Wenn Sie Wirtschaftswachstum, Steuern, Staatsausgaben und den Realzins korrekt vorhersagen, wissen Sie die genaue Zeit und den genauen Ort, an dem uns das hier alles um die Ohren fliegen wird. Mir Normalsterblicher bleiben nur Vermutungen. Diese wage ich hier auf der Basis der Äußerungen führender Ökonomen.
„Warum hat diese ganze Corona-Rettungs-Finanzierungsmaßnahme funktioniert? Ich versteh’ das nicht. Oder muss ich studiert haben, um zu begreifen, warum uns die Wirtschaft nicht schon längst um die Ohren geflogen ist?“, fragte mich kürzlich Gerd Buurmann bei Indubio. Leider habe ich auch keine Antwort. Nun bin ich aber auch nur ein kleines Licht, was weiß ich schon? Da trifft es sich gut, dass Ende August, wie jedes Jahr, wieder führende Notenbanker und wichtige Vertreter der Wirtschaftswissenschaft in Jackson Hole zusammenkamen, um über die Zukunft der Geldpolitik zu sinnieren. Wer kennt sich besser mit Geldwert- und Finanzmarktstabilität aus als diese Leute? Und die Konferenz war diesbezüglich auch ziemlich aufschlussreich.
Jackson Hole ist ein wichtiges Ereignis in der Finanzwelt. 2014 erläuterte der damalige EZB-Präsident Mario Draghi in dem kleinen Ort in den Rocky Mountains die Notwendigkeit des Kaufs von Staatsanleihen durch seine Institution. Eine prägende Rede, die einen impliziten Kurswechsel der EZB explizit machte. Dieser Tage blickten die Finanzmarktakteure besonders gebannt auf Jerome Powell und Christine Lagarde. Falken oder Tauben? Während letztes Jahr vor allem der amerikanische Notenbankpräsident eine restriktive Geldpolitik – also anhaltende Zinserhöhungen im Angesicht steigender Inflationsraten – ankündigte, äußerte er sich dieses Mal wesentlich vorsichtiger. Seine Statements können sowohl als Abkehr von weiteren Zinsschritten als auch als die Bereitschaft interpretiert werden, höhere Arbeitslosenzahlen in Kauf zu nehmen, um die Inflation zu senken. Und Christine Lagarde betonte, die anhaltende Unsicherheit habe altbekannte Zentralbankmodelle überholt. Es sei Zeit, neue Wege der Geldpolitik und ihrer Analyse zu gehen. Natürlich bezog sie dies auch auf die „Transformation“ zu einer „grünen“ Ökonomie.
Powells und Lagardes Äußerungen sind vor allem politisch. Gerade deshalb sind sie so ambivalent oder schwammig. Zudem beziehen sich Zinsschritte auf den kurzfristigen erwarteten Verlauf der Inflation. Wenn nun wieder mit dem Gedanken der Abkehr von Zinserhöhungen durch die Notenbanker gespielt wird, bedeutet das nicht, dass wir uns auf einem nachhaltigen Inflationspfad befinden. Es heißt nur, dass die EZB und die Fed eine Lockerung nun für opportun halten – aber aus welchen Gründen? De facto hat sich an den strukturellen Faktoren, die die Inflation treiben, seit letztem Jahr nichts geändert. Die zurückhaltenden Äußerungen in Jackson Hole legen somit ein Dilemma frei, in dem sich die Zentralbanken befinden.
Der Staat übernimmt
Während also der Amerikaner und die Französin im letzten Jahr noch der restriktiven Geldpolitik das Wort reden mussten, um die Inflationserwartung nicht aus dem Ruder laufen zu lassen, sprach die expansive Fiskalpolitik eine ganz andere Sprache. Sowohl die Regierung der USA als auch die zentral- und nationalstaatlichen der EU haben immer mehr Aufgaben übernommen. Spätestens seit Corona wurde es offensichtlich. Sondervermögen und Helikoptergeld, Wiederaufbaufonds und Inflation Reduction Act. Eigentlich jedoch ist dies ein Trend, der sich seit den 1970er Jahren anbahnt.
Der Staat übernimmt, gleicht Verluste in Krisen aus, stützt die Nachfrage einkommensschwacher Haushalte. Alles mit dem Versprechen, dass das Geld, was er sich heute leiht, gut angelegt und in der Zukunft durch Wirtschaftswachstum und sprudelnde Steuereinnahmen ausgeglichen werden wird. Alle großen inflationären Perioden in der Geschichte waren zuerst ein fiskalisches, ein Staatsausgabenproblem, bevor sie ein monetäres wurden. Die schwammigen Äußerungen auf dem Klassentreffen der Notenbanker vor einigen Tagen deuten darauf hin, dass dieses Problem nicht mehr zu leugnen ist. Vor dem Hintergrund explodierender Staatsschulden der Industrienationen kann keine Zentralbank glaubwürdig Inflation bekämpfen. Die vorangegangenen Zinsschritte dienten nur dem Gesichtwahren. Ernst gemeint konnten sie nie sein.
