Wahlkampf-Finale mit der Kretschmer-Flasche

Michael Kretschmer von der CDU ist ein Verlierer aus den neuen Bundesländern. Im Unterschied zu vielen anderen, die gern mit dieser Bezeichnung versehen werden, gibt es bei ihm keinen Interpretationsspielraum. Verloren hat er im September 2017 das Bundestagsmandat seines Görlitzer Wahlkreises, welches er seit 15 Jahren innehatte, an Malermeister Tino Chrupalla von der AfD. Kretschmer hatte nicht viel Gelegenheit, außerhalb der Politik beruflich-praktische Erfahrungen zu sammeln. Um ihn vor materiellem und sozialem Elend zu bewahren, schlug ihn Stanislaw Tillich, der sich zur selben Zeit anschickte, amtsunlustig den Posten des sächsischen Ministerpräsidenten zu räumen, als Nachfolger vor. Da der Landtag parierte, kann sich der Freistaat seit Ende 2017 mit einem abgewählten, wenig prominenten Bundestagsabgeordneten als viertem Nachwendeministerpräsidenten schmücken.

Nun gibt es für Kretschmer bei der Abstimmung am 1. September die Chance, den Stuhl des Ministerpräsidenten zu verteidigen und sich vom Odeur des Eigentlich-nicht-vom-Volk-Gewählten zu befreien. Von den 39,4 Prozent, welche seine Partei – ohne ihn – bei den Wahlen in Sachsen vor fünf Jahren holte, ist er recht weit entfernt. Aber die Nachricht, dass die CDU laut jüngsten Umfragen doch vor der AfD liegen könnte, gab ihm genug Selbstbewusstsein, noch schnell einen wichtigen Unterstützer aus den eigenen Reihen wegzubeißen. „Maaßen hat genügend Ärger gemacht“, so Kretschmer über den ehemaligen Verfassungsschutzchef.

Dieser ist (noch) CDU-Mitglied, will allerdings partout nicht auf die regierungsoffizielle „Hetzjagd-von-Chemnitz“-Lesart einschwenken (die sich inzwischen auf WhatsApp-Gruppen erweitert oder, je nach Sichtweise, verengt hat). Kretschmer scheint seines Oberwassers so sicher zu sein, dass er auf die zur AfD neigenden, aber potenziell immer noch von der CDU ansprechbaren Wähler – die durch den Einsatz Maaßens vielleicht hätten gewonnen werden können – souverän verzichtet. Die Entscheidung war des Ministerpräsidenten eigener Entschluss, völlig ohne Zutun der Bundespartei, echt jetzt.

Viele Plakate hat Kretschmer aufhängen lassen. Beispielsweise mit der Aussage: „Mein Wort gilt. 1000 neue Polizisten.“ Der Laie fragt sich und andere fragen sich an dieser Stelle gleich zwei Dinge: Wenn das ein so wichtiges Vorhaben ist – warum hat es der seit 20 Monaten regierende Kretschmer nicht längst in Gang gesetzt? Vor allem aber: Wofür brauchen wir so viele neue Polizisten? An einer veränderten Sicherheitslage kann es jedenfalls nicht liegen.

Aufgelöst wurden die beiden Rätsel auch nicht, als Kretschmer, unterstützt von Parteifreuden aus Land und Bund und dem moderierenden Waldi Hartmann (der laut eigener Aussage die „Ausbreitung“ der AfD verhindern will), bei einem Endwahlkampftermin am späten Freitagnachmittag auf dem Leipziger Nikolaikirchhof auftrat. Ein gewisser Martin Schulz hatte hier vor ziemlich genau zwei Jahren ebenfalls einen Auftritt, seine Veranstaltung war damals immerhin etwa doppelt so gut besucht wie die des sächsischen Ministerpräsidenten, und am Ende stimmten die Wähler für… nein, man sollte nicht Parallelen suchen, wo definitiv keine vorhanden sind.

Wer denkt sich so etwas aus?

