Das Spiel ging 362:279 deutlich aus, weniger deutlich (323:313), wenn man die Parteivorstands-Stimmen abzieht. Doch schon wird in den social media spekuliert, ob das Ergebnis der Partei unter Schulz, Nahles, Gabriel zum Segen gereicht oder zum Verhängnis. Als interessierter Zuschauer (sc. mündiger Bürger) fragt man sich a) wie lange jetzt noch die Koalitionsverhandlungen dauern, b) ob die Merkel-Kamarilla sich genötigt sieht, der SPD noch in irgendwelchen Punkten – im Bairischen bekannt als „Nachtarocken" – entgegenzukommen, c) wie breit die interessierte „Basis" bei der allfälligen Zustimmung in der SPD-Mitgliederbefragung zum Vertragskonvolut ausfällt, d) wie die Postenverteilung im Kabinett Merkel IV aussehen wird, e) wie lange die neue alte Liebe hält oder wann endlich Merkel aus dem Koalitionsbett – und/oder aus dem Kanzleramt – gedrängt wird.
Die bisherigen Leistungen der geschäftsführenden Regierung Merkel/Gabriel: Merkel nahm mit bewährt unbewegter Miene hin, dass der junge Österreicher Kurz sie an körperlicher, geistiger und rhetorischer Statur überragt. Außenminister Gabriel empfing seinen türkischen Kollegen zum Tee in seiner Goslarer Privatwohnung, wodurch etwaige türkisch-deutsche Irritationen bezüglich Immigration/Migration, ungekündigter türkischer EU-Anwartschaft sowie des Umgangs mit Syrien und den Kurden, mit Assad und Putin geklärt wurden. Den Tee brachte Mevlüt Cavusoglu mutmaßlich aus der Provinz Rize, angrenzend ans georgische Adscharien, mit. In Adscharien betreiben Türken und Saudis Hand in Hand die Reislamisierung der Bevölkerung. Gut, was gehen uns die dortigen Georgier an, wir haben uns um mehr „gesteuerte" Zuwanderung und gekappte Obergrenzen für „Schutzsuchende" zu kümmern...
Die Bürgerversicherung, die unser Gesundheitssystem womöglich egalitärer, aber noch schwerer finanzierbar gemacht hätte, wurde zum Verdruss der Jusos auf dem renovierten Koalitionsaltar geopfert. Europa wird mutmaßlich teurer und – unter demokratischer Flagge – noch etwas zentralistischer, und dies nicht allein wegen des Brexit.
Ein Fall für britische Buchmacher
Die zentrale Zukunftsfrage, wie der Masseneinwanderung – die der traditionellen, reaktionären Kleinfamilie an sich abgeneigten „Linken" von Grün-Rot bis Merkel-Schwarz sorgen sich stets rührend bezüglich der Migranten um Familiennachzug – angesichts der von Schulz um ein paar zehntausend nach oben aufgelockerten Zahlen für 200.000 Asylsuchende per annum zu bewältigen sei, wird im Koalitionsvertrag fraglos gekonnt mit zig Seiten Papier unter der Rubrik „Integration" verhüllt.
Unser Sozialstaat schafft das. Oder mehr wissenschaftlich, verfassungstheoretisch ausgedrückt: Essentialistisch-kulturalistische Begriffe vertragen sich nicht mit dem Universalismus des Grundgesetzes. Außerdem: Aufgrund unserer deutschen Vergangenheit haben gerade wir eine moralische Verpflichtung zur interkulturellen Begegnung und multikulturellen Transformation. Die Referenten arbeiten bereits am entsprechenden Text im Koalitionsvertrag.
Auf dieser großkoalitionär gesicherten Basis werden wir nach Monaten des Bangens und Hoffens trefflich weiter regiert. Wann im Verlauf der Endphase der Ära Merkel neue Koalitionsspiele – mit oder ohne Neuwahlen – einsetzen, ist noch nicht abzusehen. Britische Buchmacher – Brexit hin oder her – nehmen gewiss schon Wetten für die deutschen Endspiele an.
Herbert Ammon ist Historiker und politischer Publizist. In den 1980er Jahren engagierte er sich in der damaligen Friedensbewegung. Er ist insbesondere mit dem Buch „Die Linke und die nationale Frage“ bekannt geworden, das er zusammen mit Peter Brandt herausgab. Ammon ist Mitgründer und Mitglied im Kuratorium der Deutschen Gesellschaft e. V.. Sein Blog „Unz(w)eitgemäße Betrachtungen“ erscheint als Kolumne in „Globkult“.