Die Umfragen lassen sich unmissverständlich als Forderung nach Rücktritt und Neuwahlen deuten, das Vertrauen der Wähler ist dahin. Allein die Protagonisten wollen keine Konsequenzen ziehen.
Zwei Jahre „Ampel“ – sie erscheinen wie eine Ewigkeit. Die Koalition ist am Ereignishorizont ihrer Trugschlüsse, Fehlleistungen und weltpolitischen Hindernisse angelangt, steht aus Mangel an praktischer Vernunft kurz vor der Handlungsunfähigkeit und erliegt ihrer aufgebauschten Weltrettungshybris: Dort, im selbstverschuldeten Überforderungsdilemma, verharrt die „Ampel“ in einem Lähmungszustand, wo, von außen betrachtet, keine Bewegung mehr stattfinden kann, weil die parteiideologischen Erzählstränge einem gordischen Knoten gleichen.
Die Wirklichkeit ist für die „Ampel“ ernüchternd: Die Koalition ist seit dem Urteilsspruch des Bundesverfassungsgerichts vom 15. November der ausweglosen Gravitation ihres finalen Scheiterns ausgesetzt, wo nunmehr grüne Heilsversprechen, rote Durchhalteparolen und gelbe Erklärungsnot glücklos verdampfen. Die amtierende deutsche Regierung ist ein Dauerzustand selbstverschuldeten Missmanagements geworden, will sich selbst aber wie ein Moderatorenteam im Ausnahmezustand verstanden wissen – frei nach der Devise, dass sich verantwortliche Politiker einer verschärften Realität nicht aussetzen müssen, wenn dieses Engagement schiefgehen könnte (Aussitzen à la Merkel).
Es ist kläglich, wie man den Notstand des deutschen Haushalts wissentlich verfassungswidrig herbeiführte und nun vorgibt, „mit Sorgfalt“ nachbessern zu wollen. Als ginge es um einen Formfehler, den ein Amtsgericht angemahnt hat. Aber die Mauschelei um 60 Milliarden Schulden, die bei Corona nicht „verbraten“ worden sind und nun auf einen Klimafonds umgeleitet werden sollten, war den Verfassungsrechtlern dann doch zu viel „kreative“ Haushaltsgestaltung. Für den guten Klima-Zweck, dachte man, kann man die Regeln brechen und die Schulden einfach „veruntreuen“. Das Bundesverfassungsgericht entschied „regierungsunabhängig“ im Sinne der CDU-Beschwerde und blieb dabei dennoch seinem „Korridor“ treu.
Die letzten Gemeinsamkeiten beginnen sich aufzulösen
Klima, Migration, Energie, Industrie, Arbeit – wo man hinschaut, wurden in den letzten Jahren Politikfelder untrennbar miteinander verwoben, was sich für zwei Parteien, die dabei federführend waren, nun als besonders delikat herausstellt. Sie können ihren eigenen, traditionell überladenen, „holistischen“ Weltbildern nicht mehr entrinnen: SPD und Grüne scheitern an ihrer ideologischen Dekadenz, mit der sie sich eingemauert haben. Hinzu kommt eine intellektuelle Schwäche, die mit grünem Starrsinn und rotem Staatsglauben nicht mehr zu heilen ist. Die FDP, der Putzerfisch unter den Ampelparteien, kommt gar nicht mehr nach. Die Partei scheint nach einem neuen Wirt Ausschau zu halten. Dieser kleine Anflug von Klugheit wäre wenigstens ein Lichtblick.
Erste Auflösungserscheinungen der Koalition werden sichtbar, wenn auf der Mitte der Legislaturperiode bereits wahlkampftaktische Konstellationen ins Spiel gebracht werden, die die Versagenstatbestände für die nächste Wahl „aufhübschen“ sollen. Der grüne Wirtschaftsminister stellte Ende Oktober ein Strategiepapier zur Stärkung der deutschen Wirtschaft vor, die – so die späte Erkenntnis – von den energiepolitischen Entscheidungen und Weichenstellungen so massiv betroffen ist, dass auch das tiefgrüne Herz bemerkt, an welchem großen Rad hier gedreht wurde.