Kretschmer wirkt bei seinen Ausführungen genauso müde wie auf seinen Plakaten. Braunkohle und Borkenkäfer bewegen ihn, von Fichten, die „gebaut“ wurden, spricht er, Forstwirtschaft ist nicht jedermanns Sache. An alle staatlichen Schulen soll ein Sozialarbeiter. Dem ungeneigten Zuhörer stellen sich hier dieselben Fragen wie beim 1000-Polizisten-Plakat – warum nicht längst geschehen und wozu sind die eigentlich nötig? Dass man an der einen oder anderen Stelle auch streiten könne, sagt Kretschmer, was allerdings nicht heiße, dass man „gleich das Messer zücken muss“. Upps, der Ministerpräsident merkt es zwar, aber es ist schon zu spät. Da haben die hellhörigen Populisten gleich wieder eine Steilvorlage. Dann doch lieber sachsenkonsensfähig über RB Leipzig plaudern und gemeinsame Fußball-Fanerlebnisse mit dem sächsischen SPD-Fraktionschef Dirk Panter, „aber sagen Sie das nicht weiter“. Der traut sich was, unser Kretschmer.

Die Wahlkampf-Mannschaft – und es ist eine Mannschaft – präsentiert sich auf der Leipziger Bühne sichtlich eng geschlossen. Mit Kretschmer neun Männer, dazu Philipp Amthor und Annegret Kramp-Karrenbauer als einzige Frau. Im Gender-Bereich gibt es erheblichen Nachholebedarf!

Unterstützt wird Kretschmer unter anderem von Gesundheitsminister Spahn, der seine kurze Rede auch schon einmal in Dresden gehalten hat oder noch in Dresden halten wird, den Stadtnamen Leipzig schiebt er deutlich über ein bereits begonnenes „Dresd…“.

CDU-General Ziemiak mahnt an, dass man doch keinen Landtag wolle, der die Gesellschaft spalte. Wahrscheinlich würde das zu abweichendem Abstimmungsverhalten führen. Ziemiaks Vorgesetzte Kramp-Karrenbauer, in Personalunion Bundesverteidigungsministerin, wendet sich gegen „Hass unter dem Deckmantel der demokratischen Auseinandersetzung“. Ob sie bedacht hat, dass sie mit dieser Aussage gerade auch im Lager ihres politischen Lieblingsfeindes hundertprozentige Zustimmung finden dürfte? Nichts als Fallstricke im Phrasendschungel.

Das schwarz-grüne „Team-Kretschmer“-Auto, andere, ebenfalls schwarz-grüne oder nur grüne CDU-Grundierungen fallen seltsam wenig auf, offenbar ist schon ein vorfristiger Gewöhnungseffekt eingetreten. Einen Akzent im Publikum setzt eine ruhig, aber dennoch als Zeichen des Protests getragene Antifa-Flagge.

Geschenke gibt es auch. Sofern sie zugegriffen haben, können die Wahlkampf-Besucher nun täglich aus einer sportlichen „Team-Kretschmer“-Flasche“ trinken. Der Ministerpräsident als…? Wer denkt sich so etwas aus? Die eigenen Leute? Michael Kretschmer erwartet das Wahlergebnis sicher mit Spannung. Ich auch.

Foto: Steffen Prößdorf CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons

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Leserpost

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Sabine Schönfelder / 31.08.2019

Wenn schon Flasche Kretschmer, dann ist sie leer! Er ist ein Niemand und er steht für nichts. Ich wiederhole: nur Wahlbetrug kann die Altparteien vor einer Blamage retten und die alten SED-Praktiken werden morgen ihre volle Entfaltung finden, frech und skrupellos. Also liebe Sachsen, seid auf der Hut! Viel Erfolg!

