Thilo Schneider / 13.10.2022 / 16:00 / Foto: Timo Raab / 48 / Seite ausdrucken

Woher kommt die neue Empfindlichkeit?

Wir Boomer, unverkrampft und unsensibel, haben uns oft genug gefragt, wann die Heulerei losging und was sie verursacht hat. Ein möglicher Lösungsansatz könnte im Privatfernsehen der 90er und 2000er Jahre liegen. Damals wurde der Bogen nämlich in die andere Richtung überspannt.

Wokeness – oder gemeinhin „die neue Achtsamkeit“ – ist eine echte Pest geworden. Jeder ist schnell beleidigt, ein simples „Räum' Dein Zimmer auf“ kann wegen Verwendung des falschen Pronomens ein Drama auslösen, ein schlichtes „Sie Löffel“ oder „Sie Idiot“ führt zu Strafanzeigen, Gerichtsprozessen und allgemeinem Lamento. Einen schwarzen Menschen als „schwarzen Menschen“ zu bezeichnen, ist ein schwerwiegender Fall von Diskriminierung, ein „Wo kommst du her?“ gilt als übergriffige Frage, selbst wenn der Gefragte, die Gefragte, das Gefragte weiß wie ein Alpina-Wandanstrich ist.

Wir Boomer, unverkrampft und unsensibel, haben uns oft genug gefragt, wann die Heulerei losging und was sie verursacht hat. Ein möglicher Lösungsansatz könnte im Privatfernsehen der 90er und 00er Jahre liegen, als der real existierende Proletarismus die Oberhand gewann.

Erinnern wir uns einmal an die BILD-Zeitung, das „Mädchen von Seite 1“: Irgendeine Uschi mit aus der Latzhose baumelnden Brüsten und einem Gabelschlüssel in der Hand und dem Subtext: „Wer will nicht einmal bei der tollen Trulla (19) Hand anlegen?“ Als Gelegenheitsleser dachte ich mir immer ein sabbergeiles „hähähä“ von irgendwelchen Widerlingen aus dem Trailerpark hinzu. „Respektvoll“ wäre anders gewesen. Es passt schon, dass die mopsvorzeigende Schraubenschlüsseltrulla in den Innenteil gewandert ist. So viel ordinäre Doofheit war schlicht eine Beleidigung für jeden Leser mit einem IQ über einer Geschwindigkeitsbeschränkung innerorts.

„Nichts reimt sich auf Uschi“

Schauen wir uns die Comedians an: Mario Barth („Kennze, nä? Kennze, kennze, hömma, hömma!“), der sich so witzige Sätze wie „Nichts reimt sich auf Uschi“ markenrechtlich schützen ließ, ein Typ wie der Klassenschlechteste, hatte mit wirklich sexistischem Bockmist irre Erfolge. Stefan Raab, die Kölner Zahnfee, ließ 2001 in seiner Sendung „TV Total“ eine damals 16-Jährige durch, deren einziger Fehler es war, „Lisa Loch“ („Loch, verstehen Sie? Hahaha. Loch!“) zu heißen. Und keiner hat dem gar lustgen Spassekenmacher öffentlich Einhalt geboten. Ein Richter hat ihn schließlich fröhlich lachende 70.000 Euro Schadenersatz auf den Tresen des OLG Hamm legen lassen. Zu und mit Recht!

Welche Leute, welche Shows haben wir denn angesehen? Bei „Deutschland sucht den Superstar“ durften sich hunderte junger Menschen von Dieter Bohlen auf eine Weise herabwürdigen lassen, bei der Aufseher von Bootcamps noch etwas hätten lernen können und selbst Gunnery-Sergeant Hartmann wie eine Klosterschülerin wirkte. Wenn ein Übergewichtiger zur Türe hereinkam, konnte es sich der Scherzsender RTL nicht verkneifen, das Bild wackeln zu lassen und als Geräusch das „Thumb, thumb, thumb“ eines laufenden Elefanten oder Nilpferds einzuspielen. Lustig, gell? Total lustig, total witzig.

Ich habe mich teilweise vor dem Fernseher dafür fremdgeschämt – andere fanden das mega-klasse, wie die Einschaltquoten gezeigt haben. Aber wir haben auch nichts gegen eine derartige Herabwürdigung von harmlosen Typen, die vielleicht mit etwas Selbstüberschätzung gesegnet waren, getan. Wir haben es laufen lassen. Hey, nicht so verklemmt, ist doch lustig… Was das mit den Betroffenen gemacht hat, hat keiner gefragt.

Ein wenig mehr „Wokeness“ schadet nicht!

