Alimentiert durch den Wohlfahrtsstaat platzen Wertekonflikte nur begrenzt, mit weniger Druck und seltener an der Oberfläche des Melting Pot. Wenn aber plötzlich nicht mehr nur Habeck keine Milch mehr zu Hause hat, sondern ganz Neukölln, dann wird die Oberfläche brodeln.
„Wir verlieren die Industrie und damit nicht nur Arbeitgeber und Branchen, sondern maßgeblichen Teil des Wohlstands, mit den entsprechenden politischen, gesellschaftlichen, demokratischen Konsequenzen.“ Mit diesen Worten stellte Robert Habeck vergangene Woche seine „Industriestrategie“ vor. Und die Analyse stimmt. In seiner zerstreuten „Ich-hab‘-noch-nicht-mal-Milch-zu-Hause“-Art wirkte dieser Satz gar nicht so bedrohlich, wie er ist. Und auch die Nachfragen der Journalisten im Anschluss der Präsentation des Ministers beschäftigten sich mit unwichtigen Details. Julian Reichelt vermutet, die Hauptstadtpresse wollte einfach ihre Plätze im Regierungsflieger nicht verlieren. Opportunismus ist sicherlich eine Variable, die erklären kann, wie es so weit kommen konnte. Denn, mal ehrlich: Niemand hat gedacht, dass eine Verknappung des Angebots durch ein Abschalten der AKWs zu einer Senkung des Preises führen würde.
Ein Informationsproblem liegt in Sachen dümmster Energiepolitik der Welt ebenso wenig vor wie in Sachen Migrationspolitik. Dennoch tut man jetzt nicht nur so, als sei man überrascht, dass die Energiewende ins Nichts geht – und damit ist der Habecksche Brückenstrompreis ein Stegstrompreis, und am Ende des Stegs öffnet sich der Abgrund –, sondern auch, dass, wenn man Millionen von Menschen aus Gesellschaften aufnimmt, in denen über 90 Prozent Antisemiten sind, der Anteil an Antisemiten in Deutschland weder sinkt noch konstant bleibt, sondern – Achtung – steigt. Dass das mit der Arithmetik nicht die Stärke deutscher Politik, deutscher Presse und des deutschen Wählers ist, zeigt sich also nicht nur bei der Staatsverschuldung.
Opportunisten billigten verantwortungslose Energie- und Migrationspolitik
Opportunismus erklärt auch, dass viele Schönwetterliberale erst jetzt ihre Leidenschaft für die Werte der offenen Gesellschaft zu entdecken scheinen. Beatrix von Storch schrieb 2016, am Tag nach den Brüsseler Terroranschlägen, auf Facebook: „In aller Klarheit aber auch dies: Wer jetzt immer noch nicht verstanden hat, worum es geht, wer jetzt wieder die Warner und Mahner attackiert und meint, das Problem löse sich mit Lichterketten, Integrationskursen und Wegsehen, der hat die Zeichen der Zeit nicht erkannt. Wir haben ein Problem in Europa. Das Problem ist importiert. Wir vergrößern das Problem jeden Tag. Und: Das Problem hat mit dem politischen Islam zu tun. Nicht mit allen Muslimen. Aber mit dem politischen Islam.“ Damit instrumentalisierte die AfD-Politikerin die Opfer, stellt man unisono fest. Richtig machte es hingegen Dunja Hayali, die im gleichen Kontext twitterte: „fassungslos. nach türkei, jetzt belgien. terror bleibt terror. egal wo, egal von wem. hass vergiftet alles. #Brüssel“.
Egal von wem, sagen heute nur noch wenige. „71 Prozent der Deutschen sind der Auffassung, dass die Zuwanderung von Menschen aus stark muslimisch geprägten Ländern ein hohes Sicherheitsrisiko für Deutschland darstellt“, konstatierte kürzlich eine INSA-Umfrage für Bild. Zwischen 2016 und 2023, zwischen dem Angriff von ISIS und dem der Hamas, hat sich an den zusammengetragenen Fakten nichts geändert. Außer dem Wind des politischen Drucks. Das „Pack“ ging in Dresden auf die Straße, während die CDU 11 Minuten stehend Angela Merkel beklatschte (hier ab 1:17:37), als hätte der Parteitag nicht in Essen, sondern in Pjöngjang stattgefunden. „Wer das Volk ist, das bestimmt bei uns noch immer das ganze Volk, das bestimmen wir alle. Und nicht ein paar wenige, und mögen sie auch noch so laut sein.“ Hatte Merkel damals Pegida entgegnet. Heute will Jens Spahn illegale Migration mit Gewalt verhindern und Friedrich Merz liest Sarrazin. Machtpolitik. Ich weiß. Und die Wähler machen mit. So empfahl Jan Fleischauer in einem Gespräch mit Jörg Tadeusz vor einigen Tagen CDU und FDP als Oppositionsparteien.
Das Herrschaftsinstrument von Politik und Medien
In der Politik geht es nicht um Inhalte. Jan Fleischhauers Verweis auf CDU und FDP zeigt das. Es geht darum, den Gegner in die Ecke zu drängen. In Deutschland ist das effektivste Mittel das Prädikat „gesichert rechtsextrem“. Neben Opportunismus ist die erfolgreiche Verwendung dieses Herrschaftsinstruments durch Politik und Medien die zweite Erklärung, wie es denn nun sowie kommen konnte, dass ein Wirtschaftsminister zugibt, aus Versehen die Industrie gekillt zu haben, während auf den Straßen – für viele offenbar überraschend – muslimische Zuwanderer ihre Leidenschaft für das Killen von Juden proklamieren.