Alex Müller / 31.08.2019

Der Wahlkampf ist Sachsen ist wahrlich ein Trauerspiel. Big-Brother-like prangt Herr Kretschmer prangt auf 200qm von einem Wandplakat in der Nähe des Bahnhof Mitte in Dresden - Orwell läßt grüßen. Und “1000 neue Polizisten” - wofür brauchen wir die wohl und wer ist dafür verantwortlich? Schade, daß das so wenig diskutiert wurde. Die SPD will einfach nur “Mieten deckeln” und “Grundrente durchsetzen” - ja bitte doch, soziale Almosen jetzt, nachdem Eure Politik das Geld entwertet und den Mietmarkt drastisch verengt hat. Die FDP macht einen reinen Personenwahlkampf fast ohne jede Aussage, nachdem sie 2014 mit dem Slogan “Ihr Auto würde FDP wählen” aus dem Landtag flog, weil - man glaubt es kaum - Autos nicht wählen dürfen. Deren Chef Holger Zastrow ist gerade nach 29 Jahren erstmals in eine Straßenbahn gestiegen, nachdem man ihn in den Aufsichtsrat der Dresdner Verkehrsbetriebe bugsiert hatte. Die Grünen, in bester NPD-Manier,  fordern auf: “Dresden verteidigen”, nur beide Stimmen für sie hälfen angeblich gegen die AfD. Die Linke bemüht abgedroschen Schlagworte aus DDR-Zeiten (“Solidarität”) und ist sich nicht zu blöde, gleich “FCK AFD” zu plakatieren. Das “FCK” hat man übrigens von den Grünen im letzten Wahlkamp kopiert. Die Alternative ist leider auch kaum besser, will “Diesel retten” und eine “Autofreundliche Stadt”. Ja, ja, Elbradwege zu Autobahnen, dann wird das schon, das Weltkulturerbe ist ja eh weg. Über ein AKW in Sachsen als Ersatz für die Lausitzer Braunkohle sinnt man nach, nur wo an der Oberelbe, die zwischen regelmäßig Rinnsal und Jahrhunderthochwasser pendelt, sollte das bitte stehen? Die PARTEI findet letztlich das einzig richtige Wort für das alles: SCHLIMM.

Peter Wachter / 31.08.2019

BITTE liebe Sachsen, geht wählen und BITTE macht Wahlbeobachter, ist zwar anstrengend, ich habe das auch schon gemacht, aber inzwischen ist nichts mehr unmöglich!

Cora Marx / 31.08.2019

Bei den Geschehnissen vor einem Jahr behauptete Kretzschmer es gab keine Hetzjagden und widersprach seiner Staatsratvorsitzenden. Der traut sich was waren meine Gedanken. Zugegeben, ich habe mich geirrt. Sie, Herr Kretzschmer machen zwei Fehler. Sie hätten ihre damalige Meinung weiterhin vertreten sollen. Maaßen haben Sie ja nun auch als Wahlkampfhelfer verjagt und der Berliner Damenriege und ihre Kofferträger mal ordentlich die Meinung gesagt haben sie auch nicht. 1989 bin ich auf die Straße gegangen und kenne das ganze System der politischen Meinungsmache. Damals waren Sie noch zu jung und können es praktisch nicht nachvollziehen. Ihr zweiter Fehler. Das Wahlergebnis spiegelt den Wählerwillen wieder. Sie schließen eine Beteiligung der AfD aus. Und kommen Sie nicht mit Nazis aus der rechten Ecke, sicherlich gibt es diese, es gibt auch gewalttätige “Antifa”! Meinungsmache in den öffentlichen Medien zieht nicht mehr so wie vor 2015. Wer wollte denn im Bund die AfD mit Sachargumenten die Partei stellen? Mir ist nichts bekannt oder liegt es doch eher an der Bildung der Abgeordneten. Also: der Wähler ist Ihr Auftraggeber.

Ko. Schmidt / 31.08.2019

Amüsant geschrieben, Traurig macht, dass diese Mitläufer-Flaschen unsere Gesellschaft offiziell repräsentieren und sinnbildlich auch.

Günter Schlag / 31.08.2019

Spannend wird es nur, wenn Schwarz, Grün, Rot unter 50% haben und Gelb draußen bleibt. Dann geht es nur mit den Linken oder als Minderheitsregierung. Deshalb keine dieser sondern Blau.

Richard Loewe / 31.08.2019

Man muss kein Prophet sein, um zu sagen, das der Mann wieder MP werden wird. Es geht ja schliesslich bei Wahlen um Posten und nicht um gute Politik fuer das Volk. Die Blockpartei hat reichlich ueber 50% der Stimmen sicher - ob die Opposition 25% oder 35% bekommt ist egal fuer den Ausgang.

Paul Braun / 31.08.2019

In Berlin diskutieren sie den Mietpreisdeckel. Das ist ein linker Evergreen - schlecht für die freie Marktwirtschaft und folglich auch für die Mieter. Nichts Neues also. Innovativ ist dagegen Sachsen: Dort hat man einen AfD-Abgeordnetendeckel durchgesetzt. Das hat Charme. Das hat Potential ... Allerdings - schlecht für die freie Demokratie und folglich auch für die Bürger.

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