Vor zehn Jahren, am 5. Dezember 2013, ist Nelson Mandela im Alter von 95 Jahren verstorben. Sein Führungsstil verkörperte die Philosophie Ubuntu, wobei die soziale Harmonie als höchstes Gut gilt. Seine Bereitschaft zur Vergebung und die Zusammenarbeit mit Andersdenkenden waren für Südafrika von entscheidender Bedeutung.
Während des Kampfes gegen das segregationistische Regime in seinem Land, während seiner siebenundzwanzigjährigen Haft und bei seiner Freilassung blieb Nelson Mandela stets den von Ubuntu vermittelten Werten treu. Auf der Grundlage dieser Werte half er zusammen mit Erzbischof Desmond Tutu Südafrika, sich von der Apartheid zu erholen, indem sie das gefürchtete Blutbad verhinderten. Nach den ersten demokratischen Wahlen des Landes im Jahr 1994 begannen sie mit der Schaffung der Wahrheits- und Versöhnungskommission eine Politik der nationalen Versöhnung. Ubuntu ist ein Wort aus den Bantu-Sprachen Zulu und Xhosa. Es bedeutet „Menschlichkeit“, „Nächstenliebe“, „Solidarität“, „Teilen“, „gegenseitige Abhängigkeit“ und steht für eine afrikanische Lebensphilosophie aus Überlieferungen, die im täglichen Leben praktiziert werden sollte.
Ubuntu betont die Verantwortung des Individuums und gegenseitige Abhängigkeit innerhalb seiner Gemeinschaft. Desmond Tutu hat die Lebensphilosophie in einem Interview so erklärt: „Ubuntu, das ist im Grunde der Kern des Seins, der Kern der Persönlichkeit. Wir sagen: Du musst dich bemühen, alles zu sein, was du sein kannst, damit ich alles sein kann, was ich sein kann. Meine Menschlichkeit hängt mit deiner Menschlichkeit zusammen. Der einzelne losgelöste Mensch ist im Grunde genommen ein Widerspruch in sich. Wir sagen: Eine Person wird zur Person durch andere Personen, durch die Mitmenschen.“
Im westafrikanischen Senegal sprechen über 80 Prozent der Bewohner Wolof. In dieser Sprache gibt es das Wort Teranga, das einer Denkweise wie Ubuntu entspricht. Es wird mit Gastfreundschaft übersetzt, bedeutet aber noch viel mehr: Respekt, Gemeinschaft, Solidarität und Pflicht zum Teilen mit Bedürftigen. Seine Verbreitung ist vor allem dem ersten Präsidenten Senegals, Léopold Sédar Senghor, zu verdanken. Senghor, ein Christ, setzte sich für Teranga ein, um die nationale Identität zu stärken.
Kollektives Denken als Gegengewicht zur europäischen Kultur des Individualismus
Der amerikanische Journalist Alex Perry schreibt jedoch: „Für jeden anständigen Europäer ist Korruption des Teufels. Durch die Linse von Ubuntu gesehen, sind Korruption und Vetternwirtschaft nichts weniger als eine soziale Pflicht – ein verantwortungsbewusstes Teilen mit dem Clan.”
Fragen dieser Art stellen sich insbesondere dann, wenn die Täter Politiker oder Angehörige anderer Eliten sind, denen Betrug und Korruption in großem Stil nachgewiesen worden ist. Der ehemalige Präsident von Südafrika, Jacob Zuma, der, als ihm Korruption vorgeworfen wurde, öffentlich darauf hingewiesen hat, dass diese Praxis Teil der afrikanischen Kultur sei, konnte bisher jedenfalls persönlich von dieser Einstellung ungestraft profitieren. Und auch andere afrikanische Politiker – darunter Kleptokraten und Diktatoren vom Schlage eines Mugabe – haben von ihren Kollegen in der Afrikanischen Union nichts für sie Nachteiliges zu erwarten, denn: „Dein Bruder ist dein Bruder, selbst wenn er stinkt“ (zit. nach Helmut Danner, „Das Ende der Arroganz“, 2012).
Nicht wenige Familien oder sogar das Dorf bündeln ihre gesamten Mittel, um einem jungen Mann die Migration nach Europa zu ermöglichen. Migration stellt in manchen Regionen eine Strategie dar, nicht nur die eigene Situation, sondern auch die der Familie und der Gemeinschaft zu verbessern. Es besteht eine hohe Erwartungshaltung innerhalb der Gemeinschaft. Unglückliche Rückkehrer haben es deshalb schwer, sich wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Sie werden als Verlierer gesehen, die es nicht geschafft haben, mit dem gesammelten Geld nach Europa zu kommen und ihre Familien zu unterstützen.
