Man kann die Szenerie gespenstisch nennen, irrsinnig oder absurd. Eines war sie gewiss: real. Am Samstagabend brachte die Bayerische Staatsoper, eines der weltweit führenden Musiktheater, ein selten gespieltes Werk heraus. Es heißt „Die Vögel“ und stammt aus der Feder von Walter Braunfels, dem Großvater des Architekten der Münchner „Pinakothek der Moderne“ und einiger Bundestagsbauten, der in den 20er Jahren beachtliche Erfolge als Komponist feierte. Sein populärstes Werk „Die Vögel“ nach Aristophanes kam am 30. November 1920 auf die Bühne des Münchner Nationaltheaters. Die Uraufführung wurde zur umjubelten Sensation.
Ein Jahrhundert später klingt der Schlussapplaus nach der Premiere einer Neuinszenierung des Stückes von der Hand des zahm und berechenbar gewordenen „enfant terrible“ Frank Castorf extrem schütter. Der Grund war keineswegs, dass das durchgängig tonal geschriebene Werk mit Anklängen an Wagner und Strauss, nicht gefallen hätte oder die Inszenierung durchgefallen wäre. Die Erklärung war einfacher: Im riesigen Auditorium saßen nur fünfzig Besucher, darunter allein zehn Journalisten. Sie verteilten sich, in großen Abständen platziert, auf dem Balkon. Das gesamte Parkett und die Ränge blieben leer. Normalerweise haben in dem Theater 2.100 Menschen Platz. Diesmal übertraf allein die Zahl der Orchestermusiker, Sänger und Statisten die der Besucher um fast das Doppelte, ganz abgesehen von der vielköpfigen Einlassmannschaft, den Garderobieren, den Bühnenarbeitern, der Verwaltung sowie dem Regieteam.
In einer für die Nachfahren des früheren bayerischen Herrscherhauses reservierten Proszeniumsloge, der Wittelsbacherloge, ein durchaus sympathisches Relikt des Ancien regime, saß an diesem Abend auch Franz von Bayern, aktueller Chef des Hauses und ausgewiesener Kunstkenner. Einer seiner direkten Vorfahren war der bayerische König Ludwig II., Wagner-Verehrer und Schöpfer hypertropher Schlösser. Der Menschen scheue „Kini“ war bekannt dafür, dass er sich regelmäßig „Separatvorstellungen“ gönnte. Dann saß er ganz allein im riesigen Dunkel des Residenz- oder des Nationaltheaters, und ließ sich in malerischen Settings seine Lieblingsdramen und -opern vorführen, ohne vom wenig geliebten Volk in seinem exklusiven Kunstgenuss gestört zu werden. Darunter natürlich die neuesten Schöpfungen des göttlichen Richard. Fast 200 dieser Vorstellungen sind bezeugt.
Sondererlaubnis des bayerischen Monarchen Markus Söder
Historisch Kundige mochten sich kurz vor Beginn des zweiten Corona-Lockdowns mit erneuter Schließung sämtlicher Opern- und Theaterspielstätten der Republik an Ludwigs kostspieligen Spleen erinnert gefühlt haben. Man möchte sich nicht ausrechnen müssen, was jede Eintrittskarte an diesem Abend gekostet hätte, wären die vielen leeren Plätze auf die wenigen Besucher umgelegt worden. Vor ein paar Wochen hatte die Staatsoper per Sondererlaubnis des aktuellen bayerischen Monarchen Markus Söder, über dessen Kunstgeschmack wenig bekannt ist, wenigstens noch 500 Gäste empfangen können, was einen nicht ganz so absurden Eindruck machte. Doch mit Anschwellen der „zweiten Welle“ wurde die Zahl auf 50 reduziert.
Vergeblich bemühte sich Staatsopernintendant Nikolaus Bachler, noch so etwas wie einen normalen Spielbetrieb garantieren zu können. Wiederholt verwies er auf einen wissenschaftlich begleiteten Pilotversuch, wonach in dem Theater infolge seiner Größe und bei Einhaltung einer Reihe von Präventionsmaßnahmen sehr wohl 500 Besucher ohne Gesundheitsgefahren Platz finden könnten, womöglich sogar mehr. Und hatten nicht die Salzburger Festspiele im Sommer vorgemacht, dass man mit ausgeklügelter Besucherlenkung und einem angepassten Programm – gespielt wurden nur Stücke ohne Pause – den Kulturbetrieb auch in Zeiten von Corona weitgehend aufrechterhalten kann? Doch Bachler, wie auch viele anderen bayerische Intendanten und Orchestermanager, bissen auf Granit.
In Aristophanes Komödie „Die Vögel“, die Braunfels mit gewissen Änderungen vertonte, übernehmen die Vögel, die urzeitlichen Herrscher des Himmels, erneut die Macht, angestiftet von zwei Athenern, die von den politischen Verhältnissen in ihrer Stadt frustriert sind. Im Zwischenreich zwischen Himmel und Erde bauen sie das sprichwörtlich gewordene „Wolkenkuckucksheim“ als Ort utopisch-idealer Herrschaft. Dabei kommen sie mit den Göttern in Konflikt, die am Ende die Vögel wieder in die Schranken weisen. Die Botschaft des Regisseurs: Jede „ideale“ Herrschaft birgt die Gefahr des Totalitarismus. Deshalb wohl ist die von Castorfs Ausstatter Aleksandar Denic auf die Drehbühne getürmte Wolkenstadt eine Mischung aus Raumstation und Abhörzentrale mit sich drohend drehender Radarantenne. Deshalb die Anspielungen auf Alfred Hitchcock, in dessen Thriller es auch Vögel sind, die eine Art Terrorregime errichten.
Mit Goebbels totalem Krieg verstummten auch die Künste
Was an diesem Abend in München gespielt wurde, ist der langsame Tod der Freiheit, der mit dem Tod der Kultur einhergeht. Gerade jetzt, wo Kultur zur stetigen Reflexion, aber auch zur Erbauung und gewiss Ablenkung der Menschen, unverzichtbar wäre. Selbst im Zweiten Weltkrieg spielten die Häuser fast bis zum Schluss, als viele Spielstätten schon in Trümmern lagen. Erst mit Josef Goebbels Erklärung des „totalen Krieges“ verstummten auch die Künste. Doch schon 1945 erstanden sie wieder. So fanden schon wenige Monate nach Kriegsende auf Anordnung des US-Generals Mark Clark wieder Salzburger Festspiele statt. So viel Kunstverstand wie ihn die angeblich banausigen Amis zeigten, kann von heutigen Politikern offenbar nicht mehr erwartet werden.
Die jüngste Münchner Separatvorführung wurde kostenlos per Livestream übertragen. Das ersparte den Zuschauern am heimischen Computer wenigstens die unselige Maskierung während der gesamten Vorstellung, die nicht nur jeden Musikgenuss im Keim erstickt.