Und selbst heute fallen 80 Prozent aller Grünenkritikerdoppelpunktinnen an Ricarda Lang keine anderen Kritikpunkte als ihr offensichtliches Übergewicht ein. Hey, wenn das ihr einziges „Manko“ wäre, würde ich sie wählen. Churchill war auch kein schlankes Reh, Kohl und Strauß und Schröder auch nicht – aber sie haben viel bewegt.

Es ist eine Sache, mit jemandem zu lachen, eine andere, über jemanden zu lachen – erst recht über Dinge, für die er nichts kann: Seien es Gewicht, Hautfarbe, Haarfarbe, Geschlecht oder den Namen. Ich wette, ich könnte jeden Einzelnen, der diese Zeilen liest, so derbe durch den Kakao ziehen, dass es RICHTIG weh tut – weil eben jeder seine Achillesferse und sein Päckchen zu tragen hat.

Eine Ausnahme gibt es allerdings: Wenn der- oder die- oder dasjenige seine Achillesferse offensiv dem Paris präsentiert, um sich Vorteile zu verschaffen – und das ist genau das, was leider häufig – viel zu häufig – geschieht und die Achillesferse durch die Medien als „Normalität“ verkauft und regelrecht aufgezwungen wird. Ja, dann ist Paris zum Schuss berechtigt! Auch eine einbeinige, schwarze Muslimin kann ein grauenvoller Mensch sein.

Nichtsdestotrotz kann ein wenig mehr Achtsamkeit und Respekt nichts schaden und wie bei allem im Leben war das Zurückschlagen des Pendels erwartbar. Und ich weiß, ich bin in diesem Text nicht sonderlich achtsam mit Dieter Bohlen, Stefan Raab und Mario Barth umgegangen – aber erstens haben die sich das süßsauer verdient, zweitens damit jede Menge Kohle gemacht, und drittens können die das als Promis ab und werden mir (hoffentlich) keine Unterlassungserklärungen schicken.

Über die alliterative Verena Vagina oder Peter Pimmel oder David Depp würde ich mir das verkneifen – die haben nun einmal ihren eigenen Film und ich weiß nicht, was dahintersteckt. Es gilt hier wie bei allem anderen: Alles mit Maß und Ziel. Ein wenig mehr „Wokeness“ schadet nicht!

(Weitere achtsame Artikel des Autors unter www.politticker.de)

 

Von Thilo Schneider ist in der Achgut-Edition erschienen: The Dark Side of the Mittelschicht, Achgut-Edition, 224 Seiten, 22 Euro.

Foto: Timo Raab

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Thomas Szabó / 13.10.2022

Das Etikett “ordinäre Doofheit” ist für die Schraubenschlüsseltrulla zu kurz gegriffen. Es handelt sich hierbei um die ungefilterte & unzensierte Stimme der Natur. Diese erhebt keine intellektuellen Ansprüche, somit ist es fehl am Platz welche zu verlangen. Dort wo keine IQ erforderlich ist, kann auch keine IQ beleidigt werden. Die Schraubenschlüsseltrulla spricht die Instinkte an und erwartet gar keinen Respekt. Die schmierig grinsenden Widerlinge muss ich allerdings als Argument gelten lassen, aber nur dann, wenn die Widerlinge sonst auch keine höheren Interessen haben. Ich sehe keinen Widerspruch darin, sich der ordinären Stimme der Natur und der erhabenen Stimme des Intellektes hinzugeben. Ich lehne das klassisch-christliche Ausspielen des Intellektes gegen das Fleisch ab. Man kann mit der tollen Trulla Küsse tauschen und sich mit ihr über subatomare Teilchen austauschen. Armselig ist man nur, wenn man sich selbst der “fleischlichen Keuschheit” oder der “intellektuellen Keuschheit” als Opferlamm darbietet und seelisch oder körperlich verkümmert. Mein Ideal wäre meine Grabinschrift: In Weisheit & Würde gealtert. Nicht aus Lustlosigkeit & Langeweile aus dem Leben geschieden. Schloss seine Augen bei einem Glas Bier im Beisein seiner Freunde. Prost!

Vera Meißner / 13.10.2022

“Woke” ist ein Waffensystem, erdacht in Thinktanks wie dem Tavistock Institute für psychologische Kriegsführung. Es wurde US-spezifisch in Anschlag gebracht und ist in anderen Ländern meist daran erkennbar, daß die “Argumentation” auf die Zuständer der USA ausgerichtet sind. Es ist weder “von selbst” entstanden noch als Bewegung von unten. Es wird mit viel Geld von oben per Gewalt durchgesetzt. Die erste Lüge von Woke ist: “ich komme um etwas gutes zu tun”. Diese Glaubenslehre macht nichts besser, sie geht nie an Ursachen. Sie stört nicht beim Krieg, bei Korruption. Sie ersetzt Menschen durch Kategorien ihres Äußeren. Wokeness hatte die Aufgabe, Studentenproteste und alles mit Arbeiterprotesten und Friedensbewegung zu erledigen.

