In manchen Situationen ist es schwierig, einen kühlen Kopf zu bewahren. Dies gilt insbesondere, wenn unterschiedliche Bewertungsmaßstäbe – wie etwa rechtliche, humanitäre und politische – gleichzeitig in einer Sache Geltung beanspruchen, wie dies bei der „Seenotrettung“ von Migranten der Fall ist. Besonders fatal ist dabei, dass diejenigen, die für humanitäre Zwecke streiten, offenbar meinen, dadurch von vornherein jenseits jeglicher Kritik zu stehen. Wenn dann noch ein Staatsoberhaupt apodiktisch verkündet: „Wer Leben rettet, ist kein Verbrecher“ und ein Außenminister sekundiert „Seenotrettung darf nicht kriminalisiert werden“, dann hat eine sachliche Argumentation kaum noch eine Chance.
Es gibt Fragen, die kann man nicht beantworten, ohne sich selbst in die Nesseln zu setzen. Das sind Fragen, die nur wie solche aussehen, in Wirklichkeit aber nichts weiter als Unterstellungen sind. Die Frage: „Haben Sie aufgehört, Ihre Frau zu schlagen?“ kann ich zwar mit ja oder nein beantworten. In jedem Fall aber räume ich damit ein, meine Frau geschlagen zu haben oder sie immer noch zu schlagen. Tertium non datur. Oder „Trinken Sie abends immer noch so exzessiv Malt Whisky?“ usw. ad infinitum.
Solche „Fragen“ sind perfide. Und genauso perfide sind die zitierten Äußerungen von Steinmeier und Maas, weil sie ebenfalls Unterstellungen enthalten. An sich unwürdig jeder Person, die ein hohes Staatsamt inne hat oder unabhängig davon ernst genommen werden möchte. So wie seinerzeit Prof. Dr. Rita Süssmuth zum islamischen Kopftuch meinte, es komme nicht darauf an, was auf dem Kopf sei, sondern drin (passend allenfalls für AKK als Putzfrau Gretel vom Landtag). Oder als ganz besonders Pfiffige im Streit um die beiden Fragen des baden-württembergischen „Muslim-Tests“ nach der Haltung zur Homosexualität „argumentierten“, dass auch Papst Benedikt XVI. im Falle der Anwendung des Gesprächsleitfadens auf ihn wegen seiner kritischen Haltung zur Homosexualität „durchfallen“ würde.
Die Kanzlerin wusste vermutlich gar nicht, wie recht sie hatte, als sie im Zusammenhang mit der Beschneidungsdebatte warnte, Deutschland dürfe nicht zur „Komikernation“ werden. Die genannten Beispielsätze (und weitere Steinmeier-Eskapaden) zeigen, dass die Warnung leider zu spät kommt. Das Kind ist längst in den Brunnen gefallen. Nur haben viele es noch nicht gemerkt oder wollen es einfach nicht wahrhaben. Das Niveau der politischen bzw. öffentlichen Debatten hat ein erschreckendes Niveau erreicht. Und wenn dann auch noch nur die Mikrospur eines „rechten“ Gedankens in einer Äußerung entdeckt oder nur vermutet wird, ist auch der letzte Rest von Vernunft wie weggeblasen. Und seit Brecht wissen wir: „Kein schwierigerer Vormarsch als der zurück zur Vernunft!“
Organisierte Seenot
Doch mein Vorbild ist seit eh und je Sisyphos, von dem Albert Camus gesagt hat, wir müssten uns ihn als glücklichen Menschen vorstellen. Deshalb fühle ich mich in der Achse-Autoren- und Leserschaft so wohl: jeder ein Sisyphos!
