Rainer Grell / 05.07.2019 / 14:00 / Foto: Tucker M.Yates / 38 / Seite ausdrucken

„Wer Leben rettet, ist kein Verbrecher“. Das Kleingedruckte dazu.

In manchen Situationen ist es schwierig, einen kühlen Kopf zu bewahren. Dies gilt insbesondere, wenn unterschiedliche Bewertungsmaßstäbe – wie etwa rechtliche, humanitäre und politische – gleichzeitig in einer Sache Geltung beanspruchen, wie dies bei der „Seenotrettung“ von Migranten der Fall ist. Besonders fatal ist dabei, dass diejenigen, die für humanitäre Zwecke streiten, offenbar meinen, dadurch von vornherein jenseits jeglicher Kritik zu stehen. Wenn dann noch ein Staatsoberhaupt apodiktisch verkündet: „Wer Leben rettet, ist kein Verbrecher“ und ein Außenminister sekundiert „Seenotrettung darf nicht kriminalisiert werden“, dann hat eine sachliche Argumentation kaum noch eine Chance.

Es gibt Fragen, die kann man nicht beantworten, ohne sich selbst in die Nesseln zu setzen. Das sind Fragen, die nur wie solche aussehen, in Wirklichkeit aber nichts weiter als Unterstellungen sind. Die Frage: „Haben Sie aufgehört, Ihre Frau zu schlagen?“ kann ich zwar mit ja oder nein beantworten. In jedem Fall aber räume ich damit ein, meine Frau geschlagen zu haben oder sie immer noch zu schlagen. Tertium non datur. Oder „Trinken Sie abends immer noch so exzessiv Malt Whisky?“ usw. ad infinitum.

Solche „Fragen“ sind perfide. Und genauso perfide sind die zitierten Äußerungen von Steinmeier und Maas, weil sie ebenfalls Unterstellungen enthalten. An sich unwürdig jeder Person, die ein hohes Staatsamt inne hat oder unabhängig davon ernst genommen werden möchte. So wie seinerzeit Prof. Dr. Rita Süssmuth zum islamischen Kopftuch meinte, es komme nicht darauf an, was auf dem Kopf sei, sondern drin (passend allenfalls für AKK als Putzfrau Gretel vom Landtag). Oder als ganz besonders Pfiffige im Streit um die beiden Fragen des baden-württembergischen „Muslim-Tests“ nach der Haltung zur Homosexualität „argumentierten“, dass auch Papst Benedikt XVI. im Falle der Anwendung des Gesprächsleitfadens auf ihn wegen seiner kritischen Haltung zur Homosexualität „durchfallen“ würde.

Die Kanzlerin wusste vermutlich gar nicht, wie recht sie hatte, als sie im Zusammenhang mit der Beschneidungsdebatte warnte, Deutschland dürfe nicht zur „Komikernation“ werden. Die genannten Beispielsätze (und weitere Steinmeier-Eskapaden) zeigen, dass die Warnung leider zu spät kommt. Das Kind ist längst in den Brunnen gefallen. Nur haben viele es noch nicht gemerkt oder wollen es einfach nicht wahrhaben. Das Niveau der politischen bzw. öffentlichen Debatten hat ein erschreckendes Niveau erreicht. Und wenn dann auch noch nur die Mikrospur eines „rechten“ Gedankens in einer Äußerung entdeckt oder nur vermutet wird, ist auch der letzte Rest von Vernunft wie weggeblasen. Und seit Brecht wissen wir: „Kein schwierigerer Vormarsch als der zurück zur Vernunft!“

Organisierte Seenot

Doch mein Vorbild ist seit eh und je Sisyphos, von dem Albert Camus gesagt hat, wir müssten uns ihn als glücklichen Menschen vorstellen. Deshalb fühle ich mich in der Achse-Autoren- und Leserschaft so wohl: jeder ein Sisyphos!

Der Publizist Alexander Wallasch hat es auf den Punkt gebracht:

„Aber diese Debatte ist aus sich heraus vergiftet, wenn vor der libyschen Küste Migranten Boote besteigen mit nur einem Ziel: sich außerhalb der libyschen Hoheitsgewässer in ‚Seenot‘ zu bringen und das zeitlich und örtlich möglichst so präzise zu takten, dass auf hoher See ein Schiff einer europäischen Nichtregierungsorganisation unterwegs ist, demgegenüber man seine ‚Seenot‘ anzeigen kann und das dann gewillt ist, die Aufgenommenen nicht etwa an das nächste Ufer zu bringen, sondern nach Europa, um dort den begehrten Asylantrag zu stellen, der diese Asylzuwanderer in die deutschen Sozialsysteme oder in solche anderer nordeuropäischer Länder übergibt.“

Allerdings ist „das nächste Ufer“ nicht immer so nahe, wie Wallasch das erscheinen lässt. IMO (International Maritime Organization), die Behörde des UNHCR sowie ICS (International Chamber of Shipping, eine internationale Handelsschifffahrtorganisation) weisen in einer gemeinsamen Broschüre darauf hin, dass es auch nach der Rettung internationale Verpflichtungen gibt:

„Selbst wenn die Rettung erledigt ist, können Probleme bei der Erfüllung des Übereinkommens der Staaten zur Ausschiffung von Migranten und Flüchtlingen entstehen. Nachdem sie dieses Problem erkannt hatten, haben die Mitgliedstaaten der Internationalen Seeschifffahrtsorganisation (IMO) 2004 Ergänzungen zu zwei der einschlägigen Seeschifffahrtsübereinkommen verabschiedet [Internationales Übereinkommen von 1974 zum Schutz des menschlichen Lebens auf See und Internationales Übereinkommen über maritime Suche und Rettung (SAR) von 1979. Die Ergänzungen wurden im Mai 2004 verabschiedet und traten am 1. Juli 2006 in Kraft]. So wie Kapitäne verpflichtet sind, Hilfe zu leisten, so haben Mitgliedstaaten eine ergänzende Verpflichtung zu koordinieren und zu kooperieren, so dass Personen, die auf See gerettet wurden, so schnell wie möglich an einen sicheren Ort an Land gebracht werden.

Die Verbringung von geretteten Asylsuchenden und Flüchtlingen in Länder, in denen ihr Leben und ihre Freiheit bedroht sind, muss vermieden werden.“

(“Even when the rescue has been accomplished, problems can arise in securing the agreement of States to the disembarkation of migrants and refugees. Recognizing this problem, member States of the International Maritime Organization (IMO) adopted amendments to two of the relevant maritime conventions in 2004 [1974 International Convention for the Safety of Life at Sea; and 1979 International Convention on Maritime Search and Rescue (SAR). Amendments were adopted in May 2004. They entered into force on 1 July 2006.]. Just as Masters have an obligation to render assistance, Member States have a complementary obligation to coordinate and cooperate so that persons rescued at sea are disembarked in a place of safety as soon as possible.

Disembarkation of rescued asylum-seekers and refugees in territories where their lives or freedoms would be threatened must be avoided. “)

Libyen scheidet damit als Verbringungsziel sicher aus. Auch wenn die von der IMO erlassenen Richtlinien völkerrechtlich nicht verbindlich sind.

Kostenpflichtige Dokumente

Bemerkung am Rande: Nach Artikel III Buchstabe (a) des Internationalen Übereinkommens zum Schutz des menschlichen Lebens auf See (International Convention for the Safety of Life at Sea, SOLAS 1974) verpflichtet sich jede Vertragsregierung, dem Generalsekretär der Zwischenstaatlichen Beratenden Seeschifffahrts-Organisation eine Liste der nichtstaatlichen Stellen zu übermitteln, die befugt sind, im Namen der Vertragsregierung Maßnahmen zum Schutz des menschlichen Lebens auf See zu treffen; diese Liste ist zur Weitergabe an die Vertragsregierungen zur Unterrichtung ihrer Bediensteten bestimmt. Um festzustellen, ob Sea-Watch auf dieser Liste steht, habe ich mit E-Mail vom 1. Juli 2019 das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur um eine Übersendung dieser Liste gebeten. Hierauf habe ich am 3. Juli folgende Antwort erhalten:

„Sehr geehrter Herr Grell, danke für Ihre Mail und die Anfrage nach Übersendung der Solas Liste. Leider werden diese Dokumente nur kostenpflichtig durch einen Fremdanbieter verbreitet. Bitte informieren Sie sich hierzu weiter unter: https://www.umwelt-online.de/preise-und-bestellung/.“

Abgesehen davon, dass das dortige Angebot für mich ziemlich undurchsichtig war, haben mich die Preise von weiteren Schritten abgehalten. Und bei der kostenlosen zweiwöchigen Testversion war mir der Inhalt dessen, zu dem ich da Zugang bekomme, einfach nicht klar. Aber vielleicht wissen kundige Achse-Leserinnen oder -Leser mehr.

Foto: Tucker M.Yates Navy via Wikimedia Commons

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Emmanuel Precht / 05.07.2019

Nicht zu Dokumenten aber dieses: Zu dem rettenden Seelenverkäufer ist mir durch betrachten im WWW vorliegenden Bildmaterials noch aufgefallen, dass der nicht genügend Rettungsmittel in Form von Rettungsbooten vorhält, um dem Aufgabenumfang gerecht zu werden. Den Bildern nach gibt es an backbord sowie an steuerbord jeweils ein kleines Rettungsboot. Demnach hat der Zossen wohl auch keine Klasse (beim Auto der TÜV, aber sehr viel umfangreicher). Da könnten die Seenötler unter Umständen richtig in Seenot geraten. Wohlan…

Horst Scharn / 05.07.2019

Aus einer Not eine Seenot machen. Und genau damit ist eine bündige Schnittstelle für die Wächter der Tugend geschaffen. Und beide sind sich bestimmt gegenseitig dankbar für die Gelegenheiten. Das Kind wirft sich vor dem Süßwarenstand an der Kasse schreiend auf den Boden. Die Mutter sieht sich gezwungen, dem Aufruhr nachzugeben: moderne Zeiten. Moderne Erziehung. Beide Situationen wären mit Vorausschau zu lösen gewesen, ohne dass moralische Erpressung zum Zuge hätte kommen müssen und können. “Nun ist es halt passiert”, um mit einer Vertreterin dieser modernen Zeiten zu sprechen.

