Der mäßig bekannte Schauspieler Robert Beyer hat letzte Woche durch einen Facebook-Post einen skurrilen Shitstorm und Disziplinierungsprozess ausgelöst.
Der mäßig bekannte Schauspieler und Fotograf Robert Beyer hat letzte Woche einen skurrilen Shitstorm und Disziplinierungsprozess ausgelöst. Der 1969 in Rostock Geborene verfolgte nach eigenen Angaben eine Fernsehsendung über Kolonialismus (gemeint ist wohl die kürzlich gesendete Doku „Rottet die Bestien aus“ des haitianischen Filmemachers Raoul Peck) und versuchte sich anschließend auf seinem privaten Facebook-Account als Geschichtsphilosoph. Er habe darüber nachgedacht, was geschehen wäre, wenn sich die sogenannten „Indianer“ gegen die Einwanderer aus Europa behauptet hätten, teilte Beyer seinen knapp tausend Followern mit. Dann nämlich gäbe es die Vereinigten Staaten nicht. Doch wer hätte dann Europa von den Nazis befreien sollen? Sei die Geschichte des Fortschritts nicht immer brutal?
Nach Protesten gegen diesen privaten Post veröffentlichte die Schaubühne am Lehniner Platz in Berlin-Wilmersdorf, wo Beyer seit 1999 zum festen Ensemble gehört, eine Pressemitteilung, in der unter anderem zu lesen ist, der Schauspieler verharmlose den Massenmord an der indigenen Bevölkerung Amerikas, sein Text sei rassistisch und diskriminierend, man verurteile ihn und entschuldige sich. Robert Beyer entschuldige sich ebenfalls. Er habe sich auf Facebook und auch „intern“ entschuldigt und sich zudem entschlossen, an einem „Einzelcoaching zum Thema Rassismus und Diversität“ teilzunehmen. „Wir bekennen uns als Leitung des Theaters zu der Verantwortung und Aufgabe, klare Leitlinien zu schaffen, dass bei solchen Vorfällen adäquate Maßnahmen erfolgen“, schließt der Text.
Interessant ist das mediale Echo auf diesen Fall. Quer durch die politischen Lager ist Verdruss über die um sich greifende politisch korrekte Empörungskultur und Disziplinierung „Falschdenkender“ herauszulesen. So verleiht in der FAZ Jürgen Kaube seiner Irritation über den „polizeilichen Ton“ der Pressemitteilung Ausdruck und spricht von „Umerziehungsmaßnahmen“. Der Mitherausgeber der FAZ moniert außerdem, dass das Theater nicht mitteilt, was der Schauspieler denn nun genau gesagt hat und inwiefern es rassistisch war. Dies werde vielmehr vorausgesetzt.
Ähnlich sieht es Jakob Hayner vom Linkspartei-nahen Neuen Deutschland. Sowohl die Pressemittteilung des Theaters als auch die meisten Medien (mit Ausnahme der FAZ) hätten nur „die Deutung (Verharmlosung, Rassismus) und das Urteil (Selbstkritik, Besserungsseminar)“ präsentiert beziehungsweise verbreitet. „Der Casus knacksus wurde mit keinem Wort erwähnt.“ So nehme man den Menschen die Möglichkeit, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Das Vokabular der Pressemitteilung – „Vorfälle! Maßnahmen!“ – lasse „Zweifel aufkommen, ob in der Schaubühne noch jemand Victor Klemperer oder das ‚Wörterbuch des Unmenschen‘ im Regal stehen hat.“
In der SZ deutet Peter Laudenbach das Vorgehen der Schaubühne als „Angstreflex“ und „Shitstorm-Panik“. Auch er kritisiert die „sehr drastische Rhetorik“ der Pressemitteilung. Das Theater verwechsele sich mit einem „moralischen Weltgericht“. Anstatt das Thema im Privaten anzusprechen und um die Löschung des „peinlichen“, „schrillen“ aber auch „belanglosen“ Facebook-Eintrags zu bitten, hätten die Verantwortlichen dem Posting durch die „öffentliche Hinrichtung“ des Verfassers erst größere Aufmerksamkeit verschafft.
