Im folgenden geben wir einen Auszug aus einem Gespräch zischen Jordan B. Peterson und der aus Nordkorea geflohenen Menschenrechtlerin Park Yeon-mi wieder. Yeon-mi, Jahrgang 1993, flüchtete im Alter von 13 Jahren mit ihrer Familie nach China. Heute lebt sie in den USA. In ihrem 2016 erschienenen Buch „Mut zur Freiheit: Meine Flucht aus Nordkorea“ beschreibt sie die furchtbaren Zustände in ihrem sozialistischen Heimatland.
Park Yeon-mi: Nach dem Kollaps der Sowjetunion fiel deren Unterstützung für das nordkoreanische Regime weg. Das nordkoreanische Regime wird bekanntlich von Planwirtschaft bestimmt. Beispielsweise wird festgelegt, wie viel Reis pro Tag pro Person gegessen werden darf, je nach Klasse. Die größte Ironie Nordkoreas ist, dass das Land auf der Basis der Idee der Gleichheit gegründet wurde. Gleichmacherei und Kommunismus. Doch das selbsternannte sozialistische Paradies teilte seine Bevölkerung in drei Klassen ein. Und innerhalb dieser drei Klassen gibt es noch einmal 50 Unterkategorien. Mit dem Ergebnis, dass es sich dabei wohl um die ungerechteste Gesellschaft handelt, die die Menschheit bislang hervorgebracht hat.
Ich wurde im Norden des Landes geboren. Während der großen Hungersnot zwischen 1994 und 1998 starben die meisten Menschen in meiner Region. In der Hauptstadt Pjöngjang waren die Leute jedoch wohlgenährt. Als Vergleichsmodell fallen mir die Tribute von Panem ein (im englischen Original „The hunger games“): Ein Land wird in 13 Teile geteilt. Alle Menschen außerhalb der Hauptstadt müssen um ihr Überleben kämpfen, sodass niemand auf die Idee kommt, sich Fragen nach dem Sinn des Lebens oder der Freiheit zu stellen. Die Leute sind nur damit beschäftigt, wie sie an die nächste Mahlzeit kommen und ihre Kinder ernähren können. In Pjöngjang hingegen futtern sie weiter und tun alles, um das System und das Regime aufrechtzuerhalten.
In diese Welt wurde ich also hinein geboren. Der Anblick toter Körper auf der Straße war für mich normal. Mir wäre nie in den Sinn gekommen, dass das etwas Seltsames sein könnte. Seit meiner Flucht werde ich ständig gefragt, warum es in Nordkorea keine Revolution gibt. Zunächst einmal haben wir nicht einmal das Vokabular dafür. Angefangen damit, dass man nichts über das Wort „Liebe“ lernt. In Nordkorea gibt es keine echte Liebe. Meine Mutter hat mir nie gesagt, dass sie mich liebt. Wir verwenden das Wort „Liebe“ nur, um unsere Gefühle für unseren Führer zu beschreiben. Nicht für einen anderen Menschen.
Also kein Wort für „Liebe“, „Menschenrechte“, „Würde“ oder „Freiheit“. Die Menschen in Nordkorea wissen nicht, dass sie unterdrückte Sklaven sind.
Jordan B. Peterson: Sie schreiben, dass die Informationskontrolle so totalitär ist, dass Sie überhaupt keine Ahnung hatten, was außerhalb Nordkoreas vor sich ging. Und trotz allen Elends um Sie herum glaubten Sie, dass es in anderen Ländern viel schlimmer zuginge.
Park Yeon-mi: Selbst im 21. Jahrhundert wissen die Nordkoreaner nichts von der Existenz des Internets. Wir haben noch nicht einmal Elektrizität. In der Schule habe ich niemals eine Weltkarte gezeigt bekommen. Man hat mir ebenfalls nicht beigebracht, dass ich Asiatin bin, sondern dass ich zur Rasse von Kim Jong-un gehöre. Und der nordkoreanische Kalender beginnt nicht mit Christi Geburt, sondern mit der Geburt von Kim-Jong-un. Uns fehlen also, gelinde gesagt, eine Menge Informationen. Und wer sich Informationen von außerhalb beschafft, wird hingerichtet.
Auslandsreisen sind natürlich tabu. Kim Jong-un hingegen ging in der Schweiz zur Schule. Die Elite darf natürlich reisen. Die anderen, so wie ich, nicht, sodass wir nicht einmal wissen, dass es andere Länder, Kontinente und Ethnien gibt.
Jordan B. Peterson: In Ihrem Buch beschreiben Sie auch, wie Sie aufwuchsen. Dominiert werden Ihre Erinnerungen vom Hunger. Was sind Ihre Kindheitserinnerungen an die 90er Jahre hinsichtlich der Ernährung?
Park Yeon-mi: Nordkoreaner sind wegen der Unterernährung im Durchschnitt 7 bis 10 Zentimeter kleiner als die Südkoreaner. Ich bin 1,57 Meter groß, aber die meisten Nordkoreaner sind kleiner als ich. Ab einer Größe von 1,47 Meter wird man ins Militär eingezogen. Viele erwachsene nordkoreanische Männer sind also nur ungefähr 1,50 Meter groß oder sogar kleiner. Die gravierende Unterernährung beeinflusst außerdem unsere Hirnentwicklung und Lebenserwartung.
