Tamara Wernli / 25.05.2016 / 09:15 / Foto: Ivaan Kotulsky / 0 / Seite ausdrucken

Landstreicher? Obdachloser? Wohnungssuchender?

Ich verstosse des Öfteren gegen wesentliche Prinzipien der Gesellschaft. In letzter Zeit wird das immer offensichtlicher. Es fängt bei unterlassenen Solidaritätsbekundungen an und geht bis zu sexistischen Lachanfällen.

So habe ich zum Beispiel nach den Anschlägen in Paris oder Brüssel als Zeichnen der Anteilnahme mein Facebook-Profilbild nicht in den jeweiligen Landesfarben eingefärbt. Ich pflege Terror grundsätzlich nicht auf meiner Facebook-Seite zu verurteilen – ich poste dort hauptsächlich Bildli von mir mit der Legende "je suis Tamara". Über Schwulenwitze meines Lieblings-Comedians Dieter Nuhr lache ich herzhaft. Manchmal nenne ich Schwule 'schwul' anstatt 'homosexuell', was total unsensitiv ist, ich glaube, es ist sogar verboten. Am allerlustigsten finde ich Frauenwitze. 'Schliesse deine Frau und deinen Hund in den Kofferraum ein. Warte 15 Minuten und öffne den Kofferraum. Wer freut sich?' Der Brüller.

Ich sah von Spenden an Opferverbände ab, als vergangenes Jahr dieser Typ in einer US-Talkshow den verächtlichen Begriff 'Hard worker' aussprach. (Rückblick: Der Diskussionsteilnehmer verstieg sich auf MSNBC zu dem Ausdruck, wurde aber - dem Himmel sei Dank - auf der Stelle von der sensitiven Moderatorin gemahnt, "besonders vorsichtig" zu sein mit 'Hard worker'. Der Ausduck sei beleidigend "wegen der Sklaven und der armen Mütter". Durch den Begriff habe sie das Bild von Menschen im Kopf, die auf Baumwollfeldern schuften. Das sei eine Erinnerung daran, wie harte Arbeit wirklich aussieht).

Ich lobte bisher jene, die hart arbeiten. Mir kommen dabei Kanalarbeiter oder Feuerwehrleute in den Sinn, Minenarbeiter, der härteste Job überhaupt, müssen die armen Kerle doch täglich hoffen, wieder heil nach oben zu kommen. Aber da liege ich vermutlich erneut falsch. Muttersein ist ja der härteste Job der Welt – sagen jedenfalls die Mamas. Wenn sie nicht gerade mit dem Nachwuchs Cupcakes backen oder im Schwimmbad plantschen.

Ich bin nicht die Einzige, die verbale Verfehlungen produziert. Neulich stand ich mit Freunden in der Basler Innenstadt. Eine ungepflegte Erscheinung mit strengem Alkoholgeruch bat uns um Münzen. "Einmal mehr so ein Landstreicher", sagte Freddy, "der nirgends wohnt und von der Hand in den Mund lebt".

-"Landstreicher? Ich hab mich wohl verhört", sagte ich energisch.

-"Ja, Landstreicher," sagt Freddy. "Ungepflegte Erscheinungen, die streng nach Alkohol riechen und Passanten um Münzen bitten".

-"Lieber Freddy, 'Landstreicher' ist absolut diskriminierend. Solche Menschen nennt man seit

J-a-h-r-e-n 'Obdachlose'."

-"Wie bitte?!", herrschte mich Vreni an. "Obdachlose? Liebes Tamara, 'Obdachlose' ist heutzutage völlig diskriminierend. Leute stellen sich bei dem Ausdruck ungepflegte Erscheinungen vor, die streng nach Alkohol riechen und Passanten um Münzen bitten."

-"Was soll ich denn sonst sagen?", wollte ich wissen.

-"Na, Wohnungssuchende."

Freddy zeigte sich skeptisch: "Es wird nicht lange dauern, und jeder stellt sich unter einem 'Wohnungssuchenden' eine ungepflegte Erscheinung vor, die streng nach Alkohol riecht und Passanten um Münzen bittet. Man sollte sofort einen neuen Ausdruck einführen für jemanden, der auf Wohnungssuche ist. Beim derzeit angespannten Wohnungsmarkt ist die Person ja schon genug bestraft. Sie sollte nicht noch mit einem Landstreicher oder Obdachlosen gleichgesetzt werden." 

Tamara Wernli arbeitet als freischaffende News-Moderatorin und Kolumnistin bei der Basler Zeitung. Dort erschien dieser Beitrag auch zuerst.  In ihrer Rubrik „Tamaras Welt“ schreibt sie wöchentlich über Gender- und Gesellschaftsthemen.

Achgut.com ist auch für Sie unerlässlich?
Spenden Sie Ihre Wertschätzung hier!

Hier via Paypal spenden Hier via Direktüberweisung spenden
Leserpost

netiquette:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Tamara Wernli / 12.06.2022 / 16:00 / 10

Wie Wokeness unsere Filme zerstört

Der Blockbuster „Top Gun: Maverick“ ist unglaublich erfolgreich in den Kinos gestartet. Er kommt ganz ohne kulturelle oder politische Botschaft daher – und die Kinofans…/ mehr

Tamara Wernli / 04.06.2022 / 16:00 / 10

Frau durchlöchert Kondome

Eine Frau durchlöchert heimlich die Kondome ihres Lovers, um ihn durch eine Schwangerschaft an sich zu binden. „Stealthing“ heißt diese Aktion und warum sowohl Männer…/ mehr

Tamara Wernli / 24.05.2022 / 16:00 / 18

Ist Leiden weiblich?

Die Herausforderungen und Probleme von Frauen sind ein Dauerthema in der breiten Öffentlichkeit. Probleme, Schwierigkeiten und Leid von Männern hingegen werden häufig als unbedeutend abgetan…/ mehr

Tamara Wernli / 18.05.2022 / 16:00 / 8

Mein Freiheitslied

Die Meinungsfreiheit ist ein Grundrecht, das derzeit etwas leidet. Statt mit Argumenten zu kontern, greift man Andersdenkende auf persönlicher Ebene an, steckt sie in Schubladen…/ mehr

Tamara Wernli / 16.05.2022 / 14:00 / 20

Übergewicht von epidemischem Ausmaß

Zwei Drittel aller Erwachsenen und ein Drittel aller Kinder in Europa sind übergewichtig. Dies besagen aktuelle Zahlen der WHO. Warum spricht niemand darüber?   Mehr…/ mehr

Tamara Wernli / 03.05.2022 / 14:00 / 16

Warum soziale Medien krank machen

Studien zeigen, dass die Plattform Instagram vor allem für Mädchen und junge Frauen sehr schädlich sein und psychische Erkrankungen fördern kann.   Mehr von Tamara…/ mehr

Tamara Wernli / 01.05.2022 / 14:00 / 6

Warum wir alle von Elon Musks Twitter-Kauf profitieren

Vielen ist der Twitter-Kauf durch Elon Musk egal. Sie halten die Plattform für eine Blase aus Politikern, Journalisten und Aufschneidern, die für den Durchschnittsmenschen nicht…/ mehr

Tamara Wernli / 18.04.2022 / 16:00 / 15

Was politische Verantwortung wirklich bedeutet

Nach dem Rücktritt Anne Spiegels wurden Forderungen nach einer besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie laut. Doch Ministerämter sind eine Ehre und ein Privileg, für…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com