Hubert Bauer / 05.07.2019

Wenn die AfD-Bundestagsabgeordneten es sich nicht schon so bequem auf den Oppositionsbänken eingerichtet hätten, könnten sie eine entsprechende parlamentarische Anfrage machen.

Birger Goltz / 05.07.2019

Parallelen zur Seenotrettung gibt es im Naturschutz. Klingt komisch ist aber so. Selbst berufene Naturschützer wollen etwas für bedrohte Pflanzen (zB. Rote Liste Arten) tun. Umso emotionaler/leidenschaftlicher diese Leute sind, desto weniger Ahnung haben diese Leute von den Lebensansprüchen dieser Pflanzen. Und umso mehr Schaden richten sie an. Alles in dem Glauben gutes zu tun.

Lutz Kirschner / 05.07.2019

Viele sagen, dass Seerecht schreibt die Verbringung in den nächsten sicheren Hafen vor. Das ist falsch. Nach Ziffer 3.1.9 des Annexes zum SAR sowie nach dem neu eingeführten Absatz 1.1 der Regel V/33 des SOLAS sind die Geretteten innerhalb einer angemessenen Zeit an einen „sicheren Ort“ zu bringen. Ein „sicherer Ort“ im Sinne der See-völkerrechtlichen Verpflichtungen ist damit nicht zwangsläufig nur ein sicherer Hafen. Ein „sicherer Ort“ kann grundsätzlich auch an Bord eines anderen, größeren Schiffes sein(Schiffe der Küstenwache etc.). Bei der Rückführung Geretteter in einen fremden Hafen haben Staatsschiffe das sogenannte refoulement-Verbot zu beachten (Art. 33 Abs. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention). Auf private Schiffe wie Seawatch etc. findet das refoulement-Verbot jedoch keine Anwendung. Somit kann sich die Kapitänin auch nicht darauf berufen. Die Rechtslage ist da leider nicht eindeutig genug und das nutzen solche NGO´s für ihre Zwecke aus.

Giovanni Brunner / 05.07.2019

Was erlauben offizielles Deutschland?! Italien ist nicht scharf darauf sich von Deutschland belehrende, strunzdumme und überflüssige Kommentare in der Sache Rakete anhören zu müssen! Und kein einziger Journalist der Mainstreampresse hat Rückgrat genau dies klar auszusprechen und mit diesen beidem Affen Schlitten zu fahren! Aber mich wundert nichts mehr.

R. Richter / 05.07.2019

Zitat Umwelt-Online: “Im Regelwerk von umwelt-online sind alle relevanten rechtlichen Regelungen zu den Themen Umweltschutz, Arbeitssicherheit, Gefahrguttransporte, Gefahrstoffe, Anlagentechnik und -sicherheit etc. erfasst.” (Rechtskataster und Pflichtenmanagement sind lediglich Arbeitshilfen zum Regelwerk) Irrt vielleicht das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur, wenn es meint, die gesuchte Solas Liste wäre bei umwelt-online.de erhältlich oder handelt es bei dBMVI einem Transport von aus Seenot Gereteter dann doch etwa um einen Gefahrguttransport? Ich würde diesbzgl. noch einmal beim BMVI nachhaken.

toni Keller / 05.07.2019

wer Leben rettet ist kein Verbrecher, außer es handelt sich um ganz kleines Leben, das die Mama noch wirklich braucht, weil es in ihrem Bauch ist, und außerhalb des Bauches nicht lebensfähig ist, dann sind die, die darauf hinweisen, dass das so ist, die ganz, ganz bösen! Hört mir doch einfach auf mit der Doppelmoral, und wenn ihr Leute hier in unser angeblich ach so reiches Deutschland bringen wollt, dann besorgt ihnen ein Besuchsvisum und quartiert sie bei euch ein, unter Übernahme aller Kosten. Und wenn ihr wirklich helfen wollte, weil ein gewisser Jesus das so gewollt hat, dann macht das was er gewollt hat, kümmert euch um die vor eurer Nase, also um die nervige Oma im Heim, die sichtbar überforderte Nachbarin mit dem schreienden Kleinkind, um den Penner am Bahnhof und die kranke Tante. Wenn ihr helfen wollt, übernehmt Verantwortung für die, die ihr herbringt, aber das ist ja uncool, das erfordert viel Arbeit, ergibt viel Frust und von Leuten denen eigene Kinder zu viel Geschäft sind, kann man sowas ja nicht erwarten. Mich erinnert das ganze an eine ganz an den, zu Recht, verurteilten Krankenpfleger, der seine Patienten mit Absicht in Lebensgefahr brachte, um sich als Retter aufspielen zu können.

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