Die Zinsschrittdiskussion betrachtet also nur die kurze Frist und ist noch dazu politisch verzerrt. Sowohl Powell als auch Lagarde werden den Teufel tun, darüber zu spekulieren, wann uns das Ganze hier um die Ohren fliegt. Das ist vielleicht auch gut so. Diese Überlegungen aus dem Munde eines Zentralbankchefs wären verheerend. Unabhängiger können Wissenschaftler darüber laut nachdenken. Barry Eichengreen, Ökonom an der University of California, Berkeley, hielt in Jackson Hole einen vielbeachteten Vortrag. Seine These: Wir werden mit den hohen Staatsschulden leben müssen. Aus ökonomischer Sicht eine düstere Prognose. Aber noch nicht das dramatische Szenario, auf das Gerd Buurmanns Frage abzielt. Es könnte ja auch sein, dass diese hohen Schulden tragfähig sind. Die Frage ist also, wann ist Staatsverschuldung das nicht mehr. Wann fliegt uns das hier alles um die Ohren?
Wann sind Staatsschulden tragfähig und wann nicht mehr?
Staaten haben drei Möglichkeiten, ihre Ausgaben zu finanzieren: 1. durch Steuern, 2. durch Schulden, 3. durch Gelddrucken. 1. und 2. sind, langfristig gesehen, dasselbe: Die Schulden von heute sind die Steuern (oder Leistungskürzungen) von morgen. Niemand zahlt gerne Steuern, und Politiker werden gern wiedergewählt, somit tendieren Wohlfahrtsstaaten eher zur Verschuldung. Angesichts Ihres Einkommenssteuerbescheids werden Sie jetzt vielleicht verächtlich lachen. Aber denken Sie daran, die Schulden von heute sind die Steuern von morgen, und seien Sie dankbar, dass heute heute und nicht morgen ist.
Einfache Arithmetik zeigt, dass der aktuelle Verschuldungspfad der Industrienationen nicht nachhaltig ist. Schon heute beträgt die explizite und die implizite Verschuldung Deutschlands das Viereinhalbfache der jährlichen Wirtschaftsleistung Deutschlands und die amerikanische Regierung hat im Januar ausgerechnet, dass ein „Weiter so“ in der Fiskalpolitik zu einem Schuldenstand von 600 Prozent des BIP im Jahr 2097 führen würde (wenn also alle für die Zukunft gegebenen Zahlungsversprechen der Sozialsysteme an heute lebende oder gerade geborene Personen fällig geworden wären).
Das kommt nun nicht überraschend. Reformen wären schon lange fällig. Aktuell wird die gesetzliche Rentenversicherung jedes Jahr mit 100 Milliarden aus Steuermitteln bezuschusst. Und noch sind nicht alle Babyboomer in Rente. Zwei Drittel des Bundeshaushalts werden 2024 durch Sozialausgaben, Personal- und Zinskosten gebunden sein, hielt Christian Lindner in der Haushaltswoche fest. Lediglich 12 Prozent der Mittel entfallen auf Investitionen. Und ob diese produktiv und effizient sind, ist nicht nur in der ökonomischen Forschung umstritten. Aber Reformen erzeugen Verlierer, machen verschleierte Kosten plötzlich offensichtlich und kosten den dafür Verantwortlichen den Job.
Der Beruf von Berufspolitikern ist es jedoch, an der Macht zu bleiben, und somit wäre es äußerst irrational, aus Sicht der Verantwortungsträger im Staatsdienst, diese Reformen umzusetzen und die Verschuldung zurück auf einen nachhaltigen Pfad zu führen. Eine Abkehr vom Kollisionskurs, eine Sicherung der Tragfähigkeit der hohen Verschuldung, ist also nicht absehbar. Wir bewegen uns unaufhaltsam auf den Punkt ohne Wiederkehr zu, an dem uns nicht nur die Corona-Rettungsmaßnahmen, sondern alle nicht gedeckten Versprechen der Sozial- und Gesundheitssysteme um die Ohren fliegen. Barry Eichengreen ist nicht ganz so apokalyptisch in seiner Prognose. Trotz seiner düsteren Analyse geht er (und übrigens viele kommentierende Ökonomen) davon aus, dass irgendwann irgendwie Reformen durchgeführt werden und dass Regierungen Repressionen, mit denen sie in der Geschichte Schuldenstände auf Kosten der Bevölkerung senken konnten, diesmal nicht werden anwenden können. Worauf seine abgeschwächte Annahme der geordneten Selbstkorrektur fußt? Hoffnung? Glaube? Zuversicht?