Die senegalesische Schriftstellerin Fatou Diome schreibt in ihrem Roman „Ketala“ Diogenes, 2007: „Während Makhous Eltern sich mit seinen gelegentlichen spontanen Geldsendungen zufriedengaben, forderten die von Memoria ihren Anteil regelmäßig ein.“ … „Worauf wartest Du noch, um das Überleben deiner Familie zu sichern? Muss ich erst auf dem Markt den Träger machen und deine Mutter das Dienstmädchen in Dakar? Und unser Kind, unser eigen Fleisch und Blut, das uns sein Leben und seine Erziehung verdankt, lebt in Frankreich? Ich hoffe, dass du mich nicht noch einmal zwingst, dich an deine Pflicht zu erinnern.“ … „Der Vater hatte ein neues, großes Geschäft eröffnet, die Mutter wieder ein Dienstmädchen eingestellt, und ihre Geschwister gingen auf die beste Privatschule in Dakar. Als sie ihren Eltern auch noch eine Pilgerreise nach Mekka schenkte, waren deren Herzen so von Dankbarkeit erfüllt, dass ihnen der Mund überging vor Lob: Sie war die beste Tochter von allen!“ (Vielleicht sollte Niedersachens Ministerpräsident Stephan Weil afrikanische Literatur lesen oder lesen lassen / vgl. Bild vom 10.11.2023 „Knallhart-Ansage gegen Sozial-Missbrauch).
Ahmadou Kourouma, der bekannte ivorische Schriftsteller, beschreibt in seinem Roman „Die Nächte des großen Jägers“ (Unionsverlag TB, 2002), wie ein neuer Staatschef nach der Unabhängigkeit seines Landes von seinen erfahrenen Kollegen das Handwerk lernt. Und ein alter Kollege rät ihm wie ein afrikanischer Finanz-Machiavelli: „Das erste große Unheil, das einem Mann an der Spitze eines Staates und einer Einheitspartei droht, entsteht aus der bedauerlichen Neigung, bei Karrierebeginn die Staatskasse von der persönlichen Kasse zu trennen. … Für den, der die höchste Macht ausübt, gibt es im unabhängigen Afrika weder Zukunft noch Autorität, wenn er nicht deutlich zeigt, dass er der reichste und der großzügigste Mann in seinem Land ist. Ein wahrer, ein großer afrikanischer Herrscher gibt, tagtäglich und unablässig.“ Soweit die erfahrungsgesättigten klientelistischen Ratschläge, deren beißende Ironie Ahmadou Kourouma meisterhaft vermittelt. Heute gibt es zwar keine Einheitsparteien mehr, Wahlen werden regelmäßig abgehalten, aber die Parteien sind stark personalisiert und durch klientelistische Politik geprägt, die ihren demokratischen Charakter unterhöhlen.
Das Stimmverhalten ist immer noch stark identitätspolitisch geprägt, man belohnt oder bestraft an der Wahlurne nicht Parteien und Politiker nach individuellem Gutdünken, sondern drückt seine Identität aus, zur Zugehörigkeit zur Volksgruppe. „In manchen Staaten schienen Wahlen einer ethnischen Volkszählung zu gleichen.“ (Stefan Mair) Das tief sitzende Misstrauen unter Ethnien in Afrika ist auch Entwicklungshemmnis. Dass die ethnische Zugehörigkeit im Zweifel über demokratische Spielregeln obsiegt, ist leider eine Tatsache. Loyal ist man nicht gegenüber der Nation, Treue gebührt der Familie, dem Clan.
Die Kehrseite von Ubuntu
Rainer Gruszczynski, der 16 Hilfsprojekte in Afrika betreute, hat die afrikanische Sichtweise schlüssig formuliert: „Anders als im Westen, wo die Förderung und Entfaltung des Individuums im Mittelpunkt seiner Sozialisation stehen, hat im Denken und Handeln von Afrikanern der Einzelne weniger als Person Bedeutung denn als Mitglied von Familie, Dorf, Clan oder Ethnie. Diesen Systemen ist er ein Leben lang durch Treuepflichten verbunden, weil sie – gemäß traditioneller Auffassung – erst einen vollwertigen Menschen aus ihm gemacht haben. Im Gegenzug fühlt der Einzelne sich daher verpflichtet, seine individuellen Rechte den kollektiven Rechten ein Leben lang unterzuordnen. Solche systemischen Konstellationen haben sich in der afrikanischen Geschichte durchaus bewährt, weil die dem Individuum übergeordneten Gruppen – Familie, Clan, Dorf – sein Überleben erleichtert haben. Und sie tun dies noch immer.
