Wenn genug Leute ihr Ding machen, ohne dass es anderen schadet, können die Weltverbesserer und ihre Spießgesellen gern hohldrehen. Dem Kategorischen Imperativ können sie nichts anhaben.
Der ehemalige russische Oligarch Michail Chodorkowski hält einen Angriff Russlands auf Polen oder das Baltikum für wahrscheinlich. Das wäre dann ein sogenannter Bündnisfall, man möchte es sich nicht weiter ausmalen. Der ehemalige Schriftsteller Robert Habeck, jetzt Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz, fordert die Deutschen zum Energiesparen auf, als erste Übung vor der Gasknappheit, dem Preisschock und der Wirtschaftskrise. Ein Notfallplan steht schon vor der Tür, genauso wie die Inflation, Blackouts, Massenarbeitslosigkeit und die Lebensmittel-Versorgungskrise. Da scheint ein Kartenhaus vor dem Zusammenbruch zu stehen.
Die Komponenten des Dauer-Stresstests, vor dem Deutschland in den kommenden Jahrzehnten steht, sind vielfältig und zum Teil bedingen sie einander. Aber größtenteils waren sie absehbar, wurden bewusst betrieben, oder aus ideologischen Gründen wissentlich in Kauf genommen (Energieversorgung, Nullzinspolitik, Klima-Agenda). Deshalb klingt es schönfärberisch, einfach nur von „Politikversagen“ zu sprechen. Der ehemalige Finanzminister, Olaf Scholz, war unter Angela Merkel fast vier Jahre Vizekanzler und perpetuiert heute als Kanzler die katastrophale Politik seiner ehemaligen Vorgesetzten.
Die Ursachen der bevorstehenden Krisenzeit liegen aber nicht allein an der Unfähigkeit des Personals, große historische Spannungsbögen politisch zu betrachten und aus ihnen zukunftsfähige Konzepte für unser Land zu entwickeln, sondern auch im Scheitern der westlichen Beschwichtigungs-Diplomatie, die nicht wahrhaben will, dass ideologischer Dissens mit Regimen nicht einfach weggeredet werden, und der Unterschied zwischen Gut und Böse nicht relativiert werden kann. Das Machtvakuum, das entsteht, wo paritätische Kräfteverhältnisse und Drohpotenziale schwinden, wird nämlich alsbald zum Kasernenhof des Gegners.
Tiefer Fall in den steinzeitlichen Atavismus
Wegen der vorgenannten Gründe ergreift mich von Zeit zu Zeit eine seltsame Unruhe. Ich möchte dann diesem Land den Rücken kehren. Nicht, dass ich, wie es gerade en vogue ist, die Zukunft des postmodernen Deutschlands gänzlich für verloren und rettungslos dem freien Fall überlassen glaube. Das wäre zu schlicht gedacht. Ein Land, „in dem man gut und gerne leben möchte“, besitzt aber nicht die Schwächen und Nachteile einer Bananenrepublik. Ich möchte am Supermarkt für Grundnahrungsmittel nicht Schlange stehen, den Beamten nicht schmieren, damit ein lapidarer Verwaltungsakt schneller vorangeht, meinen Mund nicht halten, damit die Polizei keinen Hausbesuch bei mir macht, oder zum Heizen nicht illegal Holz im Wald holen müssen.
Zwar scheint der Niedergang irgendwie unvermeidlich, weil dem gesellschaftlichen Versagen der Corona-Jahre nun ein zivilisatorisches Paradox folgt, das im wahrsten Sinne des Wortes fatal ist, eine globale Kettenreaktion auslöst und das Siechtum beschleunigt. Aber auch ein tiefer Fall in den steinzeitlichen Atavismus von Kriegervölkern ist nicht das Ende der Geschichte. Er ist allerdings schändlich und absolut unnötig. Der Aggressor gehört bestraft, weil er sich selbst zum Verbrecher gemacht hat. Aber das ist fast keine Meinung, sondern eine Floskel aus dem Repertoire des Mainstreams, die ich mir trotzdem zu eigen mache, weil sie einfach stimmt.
Dieses Paradox einer kriegerischen Entladung wirft zunächst alles über den Haufen – auch die Dinge, deren Planung und Umsetzung wir zwar als Wohlstandskiller schon vorher fürchteten, aber glaubten, ausreichend Zeit zu haben, die Effekte zumindest abmildern zu können. Nun sehen wir die Energiewende, den Klimaschutz, die Eurostabilität und die Lieferkettenproblematik dem Brandbeschleuniger Putins ausgesetzt. Massive Auswirkungen auf die großen Vorhaben unserer postmodernen Moral, für die eigentlich Dekaden der „Transformation“ vorgesehen waren, können also schon morgen Wirklichkeit sein, ganz egal, ob wir sie je befürwortet haben oder nicht: Sie treffen uns nun unversehens mit all ihren negativen Implikationen als Querschläger.
Sind wir denn alle Wiederkäuer unserer Weltbilder geworden?
Ich habe immer öfter keine Lust mehr, mitzuerleben, wie Menschen sich entblöden bei dem Versuch, klug zu erscheinen – wenn sie zweimal wiedergekäute Propaganda brav geschluckt haben und Fladen produzieren, die größer sind als ihr geistiger Radius. Natürlich wirft mir die Gegenseite exakt das gleiche vor. Ich habe auch keine Lust mehr, Freunde und Bekannte zu vergraulen, nur weil ich den Mund nicht halten konnte und sie denken, ich sei so ein Typ, der Propaganda wiedergekäut und braune Fladen aus „unwissenschaftlichen“ Behauptungen hinterlässt. Sind wir denn alle Wiederkäuer unserer Weltbilder geworden?
Scheinbar sind unsere stereotypen Weltbilder das einzige, was noch Bestand hat. Wenn sich aber der postmoderne Relativismus wie ein Spaltpilz in das Ansehen der Demokratie frisst, die immer mehr dazu tendiert, auch unsere Gedanken regulieren zu wollen, sich der Wissenschaft bemächtigt, um deren „Fakten“ wie sakrosankte Reliquien herumzureichen, und wenn die Wirtschaft aufgrund ihrer globalen Abhängigkeiten schneller implodiert, als es eine Industrienation noch verkraften kann – dann muss man grundsätzlich zweifeln: an der Redlichkeit der Staatslenker, an den Fähigkeiten des Homo faber, an der Verlässlichkeit zivilisatorischer Erkenntnisse, an der „Vernunft“ einer albträumenden Gesellschaft, die versessen ist auf ihren nabelschau-artigen Egotrip.
Vielleicht muss man sich alltäglichen Forderungen und Angeboten noch mehr entziehen – den tendenziösen Nachrichten, den Verpflichtungen der gestelzten Moral, dem aufgeblähten, übergriffigen „Apparat“ und der steuerlichen „Mühle“ für einen Staat, der zu viele Kostgänger alimentiert und symbolpolitische Milliardengräber aushebt, in denen er unseren Wohlstand beisetzt. Man sollte einfach sein Ding machen. Wenn genug Leute ihr Ding machen, ohne dass es anderen schadet, können die Weltverbesserer und ihre Spießgesellen gern hohldrehen. Dem Kategorischen Imperativ können sie nichts anhaben.
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