Liebe Leser, Sie, ich, alle müssen 2018 tapfer sein. Und zwar für eine ganze Weile. Täglich steigt das Erinnerungsfieber. Sie wissen ja: Der Dreißigjährige Krieg begann vor 400 Jahren, WK I endete vor 100 Jahren. Weit wichtiger jedoch: unsere Achtundsechziger haben 50-jähriges Dienstjubiläum. Das muss gefeiert werden.
Und es wird gefeiert! Dem imposanten Botafumeiro gleich – ein 54 Kilo schweres Weihrauchfass, das während der Messe mit 65 km/h durch das Querschiff der Kathedrale von Santiago de Compostela schwingt – haben die Selbstbeweihräucherungsrituale der Altlinken schon vor der Jahreswende mächtig an Fahrt zugelegt. Allerlei frisches Buchgut zu 1968 wurde auf den Markt geworfen, alte Schinken über „das Jahr, das alles verändert hat“, werden bei Amazon gelistet und in Buchläden recycelt. Zeitungen, Wochenblätter und Magazine haben Artikel und Serien über die glorreiche Revolte in Arbeit. Das Fernsehen ist auch nicht faul. Die nackten Ärsche der Kommune 1, immer wieder schön.
Und was von den Ex-Aufständischen noch nicht gestorben ist, das macht sich auf die Socken nun, um in Talkshows und Podiumsdiskussionen das immergrüne Thema zu bekakeln. Mit Sicherheit werden wir also demnächst wieder Originelles von Uschi Obermaier und Rainer Langhans hören, ebenso von Daniel „Hosenlatz“ Cohn-Bendit. Nicht auszuschließen, dass sich sogar Joschka „Putzgruppe“ Fischer interviewen lässt, sofern ihm der Staatsfunk garantiert, dass gewisse unschöne Fragen nicht gestellt werden.
Sogar Hosea-Che D. aus Aarhus, ein politisch unbeschriebenes Blatt, wurde jüngst von der FAZ zu der drängenden Frage einvernommen: „Wie lebt es sich als Sohn von Rudi Dutschke?“. Bei der Sause fehlen (aber durchaus nicht vermisst werden) dürften höchstens Horst Mahler und Bernd Rabehl.
Abweichende Meinungen wurden anno 68 niedergebrüllt
Das große Nostalgiefeuerwerk darf man nicht stören. Sinnlos, die altbekannten Meritenmythen der Achtundsechziger ein weiteres Mal dekonstruieren zu wollen. Etwa den Mythos von der Aufarbeitung der Nazivergangenheit, welche in Wahrheit der Frankfurter Generalstaatsanwalt Fritz Bauer mit den Auschwitz-Prozessen bereits ab 1963 angeschoben hatte. Bitte auch nicht die Mär von der Demokratisierung der Gesellschaft hinterfragen, die aus dem Bürgerkinderkreuzzug herausgebraten sei, was sich im späteren Ergebnis bestenfalls als Sozialdemokratisierung darstellte. Abweichende Meinungen wurden anno 68 niedergebrüllt, bürgerlichen Charaktermasken entriss man in den Unis gern das Mikro.
Es war sowieso unmöglich, mit einem wie Dutschke öffentlich konstruktiv zu diskutieren. Der privatim freundliche, grundanständige, tiefernste Politprediger mit den feurigen Augen war in die Lehrmeinungen seiner ideologischen Gurus nachgerade eingewachsen, ebenso ein Krahl oder ein Semler. Die Leitmacker der Studentenbewegung waren durch die Bank politisch verbiesterte, autoritäre Charaktere, nicht glühende Demokraten. Die Gabe des Zweifels war ihnen fremd.
Viel interessanter als 1968 sind die beiden Jahre davor. Da breitete sich, aus Kalifornien kommend, eine Stimmung in einem Partikel der westlichen Jugend aus, deren Hymne Bob Dylan mit The Times They Are A-Changin’ schon 1964 verfasst hatte. Die Stimmung war anfangs gar nicht explizit politisch, geschweige klassenkämpferisch. Sie bestand in einem anschwellenden Grummeln über den Modernisierungsstau. Darüber, dass die Alten 15 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg immer noch bestimmen konnten, wo es langzugehen hatte mit der Organisation der Gesellschaft, ihren Werten, ihrer Moral.
Die heute naiv anmutende Euphorie über die Wahl von John F. Kennedy verdankte sich zu einem großen Teil schlicht der Tatsache, dass dieser Mann relativ jung war – mit 43 Jahren der jüngste ins Amt gewählte US-Präsident in der Geschichte der Staaten. Dass er nicht lieferte, was sich viele vom ihm erhofft hatten (JFK wäre dazu, hätte er es denn vorgehabt, ohnehin nicht genug Zeit geblieben), es änderte nichts am wachsenden Unmut der Jugend.