Aber auch in umgekehrter Richtung funktioniert das System. Denn afrikanische Migranten, selbst wenn sie im Ausland nur auf Sozialhilfeniveau leben, schicken beispielsweise in einer Größenordnung, die den Umfang der Entwicklungshilfe für ganz Afrika übertrifft, regelmäßig Geld an ihre Verwandten oder an ihr Heimatdorf. Und sie tun das nicht nur, um ihnen dafür zu danken, dass diese ihnen z.B. die Flucht finanziert haben, sondern weil sie sich weiterhin als Teil ihrer Ursprungsgemeinschaft fühlen, von der sie erwarten, dass diese sie – unter Mithilfe der gemeinsamen Ahnen! – auch in Zukunft schützt. Und von der sie, über den Tod hinaus, ein Teil bleiben wollen.
So zu denken, zu empfinden und zu handeln, birgt aber auch gravierende Nachteile. Denn dadurch wird es fast unmöglich für Afrikaner, die in Wirtschaft, Politik oder Verwaltung ihres Heimatlandes Einkommen erzielen, sich den Forderungen von Mitgliedern ihrer Großfamilie oder ihres Dorfes nach Unterstützung zu entziehen. Diese bitten den materiell bessergestellten „Nächsten“ immer wieder nachdrücklich darum, seinen „Reichtum“ mit ihnen zu teilen (Distributionspflicht). Oder sie verlangen von ihm, wenn dieser als Unternehmer tätig ist, Angehörige seiner erweiterten Familie einzustellen. Einstellungskriterium ist dabei aber nicht etwa die Qualifikation des Bewerbers, sondern dessen Beziehung zum Chef. In dieser Vetternwirtschaft können Unternehmer einmal eingestellte Angehörige nicht oder nur unter großen Schwierigkeiten entlassen, selbst wenn diese sich als unfähig oder sogar als unwillig erwiesen haben, die ihnen übertragenen Aufgaben zu erledigen.
Solidarität gilt nur der Großfamilie oder der Volksgruppe
Der Druck ihrer Herkunftsgemeinschaft, der sich Einzelne, selbst wenn sie rational handelnde Unternehmer sind, ein Leben lang verbunden fühlen, ist gewaltig. Und sie fühlen sich oft außerstande, ihm standzuhalten. Auf diese Weise wird es afrikanischen Existenzgründern sehr erschwert, das für Sicherung oder gar Wachstum seines Unternehmens erforderliche Kapital anzusammeln. Viele Unternehmensgründer sehen sich daher gezwungen, ihre Heimatregion zu verlassen, um dem Druck und dem wirtschaftlichen Misserfolg zu entkommen. Bartholomäus Grill bezeichnete diese Art von Wachstumsbremse als „afrikanische Krankheit“.
Noch kritischer aber ist zu bewerten, dass in afrikanischen Staaten Subsysteme wie Dörfer oder auch Ethnien, die in ihrem Inneren zwar von einer bemerkenswerten Solidarität geprägt sein mögen, sich nach außen sehr oft deutlich von fremden Gemeinschaften abgrenzen. Das diesem Verhalten zugrunde liegende verengte Verständnis von Identität kann zu Fremdenfeindlichkeit bis hin zu Stammesfehden oder Bürgerkriegen führen. Aber auch auf einem weniger aggressiven Niveau erweist sich diese Haltung als höchst problematisch, weil in Afrika – wie oben beschrieben – Loyalitäten gegenüber Freunden und Angehörigen der erweiterten Familie oder der gleichen Ethnie sehr häufig schwerer wiegen als Loyalitäten gegenüber vernunftbegründeten Erfordernissen. Noch einmal gesteigert wird dieses Entwicklungshindernis, wenn die Erfordernisse von „Fremden“ vertreten werden, von Weißen gar, die aus einer anderen Welt kommen.
Die Solidarität gilt – wie ich es auch erlebt habe – nur dem Beziehungsgeflecht. Nach wie vor ist die Großfamilie die dominierende sozioökonomische Einheit, und für die Volksgruppenangehörigen ist es die Volksgruppe, die für Schutz, Sozialfürsorge und manchmal auch für Rechtsprechung sorgt. Die Solidarität der Städter ist in viele Gemeinschaften (familiäre, berufliche, ideologische, religiöse) aufgespalten. Bei Konflikten sind in Afrika Volksgruppen-Loyalitäten immer stärker als andere Bindungen.