Der Publizist Alexander Wallasch hat es auf den Punkt gebracht:
„Aber diese Debatte ist aus sich heraus vergiftet, wenn vor der libyschen Küste Migranten Boote besteigen mit nur einem Ziel: sich außerhalb der libyschen Hoheitsgewässer in ‚Seenot‘ zu bringen und das zeitlich und örtlich möglichst so präzise zu takten, dass auf hoher See ein Schiff einer europäischen Nichtregierungsorganisation unterwegs ist, demgegenüber man seine ‚Seenot‘ anzeigen kann und das dann gewillt ist, die Aufgenommenen nicht etwa an das nächste Ufer zu bringen, sondern nach Europa, um dort den begehrten Asylantrag zu stellen, der diese Asylzuwanderer in die deutschen Sozialsysteme oder in solche anderer nordeuropäischer Länder übergibt.“
Allerdings ist „das nächste Ufer“ nicht immer so nahe, wie Wallasch das erscheinen lässt. IMO (International Maritime Organization), die Behörde des UNHCR sowie ICS (International Chamber of Shipping, eine internationale Handelsschifffahrtorganisation) weisen in einer gemeinsamen Broschüre darauf hin, dass es auch nach der Rettung internationale Verpflichtungen gibt:
„Selbst wenn die Rettung erledigt ist, können Probleme bei der Erfüllung des Übereinkommens der Staaten zur Ausschiffung von Migranten und Flüchtlingen entstehen. Nachdem sie dieses Problem erkannt hatten, haben die Mitgliedstaaten der Internationalen Seeschifffahrtsorganisation (IMO) 2004 Ergänzungen zu zwei der einschlägigen Seeschifffahrtsübereinkommen verabschiedet [Internationales Übereinkommen von 1974 zum Schutz des menschlichen Lebens auf See und Internationales Übereinkommen über maritime Suche und Rettung (SAR) von 1979. Die Ergänzungen wurden im Mai 2004 verabschiedet und traten am 1. Juli 2006 in Kraft]. So wie Kapitäne verpflichtet sind, Hilfe zu leisten, so haben Mitgliedstaaten eine ergänzende Verpflichtung zu koordinieren und zu kooperieren, so dass Personen, die auf See gerettet wurden, so schnell wie möglich an einen sicheren Ort an Land gebracht werden.
Die Verbringung von geretteten Asylsuchenden und Flüchtlingen in Länder, in denen ihr Leben und ihre Freiheit bedroht sind, muss vermieden werden.“
(“Even when the rescue has been accomplished, problems can arise in securing the agreement of States to the disembarkation of migrants and refugees. Recognizing this problem, member States of the International Maritime Organization (IMO) adopted amendments to two of the relevant maritime conventions in 2004 [1974 International Convention for the Safety of Life at Sea; and 1979 International Convention on Maritime Search and Rescue (SAR). Amendments were adopted in May 2004. They entered into force on 1 July 2006.]. Just as Masters have an obligation to render assistance, Member States have a complementary obligation to coordinate and cooperate so that persons rescued at sea are disembarked in a place of safety as soon as possible.
Disembarkation of rescued asylum-seekers and refugees in territories where their lives or freedoms would be threatened must be avoided. “)
Libyen scheidet damit als Verbringungsziel sicher aus. Auch wenn die von der IMO erlassenen Richtlinien völkerrechtlich nicht verbindlich sind.
Kostenpflichtige Dokumente
Bemerkung am Rande: Nach Artikel III Buchstabe (a) des Internationalen Übereinkommens zum Schutz des menschlichen Lebens auf See (International Convention for the Safety of Life at Sea, SOLAS 1974) verpflichtet sich jede Vertragsregierung, dem Generalsekretär der Zwischenstaatlichen Beratenden Seeschifffahrts-Organisation eine Liste der nichtstaatlichen Stellen zu übermitteln, die befugt sind, im Namen der Vertragsregierung Maßnahmen zum Schutz des menschlichen Lebens auf See zu treffen; diese Liste ist zur Weitergabe an die Vertragsregierungen zur Unterrichtung ihrer Bediensteten bestimmt. Um festzustellen, ob Sea-Watch auf dieser Liste steht, habe ich mit E-Mail vom 1. Juli 2019 das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur um eine Übersendung dieser Liste gebeten. Hierauf habe ich am 3. Juli folgende Antwort erhalten:
„Sehr geehrter Herr Grell, danke für Ihre Mail und die Anfrage nach Übersendung der Solas Liste. Leider werden diese Dokumente nur kostenpflichtig durch einen Fremdanbieter verbreitet. Bitte informieren Sie sich hierzu weiter unter: https://www.umwelt-online.de/preise-und-bestellung/.“
Abgesehen davon, dass das dortige Angebot für mich ziemlich undurchsichtig war, haben mich die Preise von weiteren Schritten abgehalten. Und bei der kostenlosen zweiwöchigen Testversion war mir der Inhalt dessen, zu dem ich da Zugang bekomme, einfach nicht klar. Aber vielleicht wissen kundige Achse-Leserinnen oder -Leser mehr.