Habeck muss befürchten, dass die Denkfigur „grüne Deindustrialisierung“ als Begriff in die deutsche Geschichte eingehen und er im kommenden Wahlkampf damit keine gute Figur machen wird. Der Wirtschaftsminister – es ist in den Umfragen sichtbar – wird auch nicht spekulieren müssen, um festzustellen, dass Wähler, die glauben, ihren Job und ihr Erspartes wegen „seiner“ Energiewende zu verlieren, an der Urne Rache schwören werden. Das hastige Papier zur Stärkung der Wirtschaft, wie gewohnt mit geliehenem Geld (Subventionen und Lockerung der Schuldenbremse), war mit den Koalitionspartnern von SPD und FDP jedoch nicht abgestimmt und stieß prompt auf Ablehnung. Die letzten Gemeinsamkeiten der Koalitionäre beginnen sich allmählich aufzulösen.
Das Sein bestimmt das Bewusstsein
Es gibt auch Fehlleistungen, deren Auswirkung sofort messbar sind. Deutschland transportiert per Düsenflugzeug die „feministische Außenpolitik“ von Annalena Baerbock in die Welt. Im Januar dieses Jahres sah es fast so aus, als erkläre die tapfere Außenministerin mit dem losen Mundwerk Russland den Krieg: „We are fighting a war against Russia.“ (Wir führen einen Krieg gegen Russland). Fast alle Seiten waren bemüht, den Nebensatz schnell als sprachlichen Fauxpas abzutun, was er natürlich war.
Baerbock ist kein diplomatisches Talent. Das bewies sie erneut im vergangenen September. Sie bezeichnete den chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping als „Diktator“ und verursachte diplomatische Spannungen, die China zusammenfasste: Baerbocks Aussage sei „extrem absurd und eine schwere Verletzung der politischen Würde Chinas und eine offene politische Provokation“. Es ist jedoch beruhigend, dass Baerbock außerhalb Deutschlands anscheinend nicht als satisfaktionsfähig gilt und man sie besser ignoriert.
Alleingänge macht man als Politiker, wenn die Umfragewerte für die Karrierefortführung nach der Legislaturperiode ertüchtigt werden müssen. Den Grünen geht diesbezüglich der Allerwerteste gehörig auf Grundeis, denn viele ihrer Großprojekte könnten mit dem Verlust der Ämter zur Disposition stehen. Mit dem Ansinnen, durch eine gelungene Energiewende weltweit bald als Helden gefeiert zu werden, scheitert die Partei scheibchenweise von Tag zu Tag. Das Sein bestimmt das Bewusstsein: Linke und Grüne sollten diese dialektische Weisheit von Karl Marx kennen.
Die Wärmepumpen-Elite überhöht sich
Den Bürgern wird diese linksgrüne „Seinsproblematik“ gerade schmerzhaft bewusst. Es ist eine „dialektische Reaktion“, wenn die vollmundigen Verursacher des Desasters mit Liebesentzug bestraft werden, der den erfolgsverwöhnten Grünen jedoch bis vor Kurzem noch unbekannt war. Elitäre Gesinnungen, Lebensstilvorschriften und Denkimperative stoßen zunehmend auf offene Ablehnung bei Menschen, die die unmittelbaren Folgen der „Transformationen“ (sprich: sozialer Abstieg, Arbeitslosigkeit, Wohlstandsverlust, Unsicherheit) schon heute am eigenen Leib zu spüren bekommen.
Die urbanen „Lastenfahrrad-Familien“ und veganen Singles in ihren Co-Working-Spaces, die opportunistischen Wichtigtuer der NGOs und abhängigen „ÖR-Medien“, die allesamt am Tropf des Staatsapparates hängen, aber auch die „klimaneutralen“ Krisengewinnler in ihren Nullenergie-Villen mit den elektrischen 3-Tonnen-SUVs im Vorgarten sind keine Klientel, die sich mit der Lebensrealität des neuen Prekariats identifizieren wollen, sondern lieber ihre gesellschaftlichen Widersprüche pflegen und schönreden. Diese Wärmepumpen-Elite überhöht sich auf Kosten der Nachhaltigkeits-Verlierer.
Umgekehrt werden diese grünen Streber von einer Mehrheit aus Verlierern der Energiewende und industriellen Transformation verachtet, weil sie feststellen müssen: Im Niedergang Deutschlands dürfen die Klimaopportunisten und Nullwachstumsverehrer noch den Rahm auf dem grünen Schaum abschöpfen und ihre Deutungshoheit dazu nutzen, anderen die Legitimität ihrer Lebensweise abzusprechen. Diese zutiefst illiberale und unsolidarische Haltung linksgrüner Eliten wird die Wahl im Jahr 2025 prägen. Die meisten Deutschen erkennen diese Fehlentwicklungen leider nicht zuerst über den kritischen Verstand, sondern erst langsam über das Portemonnaie.