Damit könnte man auch erklären, weshalb es in Afrika – wie oben erläutert – so wenige Unternehmer gibt, die die nötigen Arbeitsplätze schaffen. Einem afrikanischen Unternehmer wird es selten gelingen, sein Betriebskapital von seinem privaten Besitz zu trennen. Es herrscht kein Mangel an Talent und Initiative. Afrikaner sind außerhalb ihrer Umgebung oft erfolgreich. In ihren Ländern scheuen sie Korruption und Klientelismus, defizitäre Rechtsstaatlichkeit und eine mangelnde Garantie der Eigentumsrechte. Deshalb weichen sie oft auf den Handel aus. Im Handel liegt die Stärke der Afrikaner, weil dort starke soziale Beziehungen benötigt werden. Allerdings kann man auf dem Handel allein keine Volkswirtschaft aufbauen.
Persönliche Beziehungen als Mittel zum Überleben
In fast allen afrikanischen Ländern gibt es kein vom Staat finanziertes Auffangnetz. Dies ist wie beschrieben die Familie, die Großfamilie, die Volksgruppe. Es fehlt an sozialen Einrichtungen und funktionierenden Banken.
Es gibt einen großen Mangel an Arbeitsplätzen für die Millionen junger Schul- und Hochschulabgänger in jedem Jahr. Ohne das soziales Auffangnetz der Familie und im erweiterten Clan würde die Einbindung in die Gesellschaften nicht funktionieren. Jeder, der eine halbwegs einträgliche Anstellung hat, muss neben seiner unmittelbaren Familie noch andere erwerbslose Mitglieder der Großfamilie ernähren und im Falle einer Erkrankung für sie einstehen. In manchen afrikanischen Staaten bekommt man kein Krankenhausbett, wenn nicht vorab bezahlt wird. Die meisten Afrikaner verfügen weder über eine Krankenkasse noch sonstige Versicherungen. Arbeitslosengelder oder Altersrenten sind sehr selten.
Wer rasch zu Erfolg und Reichtum kommt, muss die Missgunst und Begehrlichkeiten der Verwandten fürchten. Er muss nach oben und unten Geschenke verteilen – an die Mächtigen, deren Schutz er benötigt, und an seine Familie, die ihm mit Forderungen im Nacken sitzt. Es gibt den Druck zum Teilen. „Von einem Minister oder Direktor wird erwartet, dass er seinen Verwandten und Klienten Jobs, Pfründen und Vorteile zuschanzt. Das gilt nicht als unmoralische Vetternwirtschaft, Begünstigung oder Korruption, im Gegenteil. Es wäre unmoralisch, nämlich egoistisch, wenn der ‚Patron‘ es nicht tun würde. Vergiss nicht, woher du kommst, sagt man einem solchen Aufsteiger, der seine Nächsten ignoriert, die es zu weniger weit gebracht haben als er selbst.“ (David Signer, langjähriger NZZ Afrika-Korrespondent)
Teilen ist im ganzen subsaharischen Afrika sehr wichtig. Wer sich weigert, macht sich des Geizes und des Egoismus verdächtig. Das Ideal des Systems ist die gegenseitige Abhängigkeit. Die Gruppe steht über dem Individuum. Im privaten Gespräch geben Afrikaner zu, dass man eigentlich nicht von Solidarität spricht, da es sich um ein Geflecht von Verpflichtungen handelt, denen sich der Einzelne nur schwer entziehen kann. Der Afrikaner (oder die Afrikanerin), der sein Leben, seine Freiheit und sein Streben nach Glück selbst in die Hand nimmt, stößt bis heute auf Misstrauen. Individuelle Freiheit als kostbarer Schatz und Errungenschaft der Moderne werden noch allzu häufig einem Kollektiv und der Gleichschaltung geopfert. Manche in Europa und den USA ausgebildete Afrikaner haben sich dennoch von dieser Abhängigkeit gelöst, weil sie Einschränkungen mit Bezug auf ihre individuelle Freiheit, ihrem Fortkommen, ihre Rechte und Pflichten befürchten.
Man kann Politik in Afrika nur dann einigermaßen sinnvoll diskutieren, wenn man den Einfluss von ethnischen Strukturen zur Kenntnis nimmt. Westliche Medien haben oft ein falsches Bild. Sie erliegen Fehleinschätzungen, weil sie das eng gewobene Geflecht von handfesten Interessen, politischen Machtansprüchen, rigorosem Durchsetzungswillen, korrumpierenden Clanverpflichtungen und traditionellen Wertvorstellungen nicht durchschauen. Solidarität ist in der Rhetorik deshalb so beliebt, weil sich damit ein glänzendes Geschäft betreiben lässt.
Volker Seitz ist Botschafter a.D. und Autor des Bestellers „Afrika wird armregiert“, dtv, 11. Auflage (2021)