„Sicher nicht antisemitisch“
Beim Berliner Tagesspiegel hat der Star-Kolumnist Harald Martenstein endgültig das Handtuch geworfen. Vorausgegangen war eine Kontroverse um eine Kolumne vom 6. Februar 2022 mit der Überschrift „Nazi-Vergleiche“. Martenstein hatte geschrieben, das Tragen von Judensternen auf Corona-Demonstrationen sei „sicher nicht antisemitisch“, da sich die Demonstranten mit den Juden als Opfern identifizierten, auch wenn es anmaßend, verharmlosend und für Überlebende der Shoah schwer auszuhalten sei. Davon distanzierte sich die Tagesspiegel-Chefredaktion in einer Stellungnahme, der Online-Beitrag wurde depubliziert (siehe meine Kolumne vom 18.02.2022).
Martenstein begründet seinen Abschied vom Tagesspiegel „nach fast genau meinem halben Leben“ damit, dass die Löschung nicht mit ihm abgesprochen worden sei („Ich war in diese Entscheidung nicht eingebunden. So etwas bedeutet in der Regel, dass man sich trennt, den Entschluss dazu habe ich gefällt.“). Seine Schlusskolumne beim Tagesspiegel lesen Sie hier. Lesen Sie zum gleichen Thema von Henryk M. Broder auf Achgut.com: „Und jetzt auch der Martenstein“.
„Erhebliche Störgefühle“
Das ZDF hat diese Woche die Zusammenarbeit mit der Journalistin Katrin Seibold, die bis dahin 18 Jahre lang für die Öffentlich-Rechtlichen tätig war, beendet, nachdem sie sich kritisch zur Corona-Berichterstattung geäußert hatte und damit irgendwie „störte“. In ihrem Kündigungsschreiben heißt es unter anderem: „Redaktionssitzungen werden von Ihnen immer wieder für Kritik am System genutzt, was bei Kolleg:innen erhebliche Störgefühle auslöst. […] Das Vertrauensverhältnis ist durch Ihr Verhalten so nachhaltig beschädigt, dass die Beschäftigung nach Ablauf des Honorarzeitvertrags für uns nicht mehr vorstellbar ist.“ (Quelle: BILD)
In Kanada wollte der Abgeordnete Colin Carrie von der oppositionellen Conservative Party am vergangenen Samstag während einer Parlamentsdebatte nähere Informationen zum Einfluss des Weltwirtschaftsforums (WEF) auf die Politik einholen. Via Zoom-Zuschaltung fasste der Politiker zusammen: „Klaus Schwab ist der Leiter des Weltwirtschaftsforums und er hat damit geprahlt, wie sein subversives WEF Regierungen auf der ganzen Welt, Zitat, ‚infiltriert‘ hat.“ (Der Abgeordnete bezog sich höchstwahrscheinlich auf Äußerungen, welche der deutsche Ökonom und WEF-Vorsitzende Klaus Schwab im Jahr 2017 bei einer Diskussionsveranstaltung der John F. Kennedy School of Government der amerikanischen Harvard University machte – ein Videoclip davon ging in den letzten Tagen viral, weil der britische Aktivist und Radiomoderator Maajid Nawaz in einer Folge des äußerst beliebten Podcasts The Joe Rogan Experience darauf aufmerksam machte.)
„Im Interesse der Transparenz“ wollte Colin Carrie erfragen, welche Mitglieder des kanadischen Kabinetts „an Bord“ der WEF-Agenda seien – doch bevor er diese Frage zu Ende formulieren konnte, wurde er vom Parlamentssprecher Anthony Rota (Mitglied der regierenden Liberal Party) rüde unterbrochen. Dieser sagte etwas von einer „sehr sehr schlechten“ Ton- und Videoqualität, entschuldigte sich knapp und erteilte unmittelbar einem anderen Abgeordneten, Charlie Angus von der New Democratic Party, das Wort. Dessen Redebeitrag bestand aus der entrüsteten Bemerkung: „Dieser Abgeordnete hat offene Desinformation verbreitet! Das ist keine Debatte, das müssen wir Desinformation nennen.“ Ein Video des seltsamen Vorfalls (mit einwandfreiem Ton) finden Sie auf der Webseite der kanadischen Denkfabrik True North.