Wenn in Nordkorea jemand 60 Jahre alt wird, ist das sehr alt. Als meine Großmutter an Unterernährung starb, bevor sie 60 wurde, fanden wir, dass sie ein langes Leben gehabt hatte. Wir sprechen also wirklich von einem anderen Planeten.
Die einzige Möglichkeit, an Proteine zu kommen, ist, Grashüpfer, Libellen und andere Insekten, aber auch Baumrinde, Pflanzen und Blumen zu essen. So schaffen wir es, zu überleben. Die meisten Menschen sterben im Frühling, denn in dieser Jahreszeit gibt es noch kaum Gewächse oder Insekten.
Jordan B. Peterson: Sie schreiben auch, dass für Sie und Ihre Umgebung der Frühling nicht die Jahreszeit der Hoffnung und Erneuerung war, sondern die allerschlimmste Zeit des Jahres. Vielleicht können Sie das erklären.
Park Yeon-mi: Ich erinnere mich, wie jeden Frühling wegen des Vitaminmangels meine Haut aufsprang und mir ständig schwindlig war. Für uns war es die Jahreszeit des Todes. Denn alle, die es nicht mehr bis zum Sommer schafften, wo die Pflanzen wachsen, starben. Wie ich im Buch beschreibe, floh ich mit meiner Familie im März 2007. Kurz zuvor bekam ich schlimme Bauchschmerzen, und meine Mutter brachte mich ins Krankenhaus. Aber in Nordkorea gibt es keine Elektrizität, keine Röntgengeräte oder ähnliches. Die Krankenschwestern benutzen eine Spritze für alle Patienten im Krankenhaus. In Nordkorea stirbt man nicht an Krebs, sondern an Infektionen oder Hunger.
Ein Arzt sagte meiner Mutter, dass ich wohl eine Blinddarmentzündung hätte und sofort operiert werden müsste. Mein Bauch wurde also geöffnet – ohne Narkose, denn so etwas gibt es auch nicht. Die Ärzte stellten fest, dass ich doch keinen entzündeten Blinddarm hatte und nähten mich wieder zu. Im Badezimmer des Krankenhauses stapelten sich menschliche Körperteile. Davon wurden Ratten angelockt. Kinder wiederum jagten diese Ratten durch das Krankenhaus und aßen sie, wenn es ihnen gelang, sie zu fangen. Wenn sie dann an einer Infektion starben, wurden sie wiederum von Ratten gefressen.
Jordan B. Peterson: Diese Vorgänge im Krankenhaus beschreiben Sie in Ihrem Buch. In derselben Episode schildern Sie, wie Sie vor dem Ende der Operation aufwachen, weil sie nicht genügend Narkosemittel bekommen hatten.
Park Yeon-mi: Es handelte sich nicht um ein richtiges Narkosemittel, sondern um eine Dosis Schlaftabletten, deren Wirkung nachließ. In Nordkorea bekommt man keine Narkose, auch nicht, wenn man am offenen Bein operiert wird, weil das „freie Gesundheitssystem“ keine Leistungen bringt.
Jordan B. Peterson: In den 90er Jahren betrug das Durchschnittsgehalt in Nordkorea 2 Dollar pro Woche. 1,90 Dollar pro Tag wird von der UN als Grenze zwischen „arm, aber überlebensfähig“ und „arm und zum Verhungern verurteilt“ angesehen. Die Nordkoreaner haben also in einem Monat verdient, was laut UN als absolutes Minimum pro Tag nötig ist.
Sie beschreiben ja, wie sie sich praktisch von nichts ernährt haben. Reis war Luxus. Andere Nahrungsmittel wie Proteine oder Obst und Gemüse waren so gut wie unbekannt. In einer der stärksten Passagen schildern Sie, wie Sie mit ein paar anderen Kindern auf die Felder laufen. Sie waren ungefähr 7 oder 8 Jahre alt und fingen Libellen, die Sie anschließend mit einem Feuerzeug rösteten und aßen. Auf diese Weise bekamen Sie Proteine.
Park Yeon-mi: Ja, ich habe viele Insekten gegessen. In Nordkorea gibt es kostenlos Schulunterricht, aber kein Konzept der Minderjährigkeit. Es ist außerdem verboten, das Wort „ich“ zu benutzen. Man würde also nicht sagen „Ich mag Essen“, sondern „Wir mögen Essen“. Vor diesem Hintergrund werden schon Schulkinder als Arbeitskräfte betrachtet, die auf Baustellen arbeiten müssen. Und auch Kindern, die es sich leisten können zur Schule zu gehen, bedeutet die Schule meist nur wenig.
Diejenigen, die ihre Eltern zu Hause unterstützen, so wie ich damals, machen sauber oder gehen Wasser holen, wenn ihre Eltern nach Essen suchen. Wir haben ja auch keine Kanalisation. Außerdem müssen wir Feuerholz holen, weil wir auch kein Gas, keine Kohle und so weiter haben. Unser Essen müssen wir uns in der Natur suchen. Im Sommer baden wir im Fluss, im Winter gar nicht. Man kann fast von einem Lebensstil wie im 16. Jahrhundert sprechen. Verglichen mit meiner heutigen Lebenssituation, kann ich kaum glauben, dass ich mich immer noch im selben Leben befinde.
Dies ist ein Auszug aus einem Gespräch zischen Jordan B. Peterson und der aus Nordkorea geflohenen Menschenrechtlerin Park Yeon-mi. Hier geht's zum Auszug und hier zum gesamten Gespräch.