten jedoch auch „völlig gesunde Menschen“ von den Erweiterungs-Technologien profitieren, indem etwa Nachtsichtigkeit erzielt oder „Gehirn-Computer-Schnittstellen“ hergestellt werden. Und es wird prophezeit: „Die Erweiterungstechnologie wird in allen Lebensabschnitten hilfreich sein: für Kinder in ihrer Lernumgebung, für Berufstätige bei der Arbeit und für ambitionierte ältere Menschen. Es gibt viele Möglichkeiten.“
Als konkretes Beispiel wird etwa herangezogen:
„Viele Kinder mit Aufmerksamkeitsdefiziten haben Schwierigkeiten in der Schule. Im besten Fall erhalten sie Sonderunterricht oder werden in einer Klasse untergebracht. Mit zusätzlicher visueller und akustischer Unterstützung, die überschüssige Reize abblockt, kann ein sonst beeinträchtigtes Kind in einer normalen Schulumgebung zurechtkommen. Und wenn der Unterricht vorbei ist, können die Hilfsmittel einfach abgenommen werden.“
Hier geht es also nicht um Implantate, sondern um tragbare Erweiterungen, doch:
„Augmented Reality endet hier noch nicht. Ihr Telefon mag sich wie ein Teil Ihres Körpers anfühlen, aber es wurde nicht durch eine Operation eingesetzt. Technologie wird in Form von Implantaten immer stärker mit dem Körper verwoben sein, aber sie wird sich auch nahtlos in Ihre Umgebung einfügen: Sie könnten zum Beispiel Sensoren in einem Stuhl haben.“
„Sollte man seinem Kind einen Ortungschip implantieren?“
Es sei auch denkbar, das Äquivalent einer Hundenase etwa in einem Gerät wie dem Smartphone oder einer Halskette mit sich herumzutragen, um COVID-19 oder Lebensmittelallergene aufzuspüren. Eine tödliche Erdnussallergie könnte dann durchaus auch ein entsprechendes Implantat rechtfertigen. Ein notwendiges tragbares Gerät könne in einem ersten Schritt unter die Haut oder bei Bedarf in den Bauch implantiert werden. Für Patienten, die unter Urinverlust leiden, wäre beispielsweise ein kleines Stimulationsgerät im Beckenbereich eine elegantere und bequemere Lösung als das Tragen von Inkontinenzeinlagen. Als nächstes könnten andere Implantate die Nerven des peripheren Nervensystems oder die Informationsautobahnen beeinflussen, die das Rückenmark und das Gehirn mit den Organen und Gliedmaßen verbinden, und beispielsweise Depressionen lindern. Hierfür sei allerdings ein Gehirnimplantat nötig.
Vielleicht könnten auch legasthenen Kindern durch Implantate, die in Echtzeit übersetzen, neue Möglichkeiten eröffnet werden. Dazu wird immerhin eingeschränkt:
„Andererseits ist Legasthenie eine persönliche Eigenschaft. Wollen wir das ändern? Als Gesellschaft müssen wir eine Entscheidung treffen: Wollen wir die menschlichen Einschränkungen, die mit dem Lernen oder dem Älterwerden verbunden sind, akzeptieren?“
Denn die Grenzen für Implantate würden eher durch ethische Argumente als durch wissenschaftliche Kapazitäten gesetzt. Und es wird weiter überlegt:
„Sollte man beispielsweise seinem Kind einen Ortungschip implantieren? Es gibt solide, rationale Gründe dafür, z.B. Sicherheit. Würden Sie es tatsächlich tun?“
„Ihre Lebensqualität insgesamt verbessern“
Der nächste Absatz lässt jedoch sämtliche Alarmglocken schrillen, denn hier heißt es:
„Ethik sollte nicht aus einem akademischen Elfenbeinturm gepredigt werden. Vielmehr sollten übergeordnete oder unabhängige Institutionen den politischen Entscheidungsträgern und Forschern in der 'erweiterten Gesellschaft' eine Orientierungshilfe für das Tun und Lassen geben und dabei helfen, den ethischen Rahmen für die gesellschaftlichen Aspekte der Augmented-Reality-Technologie zu schaffen.“
Wer ist mit „übergeordnete oder unabhängige Institutionen“ gemeint? Etwa das WEF selbst? Oder andere Stiftungen? Und warum sollten diese Institutionen mehr zu sagen haben als die politischen Entscheidungsträger?
Der Beitrag endet verheißungsvoll:
„Mit der richtigen Unterstützung, Vision und Kühnheit werden diese transformativen Technologien – die über Erweiterung hinausgehen – möglich. Wann betreten wir die Grauzone? Die Ethik wird uns beraten. Technologieoptimisten zeigen, was mit Augmented Reality möglich ist. Technologie hatte schon immer das Potenzial, die Gesellschaft zu verändern und unser tägliches und berufliches Leben zu verbessern. So auch die Augmentationstechnologie. Sie geht Hand in Hand mit einer Entwicklung von der Gesundheitsfürsorge zur ‚Wohlfühlpflege‘, bei der es nicht mehr nur um die Behebung einer Beeinträchtigung geht. Es geht um Technologien, die Sie unterstützen und Ihre Lebensqualität insgesamt verbessern.“
Das WEF wäre nicht das WEF, wenn es zum Thema der Augmentationstechnologie nicht auch ein Video parat hätte, das vom Interuniversity Microelectronics Centre (imec) mit Hauptsitz im belgischen Löwen fabriziert wurde und den flotten Titel trägt: „How do we build an ethical framework for a technologically augmented society?“ Hier wird noch einmal in anschaulichen Zeichnungen, die mit animierender Musik unterlegt sind, vermittelt, wie natürlich Chip-Implantate eigentlich sind.
Doch eine sehr reale Hoffnung bleibt: Herstellung und Betrieb der erweiterten Technologien kosten Energie. Und die ist gerade in Deutschland rar. Also wird es nicht so bald gelingen, Kindern Ortungschips zu implantieren, selbst wenn der Wille und der ethische Rat dazu vorhanden wären.