Der Punkt ohne Wiederkehr
Wann erreicht ein Staat den erwähnten Punkt ohne Wiederkehr? Stellen Sie sich vor, ein Freund bittet Sie, ihm Geld zu leihen. Abhängig von Ihrer Beziehung zu diesem Freund, werden Sie ihm Geld leihen – mehr oder weniger – aber Sie werden ihm keinen unendlichen Betrag leihen. Nicht sonderlich anders ist die Beziehung zwischen Finanzmärkten und Staaten. Es gibt besonders beliebte Freunde – die USA sind ein solcher. Aufgrund des Umstandes, dass der Dollar Weltreserve-Währung ist, sind seine Schulden tragfähiger als die Schulden anderer. Aber auch die EU ruht sich darauf aus, dass autoritäre Regime wie China keine Alternative sind und die Bemühungen der BRICS-Staaten, eine solche zu schaffen, scheitern werden. Die Sanktionen gegen Russland – sowohl auf Ebene des persönlichen Eigentums als auch auf Ebene der Zentralbanken – sind jedoch geeignet, zumindest Zweifel ob der Zuverlässigkeit der westlichen Industrienationen als Reservewährungen zu schüren. Zumindest eine Blockbildung wäre denkbar, und eine solche wird immer zu Fehlverteilungen von Ressourcen und damit zu weltweiten Wachstumseinbußen führen.
Doch auch dem besten Freund wird man irgendwann den Geldhahn zudrehen. Bei einem bestimmten Verhältnis von Schulden zur Wirtschaftsleistung eines Landes steigt der Finanzmarkt aus. Die Staatsanleihen können nicht mehr unter die Leute gebracht werden. Wann das sein wird, hängt ab von den Annahmen zur zukünftigen Entwicklung von Staatseinahmen und -ausgaben, von Wirtschaftswachstum und von Realzinsen. Wenn Sie Wirtschaftswachstum, Steuern, Staatsausgaben und den Realzins korrekt vorhersagen, wissen Sie die genaue Zeit und den genauen Ort, an dem uns das hier alles um die Ohren fliegen wird. Mir Normalsterblicher bleiben nur Vermutungen.
Danke, aber nein, danke
Vom Wirtschaftswachstum erwarte ich aufgrund negativer Aussichten für Demographie und Innovationen nichts Gutes. Zumindest in der EU sind die Institutionen unflexibel und bilden Ziele der Partikularinteressen statt der Gesamtwohlfahrt ab. Diese Annahme bedingt automatisch eine negative Entwicklung der Steuereinnahmen. Eine sinkende Steuerbasis – durch die Abwanderung von Unternehmen und eine sinkende Anzahl Nettosteuerzahler – kann nicht für das Versprechen des Staates herhalten, in der Zukunft die Rechnungen zu begleichen. Demgegenüber stehen immer weiter steigende Staatsausgaben – ob nun für das Sozial- oder Gesundheitssystem oder für den staatlich gelenkten Umbau des Kapitalstocks im Namen der grünen Transformation.
Wenn weder Wirtschaftswachstum noch Steuereinnahmen zur Finanzierung zur Verfügung stehen, könnten noch besonders niedrige Realzinsen für die Tragfähigkeit der Verschuldung sorgen. Ein solches Niedrigzinsumfeld ist seit den 1980er Jahren zu beobachten und hat auch zur Anhäufung von Schulden seitdem beigetragen. Die anfangs genannten zurückhaltenden Äußerungen von Jerome Powell und Christine Lagarde in Jackson Hole erwecken den Eindruck, dass die aktuell steigenden Zinsen nur ein vorübergehendes und eigentlich schon wieder ein Phänomen der Vergangenheit sind. Über die zukünftige Entwicklung der Realzinsen diskutieren Ökonomen mit Leidenschaft. Einig ist man sich natürlich nicht. Aus meiner Sicht sprechen einige Faktoren dafür, dass wir es in Zukunft mit steigenden Zinsen zu tun haben werden – fatal für das Verhältnis von Staatsschulden zu Wirtschaftsleistung.
Jeder einzelne dieser negativen Annahmen könnte dafür sorgen, dass uns das alles um die Ohren fliegt, dass also die Finanzmärkte sagen: Danke, aber nein, danke. Natürlich kann man auch ganz anderer Meinung sein. Ein Wähler der Grünen sieht die Effekte der Transformationspolitik auf das Wirtschaftswachstum und die Realzinsen sicherlich ganz anders. Und ich hoffe wirklich, dass die Verfechter einer zentralgelenkten Wirtschaft beim x-ten Versuch dieser Idee endlich mal recht haben. Wir alle sollten das hoffen. Mehr bleibt uns nicht übrig. Denn wenn Option 2, die Schulden, nicht mehr funktioniert, weil keiner mehr bereit ist, dem Staat Kredit zu geben (das heißt seine Staatsanleihen kaufen möchte) greift der Staat zwangsläufig zu Option 3, dem Gelddrucken. Und genau dann fliegt uns das alles hier um die Ohren. Wann es passiert, ist eine Frage der Annahmen. Dass es passiert, ist unter den aktuellen Bedingungen eine Sicherheit der Arithmetik und wie es passieren könnte, erfahren Sie im zweiten Teil.
Teil 2 finden Sie hier.
Dr. Lisa Marie Kaus war als Ökonomin im Europäischen Parlament tätig und promovierte zur Fiskalpolitik der Europäischen Union.