Ich verstosse des Öfteren gegen wesentliche Prinzipien der Gesellschaft. In letzter Zeit wird das immer offensichtlicher. Es fängt bei unterlassenen Solidaritätsbekundungen an und geht bis zu sexistischen Lachanfällen.
So habe ich zum Beispiel nach den Anschlägen in Paris oder Brüssel als Zeichnen der Anteilnahme mein Facebook-Profilbild nicht in den jeweiligen Landesfarben eingefärbt. Ich pflege Terror grundsätzlich nicht auf meiner Facebook-Seite zu verurteilen – ich poste dort hauptsächlich Bildli von mir mit der Legende "je suis Tamara". Über Schwulenwitze meines Lieblings-Comedians Dieter Nuhr lache ich herzhaft. Manchmal nenne ich Schwule 'schwul' anstatt 'homosexuell', was total unsensitiv ist, ich glaube, es ist sogar verboten. Am allerlustigsten finde ich Frauenwitze. 'Schliesse deine Frau und deinen Hund in den Kofferraum ein. Warte 15 Minuten und öffne den Kofferraum. Wer freut sich?' Der Brüller.
Ich sah von Spenden an Opferverbände ab, als vergangenes Jahr dieser Typ in einer US-Talkshow den verächtlichen Begriff 'Hard worker' aussprach. (Rückblick: Der Diskussionsteilnehmer verstieg sich auf MSNBC zu dem Ausdruck, wurde aber - dem Himmel sei Dank - auf der Stelle von der sensitiven Moderatorin gemahnt, "besonders vorsichtig" zu sein mit 'Hard worker'. Der Ausduck sei beleidigend "wegen der Sklaven und der armen Mütter". Durch den Begriff habe sie das Bild von Menschen im Kopf, die auf Baumwollfeldern schuften. Das sei eine Erinnerung daran, wie harte Arbeit wirklich aussieht).
Ich lobte bisher jene, die hart arbeiten. Mir kommen dabei Kanalarbeiter oder Feuerwehrleute in den Sinn, Minenarbeiter, der härteste Job überhaupt, müssen die armen Kerle doch täglich hoffen, wieder heil nach oben zu kommen. Aber da liege ich vermutlich erneut falsch. Muttersein ist ja der härteste Job der Welt – sagen jedenfalls die Mamas. Wenn sie nicht gerade mit dem Nachwuchs Cupcakes backen oder im Schwimmbad plantschen.
Ich bin nicht die Einzige, die verbale Verfehlungen produziert. Neulich stand ich mit Freunden in der Basler Innenstadt. Eine ungepflegte Erscheinung mit strengem Alkoholgeruch bat uns um Münzen. "Einmal mehr so ein Landstreicher", sagte Freddy, "der nirgends wohnt und von der Hand in den Mund lebt".
-"Landstreicher? Ich hab mich wohl verhört", sagte ich energisch.
-"Ja, Landstreicher," sagt Freddy. "Ungepflegte Erscheinungen, die streng nach Alkohol riechen und Passanten um Münzen bitten".
-"Lieber Freddy, 'Landstreicher' ist absolut diskriminierend. Solche Menschen nennt man seit
J-a-h-r-e-n 'Obdachlose'."
-"Wie bitte?!", herrschte mich Vreni an. "Obdachlose? Liebes Tamara, 'Obdachlose' ist heutzutage völlig diskriminierend. Leute stellen sich bei dem Ausdruck ungepflegte Erscheinungen vor, die streng nach Alkohol riechen und Passanten um Münzen bitten."
-"Was soll ich denn sonst sagen?", wollte ich wissen.
-"Na, Wohnungssuchende."
Freddy zeigte sich skeptisch: "Es wird nicht lange dauern, und jeder stellt sich unter einem 'Wohnungssuchenden' eine ungepflegte Erscheinung vor, die streng nach Alkohol riecht und Passanten um Münzen bittet. Man sollte sofort einen neuen Ausdruck einführen für jemanden, der auf Wohnungssuche ist. Beim derzeit angespannten Wohnungsmarkt ist die Person ja schon genug bestraft. Sie sollte nicht noch mit einem Landstreicher oder Obdachlosen gleichgesetzt werden."
Tamara Wernli arbeitet als freischaffende News-Moderatorin und Kolumnistin bei der Basler Zeitung. Dort erschien dieser Beitrag auch zuerst. In ihrer Rubrik „Tamaras Welt“ schreibt sie wöchentlich über Gender- und Gesellschaftsthemen.