Von Boris T. Kaiser.
In letzter Zeit stell ich mir immer häufiger die Frage: Warum bin ich eigentlich kein Terrorist geworden? Nicht, dass ich größere Gewaltfantasien hätte, außer vielleicht manchmal an der Supermarktkasse oder wenn Post vom Finanzamt kommt. Ich habe auch keinerlei Bewunderung für Terroristen, nicht einmal, wenn diese Che Guevara heißen, die Zeiten sind vorbei. Dennoch bringe ich im Grunde alle Voraussetzungen mit, um den in letzter Zeit immer beliebter werdenden Job des Terroristen, oder - wie es in politisch korrektem Neudeutsch heißt - „Amokläufer“, auszuüben. Um ehrlich zu sein, bin ich sogar fast schon überqualifiziert.
Wenige Wochen vor meinem 35. Geburtstag, am 24.7. diesen Jahres, bekam ich, im Rahmen einer psychologischen Studie, die Diagnose ADHS gestellt. Wer sich ein wenig mit der Krankheit auskennt, der weiß, dass die Symptome dieser Krankheit weit über die allgemein bekannte Hibbeligkeit und Unaufmerksamkeit hinausgehen. ADHS-Kranke sind unter anderem chronisch unorganisiert, vergesslich, impulsiv, schnell erschöpft, lustlos und leiden unter Bindungsängsten sowie in vielen Fällen unter Borderline.
Sie können sich also denken, dass die Erkrankung bzw. die Nichterkennung dieser bis zu meinem 35. Lebensjahr durchaus unschöne Auswirkungen auf mein Privat- und Berufsleben hatte.
Vor allem, weil bei mir auch noch eine Lese/Rechtschreib-schwäche als Nebenerkrankung hinzu kam, was für den von mir eingeschlagenen Beruf des Satire-Autors, wie Sie sich vorstellen können, alles andere als förderlich war.
Tiefe narzisstische Kränkung
Einige weitere Symptome und Nebenerkrankungen von ADHS sind, dass man nahezu jegliche Kritik und Zurückweisung als tiefe narzisstische Kränkung empfindet - wie gemacht für eine Karriere als Dönermessermörder oder lebender Sprengsatz.
Zudem hatte ich, wie bereits erwähnt, auch noch das Pech, dass mein ADHS in Kinder- und Jugendjahren nicht erkannt wurde, so dass mir eine Zwangsneurose (in vielen Fällen ebenfalls eine Nebenerkrankung von ADHS) mehrere relativ unfruchtbare Aufenthalte in der Jugendpsychiatrie einbrachte.
All diese Dinge haben mein Leben geprägt und oft natürlich nicht gerade zum Guten. Würde ich also morgen auf die Idee kommen, mich inmitten einer größeren Menschenmenge in die Luft zu sprengen, das Verständnis und die Solidarität der gesamten Linken wären mir sicher. Hätte ich zudem noch einen Migrationshinter-grund, würde Renate Künast sich zwischen die Polizei und mich stellen und Jakob Augstein meinen Nachruf schreiben.
Nun, mit einem Migrationshintergrund kann ich nicht dienen, auch wenn meine Oma einst von einer weit zurückliegenden Abstammung von irgendeinem mysteriösen ungarischenAdelsgeschlecht zu berichten wusste. Ich kann sie leider nicht mehr nach weiteren Einzelheiten fragen, da sie mittlerweile verstorben ist.
Aber auch ohne Migrationshintergrund kann ich mit zahlreichen weiteren Lebensumständen in meiner Biografie dienen, die mich nach allgemeiner „Lehrmeinung“ locker zum Terroristen hätten machen können:
Mehr auf dem Kerbholz als Joschka Fischer
Ich habe in meinen 20er Jahren jede Menge Mist gebaut und wohl mehr Jugendsünden auf dem Kerbholz als Joschka Fischer. Ich habe geklaut, mitunter randaliert und mich ab und an geschlagen, dabei übrigens zu meiner großen narzisstischen Kränkung meistens auf die Schnauze bekommen. Abgesehen von Heroin habe ich so ziemlich alles an Drogen ausprobiert, was der Straßenmarkt und die Diskothekenverkäufer damals so hergaben. Ich bin in einem Umfeld groß geworden, in dem nur die wenigsten eine Karriere bei der Polizei oder bei der Stadtsparkasse gemacht haben, geschweige denn, wie ich, in der Medienbranche. Ich habe nur einen unterdurchschnittlichen Hauptschulabschluss gemacht und im Gegensatz zu nahezu all meinen späteren Kollegen kein abgebrochenes Studium.
Ich war, man glaubt es kaum, sogar das ein oder mal unglücklich verliebt und hatte bei Frauen, in die ich nicht so sehr verliebt war, die Angst, sie könnten ein Kind von mir bekommen. Ich kenne Geldsorgen, Enttäuschung und alles, was das Leben sonst so an Widrigkeiten mit sich bringt.
Warum bin ich dennoch bis heute kein Terrorist, sondern ein nicht ganz erfolgloser Autor in der Medienbranche geworden?
Nun, vielleicht weil ich immer an mich geglaubt habe. Auch dann noch, als ich mich in der linken Szene bewegte, wo man davon überzeugt war, dass der Kapitalismus einem wie mir nie ein gutes Leben ermöglichen könnte. Vielleicht bin ich aber auch deshalb kein Terrorist geworden, weil ich irgendwann erkannt habe, dass Eigenverantwortung für das eigene Handeln einen im Leben weiter bringt, als ständiges Gejammere und die Schuldsuche bei anderen.
Vielleicht, aber nur vielleicht, bin ich auch deshalb kein Terrorist geworden, weil ich in meiner Kindheit und Jugend nie mit einem Buch in Berührung gekommen bin, das einen Mann als Vorbild feierte, der sich als Juden-, Frauenhasser und Menschenschlächter einen Namen gemacht hatte.
Aber all das sind nur Spekulationen, die Wasser auf die Mühlen rechter Populisten gießen können.