Bernd Michalski / 13.10.2022

Was hatten Sie denn heute im Kaffee? Sonst folge ich ja gern, aber heute … Sie glauben doch wohl nicht wirklich, dass die grünlinken Gouvernanten die “verdiente” Antwort auf das Proletenfernsehen seien. Sie sind das Ergebnis des Marschs der 68er durch die Institutionen, da war an Privatfernsehen noch gar nicht zu denken. _ Ich denke auch, die BILD war früher wesentlich segensreicher als das heutige Blatt; nicht umsonst haben die Linken Krieg gegen das Haus Springer geführt. Sicher war das Busenmädchen ein wenig primitiv, aber SEX ist es im Grunde auch – insoweit war das auch nur ehrlich. _ Wohin wollen Sie denn eigentlich heute? Darf man die Regierenden nun “unhöflich” behandeln oder muss man lieber so ganz feinsinnig bleiben? Verdient haben sie m.E., dass man sie Tag und Nacht mit den übelsten Vokabeln traktiert, denn sie handeln wie Verräter und Verbrecher, wohl nicht nur im Ergebnis ihres unsäglichen Tuns, sondern schon von der Motivlage her, denn es sind rücksichtslose, fanatische Marxisten. _ Ja natürlich, ich mag es schon auch kultiviert, ironisch und subtil, wenn die Situation danach ist, und ich habe mir das Proletenfernsehen nicht angesehen, wohl im Gegensatz zu Ihnen. Aber ich kann nicht erkennen, warum und wie man das als “Vorgeschichte” zur heutigen linksradikal gesellschafts-zerstörerischen wokeness darstellen kann. Temporal vielleicht, aber nicht kausal. _ Im übrigen glaube ich, dass Dieter Bohlen uns besser regieren würde als die gegenwärtige Regierung, weil er Bodenhaftung hat.

Weitere anzeigen Leserbrief schreiben:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Thilo Schneider / 10.03.2024 / 13:30 / 23

Seelenstriptease eines Falschtankers

Neulich, nach dem Besuch einer Tankstelle, ging es meinem Renno gar nicht gut, der gute alte Diesel war kurz vorm Exitus. Hier erzähle ich, warum. Und…/ mehr

Thilo Schneider / 30.01.2024 / 16:00 / 20

Jahrestag: Die Schlacht von Stalingrad geht zu Ende

Heute vor 81 Jahren ernannte Hitler General Paulus, der mit seiner 6. Armee in Stalingrad dem Ende entgegensah, zum Generalfeldmarschall. Denn deutsche Generalfeldmarschälle ergaben sich…/ mehr

Thilo Schneider / 26.01.2024 / 16:00 / 20

Anleitung zum Systemwechsel

Ein echter demokratischer Systemwechsel müsste her. Aber wie könnte der aussehen? Bei den Ampel-Parteien herrscht mittlerweile echte Panik angesichts der Umfragewerte der AfD. Sollte diese…/ mehr

Thilo Schneider / 18.01.2024 / 16:00 / 25

Neuer Pass für einen schon länger hier Lebenden

Ich will einen neuen Reisepass beantragen. Doch um ihn zu bekommen, soll ich den abgelaufenen mitbringen, ebenso meine Heiratsurkunde und Geburtsurkunde. Warum muss ich mich…/ mehr

Thilo Schneider / 16.01.2024 / 15:00 / 73

Zastrow-FDP-Austritt: „Ich will den Leuten noch in die Augen schauen können“

Holger Zastrow, Ex-Bundesvize der FDP, kündigt. In seiner Austrittserklärung schreibt er: „Als jemand, der in der Öffentlichkeit steht und durch seinen Beruf mit sehr vielen…/ mehr

Thilo Schneider / 11.01.2024 / 14:00 / 64

Was würden Neuwahlen bringen?

Kein Zweifel, die Ampel hat fertig. „Neuwahlen!“ schallt es durchs Land, aber was würden die angesichts der aktuellen Umfrageergebnisse bringen, so lange die „Brandmauer“ steht…/ mehr

Thilo Schneider / 10.01.2024 / 14:00 / 35

Das rot-grüne Herz ist verletzt

Die Leute begehren auf, vorneweg die Bauern. Es wird viel geweint. In Berlin, Hamburg, München und Stuttgart. Aus Angst. Aus Angst, von den Futtertrögen des…/ mehr

Thilo Schneider / 24.12.2023 / 12:00 / 25

Meine Agnostiker-Weihnacht

Herrgottnochmal, ich feiere tatsächlich Weihnachten. Wenn es doch aber für mich als Agnostiker eigentlich „nichts zu feiern gibt“ – warum feiere ich dann? Die Geschichte…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com