Für das große, grüne Nachhaltigkeitsexperiment
Aber auch die SPD, die qua Existenz mit einem zur Schau gestellten Gerechtigkeitseifer auftritt, erzählt seit Jahrzehnten das Märchen von der Ausbeutung. Dabei kümmert sich die Partei, wie sie vorgibt, gar nicht mehr um die „Armen“ oder „sozial Schwachen“. Wenn sie es täte, müsste sie jeglicher Armutsverschärfung durch grünen Projektgigantismus in den herrschaftlichen Arm fallen. Dort wäre das „revolutionäre Potenzial“ für die Etablierung neuer sozialer Verantwortung auffindbar. Stattdessen reitet sie den lahmen Gaul „Umverteilung“ und lügt den Bürgern etwas vor: „Wo ist die Ungerechtigkeit?“ lautet die Frage, die die SPD stets gezielt falsch beantwortet. Die Verhältnisse in der sozialen Marktwirtschaft sehen nämlich gar nicht so ungerecht aus.
Das oberste eine Prozent der Steuerpflichtigen, die „reichen“ Topverdiener mit Einkünften von zirka 280.000 Euro pro Jahr, tragen fast ein Viertel der Steuerlast (24 Prozent), die obersten zehn Prozent tragen über 57 Prozent der Steuerlast (Einkommen über 100.000 Euro p.a.) und die obersten 50 Prozent der Steuerpflichtigen (Einkommen ab zirka 36.000 Euro) tragen über 94 Prozent der Steuerlast. Also tragen die unteren 50 Prozent der Steuerpflichtigen, die ärmeren und sozial schwächeren Bürger, nur knapp 6 Prozent zur Finanzierung des Staates bei. Man muss bewusst die Realität verzerren wollen, um diese Verhältnisse als ungerecht zu bezeichnen.
Den Bürgern geht dann schlicht das Geld aus
Jedoch fremdelt die SPD mit ihrem progressiven Erbe und versucht, sich an die grünen, wohlhabenden Eliten ranzuschmeißen, denen sie ihre Ungerechtigkeitsmythen noch angedeihen lassen kann, zumal dort die sogenannte „Klimagerechtigkeit“ der Klimalobbyisten perfekt andocken kann. Das Vorhaben steht aber auf der Kippe: Es ist die Mittelschicht, deren Wohlstand für das große, grüne Nachhaltigkeitsexperiment und die „Gerechtigkeit“ geopfert werden soll. Wenn diese Schicht in der Dauerkrise des gesellschaftlichen Umbaus dahinsiecht, wird grüne Politik auf Jahrzehnte in Deutschland nicht finanzierbar sein. Den Bürgern geht dann schlicht das Geld aus, um sich bei der SPD und den Grünen für ihr schlechtes soziales und ökologisches Gewissen noch freizukaufen.
Die Umfragen lassen sich unmissverständlich als Forderung nach Rücktritt und Neuwahlen deuten, das Vertrauen der Wähler ist dahin, allein die Protagonisten wollen keine Konsequenzen ziehen. Ihr energetisches Potenzial war nie besonders hoch, ein phlegmatischer, vergesslicher Kanzler, ein seilschaftender, larmoyanter Wirtschaftsminister und ein blasser Erfüllungsgehilfe im Finanzministerium konnten den Aufgaben nicht gerecht werden, die sie in einer beispiellosen Dramaturgie selbsterfüllender Prophezeiungen realisierten. Das Vermächtnis dieser zwei Jahre Ampel ist eine ungeheuerliche Verschwendung für falsche Weichenstellungen, deren Hypotheken dem Land lange erhalten bleiben werden, auch dann noch, wenn die Drohkulissen verschoben wurden und der klimatisch jüngste Tag ohne Massensterben vergangen ist. Weltenrettung und Menschheitsbeglückung sind besonders dann schwierig zu meistern und überaus teuer, wenn sie gar nicht anstehen.
Dieser Text erschien zuerst im wöchentlichen Newsletter von Achgut.com (jeweils am Freitag), den Sie hier kostenlos bestellen können.
Fabian Nicolay ist Gesellschafter und Herausgeber von Achgut.com.