Vor kurzem sah ich ein Video, wo jemand sagte, das heutige China sei nur 70 Jahre alt. Die Begründung war: Dank der Kommunisten und speziell der Kulturrevolution hätte das heutige China mit dem China vor 100 Jahren praktisch nichts mehr zu tun. Das Gleiche würde ich für Deutschland sagen. Ich würde sagen, dass fast alles, was wir heute in Deutschland haben, in der einen oder anderen Form aus Amerika kommt. Dieses Deutschland ist auch nur 70 Jahre alt. Es stehen zwar die alten Burgen und Kirchen und Häuser noch herum. Es gibt vielleicht sogar noch alte Bräuche. Aber das ist nur Folklore. Da könnte auch ein Disneypark stehen. Es würde keinen Unterschied machen. Deshalb kann jeder Verweis auf den Holocaust auch nur “Folkolore” sein.
Schüren von Hass, Entmenschlichung, Ausgrenzung, das sind die Erscheinungsformen totalitären Denkens. Wir haben sie in den neunziger Jahren erlebt, als es gegen die Scientologen ging. Auch sie wurden entmenschlicht und als Insekten bezeichnet. Heute finden wir die ersten Ansätze der Ausgrenzung von AfD Mitgliedern. In Hamburg zum Beispiel fragt eine Arbeitsvermittlung nach AfD Mitgliedschaft, damit diese nicht als Lehrer tätig werden können. Das erinnert ungemein schon an „kauft nicht bei Juden!“
“Die Möglichkeit sich im Dritten Reich nicht schuldig zu machen” hatten mit Sicherheit nur sehr wenige Deutsche damals. Wir Menschen handeln immer aufgrund der Informationen, die uns zum jeweiligen Zeitpunkt zur Verfügung stehen und gemäß des Bildes, daß wir uns von der Welt gemäß unserer Erfahrungen, Erziehung und des Zeitgeistes machen. Vieles erscheint uns erst heute als falsch, oder als sicheres Indiz für den Weg in die (un)menschliche Katastrophe. Das menschliche Leben aber ist vielschichtig und komplex und die meisten versuchen sich irgendwie einzurichten. Ja wir Menschen sehen auch oft weg, weil Fragwürdiges vermeintlich nicht wichtig oder tolerabel, gar gerecht erscheint - weil wir uns mit bestimmten Dingen nicht beschäftigen wollen oder zu können glauben oder eben bestimmete weitere (richtige) Informationen einfach gar nicht haben. Und so finden sich die Menschen dann in Strukturen und Gegebenheiten in denen sie sich irgendwie anpassen müssen um nicht unterzugehen. Sicher, Ethik und Moral lassen vieles zeitlos und eindeutig als “richtig” und “falsch” erkennen. Mut und Opferbereitschaft für den Widerstand im Inneren aufzubringen ist aber meines Erachtens nur wenigen Menschen mit bestimmten Biographien oder Perönlichkeitsstrukturen gegeben. Die Leute aus Gruppe 1 sehen aus meiner Sicht oft nicht, daß sie nur deshalb glauben sie wären im Widerstand gewesen, weil sie jetzt wissen, was wir heute eben wissen. Weil sie wissen, oder genauer zu wissen glauben (das tatsächliche Wissen über Geschichte, auch der 12 Jahre ist oft erschreckend gering), was wir wissen, - wie alles kam und was dazu führte. Damals wären sie auch im damaligen Zeitgeist aufgewachsen und hätten das gewußt was ihnen eben zugänglich gewesen wäre. Außerdem blenden sie in unserer bequemen Welt des Wohlstandes natürlich aus, wie es denn wirklich um ihren Mut bestellt wäre, wenn die ständige Angst vor Verfolgung real und die Todesgefahr akut ist.
Was Sie vergessen haben ist, dass die Nationalsozialisten links waren und auch heute die schlimmsten Antisemiten wieder dort und bei den Museln zu finden sind.
@Reiner Bolt, Eine ehrliche Frage und eine ehrliche Antwort. Die habe ich mir auch schon gestellt. Durch integre Menschen beeinflusst, war ich in meiner Jugend Anhänger der sozialistischen Idee. Dies, und persönlicher Ehrgeiz, hatten mich zu einen engagierten SED- Mitglied werden lassen. Junge Menschen sind für menschliche Ideen schnell einnehmbar. Ihnen fehlt die Lebenserfahrung zur komplexeren Bewertung. Siehe “Friday for Future”. Anfang der 80-iger Jahre kam die altersgemäße Ernüchterung und der Abfall vom Glauben. Ich persönlich fühle mich schuldig, das ich dieses System durch mein Engagement unterstützt habe. Es ist aber ein rein persönliches Schuldgefühl. Wie hätte ich mich verhalten, wenn ich 1933 zwanzig Jahre alt gewesen und ebenfalls integre Menschen Vorbild für mich gewesen wären? Ich bin als Deutscher nicht stolz auf diese Zeit. Aber ich fühle mich für das dritte Reich und den Holocaust nicht schuldig. Dies sind alle, die nicht in diese Zeit involviert waren, eben auch nicht. Wer uns Nachgeborenen diese Schuld einreden will, versucht zu manipulieren und schadet dem gesellschaftlichen Klima. Ich kann mir nicht vorstellen (ja ich weis, das dritte Reich war schlimmer), dass sich Franzosen solche Schuldgefühle für die Kriege Napoleons einreden lassen würden. Geschichte ist Geschichte. Wir sollten aus ihr lernen, mehr nicht!
Guter Artikel! – Ich habe lange in den USA gelebt und war (und bin immer noch) dort mit Juden befreundet. Nicht ein einziges Mal hat man mir dort den Holocaust vorgeworfen. Wenn er erwähnt wurde, hat man sich gelegentlich bei mir entschuldigt (“Wir meinen nicht dich.”). – Dass man von mir Holocaust-Schuldgefühle verlangt und mich wegen des Holocausts erniedrigen will, passiert mir nur in Deutschland. Es sind andere Deutsche, die dies tun. Widerlich. Mit denen streiten nützt nichts. Ich schotte mich dann innerlich ab, so gut es geht. Von Holocaust-Gedenkkram halte ich mich seit Jahren fern. Diese unentwegten Schuldrituale haben mich meinem Vaterland entfremdet. – Die Wiederkehr des Vernichtungsimpulses gegenüber politischen und gesellschaftlichen Gegnern, jetzt von politisch links, sehe ich mit großer Sorge. HIER wären Mahnungen angebracht, aber ausgerechnet hier kommen sie nicht.
Abgründe zu sehen wo Gemeinplätze sind braucht persönliches Hinsehen in der eigenen Familienvergangenheit und der nahen Umgebung.
” Das eben ist der Fluch der Schuld, daß sie immer wieder Reiz und Veranlassung zu neuer Schuld enthalten muß.” ( Saxo Grammaticus )
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