Gecancelter Vortrag
Mikhaila Peterson, Tochter des konservativen kanadischen Intellektuellen und Achgut.com-Kolumnisten Jordan B. Peterson, hielt im vergangenen Sommer einen Vortrag bei der Innovations-Konferenz TEDx. Darin berichtete sie darüber, wie eine rein fleischliche Ernährung („Carnivore Diät“) ihre Autoimmun-Krankheit geheilt habe.
In einem aktuellen Video spricht Mikhaila Peterson über einen sich seit vier Monaten hinziehenden Streit mit den Veranstaltern der Konferenz. Ihr Vortrag habe es als einziger des Programms nicht auf den YouTube-Kanal der Veranstalter geschafft. Diese beriefen sich auf einen Verstoß gegen die Gemeinschaftsleitlinien, ohne sagen zu können, welche Bestimmung sie genau verletzt habe, behauptet die 30-Jährige. Eine vegane Ernährung könne hingegen problemlos unter der TEDx-Marke propagiert werden, zahlreiche solcher Vorträge fänden sich auf den offiziellen YouTube-Kanälen. (Den „gecancelten“ Vortrag finden Sie ebenfalls auf dem YouTube-Kanal von Mikhaila Peterson unter obigem Link.)
An der walisischen Cardiff University haben indessen Unterstützer der anarchistischen Gruppierung Act Now Flyer mit Namen und Kopfbildern von 16 Hochschulangehörigen verbreitet, die in einem offenen Brief Sorgen bezüglich des negativen Einflusses des Transgender-Aktivismus auf die Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit geäußert hatten. Die Flugblätter brandmarkten die betreffenden Personen als „transphob“, neben einer Abbildung von einer Frau mit Pistole stünden auf den Flyern auch die Worte „Not gay as in happy but queer as in fuck you“, berichtet die Sunday Times. Nach Angaben des Onlinemagazins Spiked ist das Auto eines der Unterzeichner des offenen Briefes im Zusammenhang mit dieser Kontroverse demoliert worden. Quod erat demonstrandum.
Konkret hatten die 16 Mitarbeiter der Cardiff University die Unileitung aufgefordert, ihre Zusammenarbeit mit der LGBT-Organisation Stonewall zu überdenken. Stonewall vertritt die Linie, dass es „keine Debatte“ über einige Trans-Fragen geben sollte, und setzt sogenannte „gender-kritische“ Meinungen – darunter die Überzeugung, dass es nicht möglich ist, sein biologisches Geschlecht zu ändern – mit Antisemitismus gleich. Die Unterzeichner des offenen Briefes halten Stonewall deshalb nicht für einen angemessenen Kooperationspartner ihrer Uni, zu deren Grundwerten die akademische Freiheit und Respekt für die Rechte der Mitarbeiter gehörten.
In einer eigenen Stellungnahme hat die Unileitung die Einschüchterung ihrer Mitarbeiter verurteilt, aber auch die Arbeit, die Stonewall für eine „unterstützende, vielfältige Gemeinschaft“ auf dem Campus leiste, gepriesen. Der altehrwürdige britische Schwulen- und Lesbenverband hat also noch Freunde. Alles in allem ruiniert er allerdings zusehends seinen einst guten Ruf. Im November 2021 sorgte etwa die öffentlich-rechtliche BBC für Aufmerksamkeit, als sie sich aus einem verbreiteten „Diversity Programm“, welches die immer schriller auftretende Organisation für Arbeitgeber anbietet, zurückzog.
Und damit endet der wöchentliche Überblick des Cancelns, Empörens, Strafens, Umerziehens, Ausstoßens, Zensierens, Entlassens, Verklagens, Einschüchterns, Politisierens, Umwälzens und Kulturkämpfens. Bis nächste Woche!
Mehr vom Autor dieser wöchentlichen Kolumne Kolja Zydatiss zum Thema Meinungsfreiheit und Debattenkultur lesen Sie im Buch „Cancel Culture: Demokratie in Gefahr“ (Solibro Verlag, März 2021). Bestellbar hier.