Ein Bürschchen namens Dylan
Ein Bürschchen namens Dylan, das auf dem Cover seiner ersten LP noch jünger aussah als es tatsächlich war, gab die Parole der kommenden Jahre aus: Your sons and your daughters are beyond your command. Ja, der Einfluss von Songs, Büchern und Filmen auf gesellschaftliche Entwicklungen ist wahrscheinlich immer unter-, die Bedeutung irgendwelcher Manifeste oft überschätzt worden.
Wenn etwas positiv war an dem, wofür die Chiffre „68“ steht, dann jenes anarchische Aufbegehren, die unzähmbare Lust am Zweifel, der Spaß, scheinbar in Bronze gegossene Gewissheiten abzureißen. Der Politologe Wolfgang Kraushaar, geboren 1948, ein Kenner und (allerdings eher milder) Kritiker der Szene, fand auf die Frage, warum „die damaligen Studenten in der Geschichtsschreibung so einen großen Stellenwert gewinnen konnten“, eine interessante Antwort:
Ich denke, dass mit ihnen ein neuartiges Verständnis des Politischen aufgekommen ist. Eines, das stark subjektiv geprägt war, und bei dem es vorrangig um Emanzipation ging. Den meisten Demonstranten ging es immer auch um die eigene „Selbstbefreiung". Das war neu – und das Ziel, alles in Frage stellen und ausprobieren zu wollen, das hatte es zuvor – und wenn ich mich nicht sehr irre – auch danach nicht wieder gegeben. Das war eine einzigartige historische Signatur.
Nicht zuvor. Und auch danach nicht wieder. In der Tat erstaunlich: Fast zwei Generationen sind nach den 68ern gekommen, ihnen aber in puncto Aufmüpfigkeit nie gefolgt. Kein süßes Gift irgendeines Zweifels, nirgends. Was in Frage stellen? Wäre ja noch schöner! Was Neues ausprobieren? Mit uns doch nicht! Dat heff wi immer so mookt, sagen Bauern in meiner Gegend. Aber nur die sehr alten.
Eine Opposition findet nicht statt
Ungefähr so alt wie Kraushaar, lerne ich: Was seit dem seligen Willy-Deutschland und den Anfängen der Grünen an politischen Vorstellungen Konjunktur hat, schreitet nur munter den ausgetretenen Weg fort. Umverteilung, Staatsgläubigkeit, Verboteverliebtheit, Agrarromantik, Antiamerikanismus, Israelbashing, Gesundheitshysterie, Technologiefeindschaft, Kulturrelativismus, um nur ein paar handelsübliche Idiotien zu nennen. Als Sahnehäubchen grassiert seit einigen Jahren eine groteske Überhöhung weiblichen Da-Seins, die so – wenn auch mit anderen Akzenten – einzig in Südstaatler-Villen vor dem amerikanischen Bürgerkrieg existierte.
Eine Opposition findet nicht statt. Es gibt nicht mal Ansätze einer ernstzunehmenden außerparlamentarischen Protestbewegung, wie die APO-68er sie für ein kurzes Momentum bildeten. Was aus der gelben Ein-Mann-Partei wird? Ich würde eher auf den Bitcoin setzen oder Tesla-Aktien erwerben. Die einzige Truppe, die bei elementaren Zukunftsfragen wie Energiepolitik, Europa und Migration berechtigte Zweifel anmeldet, wird von einem mürrischen alten Mann mit Hundekrawatte geführt. Und in den Parlamenten allzu oft von Leuten repräsentiert, die ich keinesfalls bei meinem Lieblingsjapaner sehen möchte. Dort schafft in der Küche womöglich ein Halb- oder Ganzneger.
Für eure Feigheit und Schluffigkeit, ihr nachgeborenen Sitzpinkler, Stehpaddler, Liegeradler, Energiesparer, Windradenthusiasten, Jan-Weiler-Leser und Fack-ju-Göthe-Gucker; ihr Teilzeitveganer, Vollzeitachtsame, Hipsterbärtige, #metoo-Sirenen und Gendersternchensetzer, die ihr vor jedem Zeitgeistquark katzbuckelt, den euch „Neon“, „bento“ oder „ze.tt“ auftischen – dafür verachte ich euch aus tiefstem altem Herzen. Fürchte, auch nach euch wird kommen: nichts Nennenswertes.