Haben Sie auch mit Abscheu die Bilder von den AfD-Wählern gesehen, die freudig Thüringer Würstchen auf dem Erfurter Domplatz verteilten, nachdem sie von abgeschlachteten Juden erfahren hatten? Nicht? Natürlich nicht, denn es gab sie nicht. Stattdessen gab es Süßigkeiten auf der Sonnenallee in Neukölln. Komisch eigentlich, stellt die AfD doch angeblich die größte Gefahr für die offene Gesellschaft dar. Ich habe sofort die Stimme von Ricarda Lang im Ohr „nun müssen alle demokratischen Parteien…“ und den dazu schweigenden Reporter des ÖRR vor Augen, der aber beim israelischen Botschafter seine Objektivität entdeckt und sichergehen will, dass auch die Perspektive der Hamas auf die Explosion im Krankenhaus in Gaza Berücksichtigung in der Berichterstattung findet. Überhaupt finde ich es höchst erstaunlich, dass in der Berichterstattung über den Ukrainekrieg so gut wie nie die russische Perspektive gezeigt wird, während im asymmetrischen Krieg Israels gegen die Hamas permanent Bilder aus Gaza zu sehen sind. Ganz davon abgesehen, dass diejenigen, die sich mit der größten Vehemenz gegen jegliche Verhandlungen mit Russland sperren, oftmals auch diejenigen sind, die für einen Waffenstillstand mit der Hamas eintreten. Wieso denn nun ausgerechnet mit der Konfliktpartei, die klar in ihrer Charta darstellt, dass es die Pflicht jedes Muslims sei, die Juden in aller Welt zu töten, Waffenstillstand, Verhandlungen und Frieden angebracht sein sollen, das ist der PR-Coup der Hamas.
Aber zurück nach Deutschland und dem Herrschaftsinstrument, das Wähler und Schönwetterliberale einnordet. Der thüringische Verfassungsschutzbericht 2021 führt z.B. an, dass die AfD gegen die Menschenwürde verstoßen habe, als sie „den Anschlag eines inzwischen als schuldunfähig beurteilten psychisch kranken Täters, der am 25. Juni Passanten in der Würzburger Innenstadt mit einem Messer angegriffen hatte, zur pauschalen Agitation gegen Muslime [nutzte]. Zudem warf sie der Bundesregierung eine Mitschuld und Staatsversagen vor.“ Dass Höcke einen Tag nach dem Attentat postete, „Es interessiert mich nicht, warum der Täter nach Deutschland kam – ob er tatsächlich auf der Flucht war oder hier nur ein besseres Leben suchte. Die Art, wie er die Aufnahme dankte, zeigt: Er gehörte von Anfang an nicht hier hin.“ Habe er in „weitgehender Unkenntnis der Tatumstände“ abgegeben und dabei „eine Unterscheidung zwischen legitimen und illegitimen Formen von Migration und Asyl, die Teil einer demokratischen politischen Auseinandersetzung sein könnten“ ausgeschlossen. Damit gilt z.B. auch Stefan Aust als „in Teilen gesichert rechtsextrem“. Wenn das alle Argumente sind, die der Verfassungsschutz zusammentragen konnte, dann halte ich die AfD für grundgesetzkonformer als die Grünen. Auch die ehemalige Verfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolff merkt im Podcast der Zeit an, dass der Verfassungsschutz stark darauf achten müsse, nicht über das Ziel hinauszuschießen und nicht den Eindruck erwecken dürfe, bei seinen Einschätzungen legitime Meinungsäußerungen, die der Opposition zustünden, zu unterbinden. In dem Podcast regt sie dann jedoch an, „mit dem Instrument der Grundrechtsverwirkung zu arbeiten." (Artikel 18 GG), da „[e]in allgemeines AfD-Verbot […] politisch kontraproduktiv." sei.
Toleranz ist keine Frage der Semantik
Auf einmal entdecken alle ihre Verve für die Werte der offenen Gesellschaft und möchten Migranten, die ihrer Meinung nach essenzielle Werte Deutschlands nicht teilten, abschieben. Natürlich ist Letzteres nur ein PR-Coup. Die Feststellung, dass es Grenzen der Toleranz der offenen Gesellschaft gibt, ist zwar richtig, war in der Vergangenheit aber eher der Sargnagel des offenen Diskurses. „Gesichert rechtsextrem“ ist gleichbedeutend mit: Diese Meinung ist nicht zu tolerieren. In einer offenen Gesellschaft kann Toleranz jedoch keine Frage der Semantik sein. Findet man Höcke völkisch-schmuddelig? Gefällt der Ton? Wenn man einmal anerkannt hat, dass niemand im Besitz der alleinigen Wahrheit ist, muss der Diskurs offen bleiben. Die Frage der Verfassungstreue betrachtet der Verfassungsschutzbericht hingegen als eine Frage der Semantik. Dies widerspricht dem Grundkonsens der offenen Gesellschaft. Mit dem gleichen Argument lassen sich auch Pro-Palästina-Demos verteidigen. Ist das Trojanische Pferd einmal hinter die Stadtmauern gezogen, dann fehlen die institutionellen Werkzeuge, um jene, die den Grundkonsens sprengen, bekämpfen zu können.
Der Philosoph Karl Popper hat den Grundkonsens als Lebenseinstellung beschrieben: den kritischen Rationalismus. Er besteht aus zwei Komponenten. Zum einen basiert die offene Gesellschaft auf dem offenen Diskurs. Popper nennt dies die kritische Methode, die er aus seiner Erkenntnistheorie ableitet. Da niemand im Besitz der absoluten Wahrheit ist, braucht es den freien Diskurs, um sich der objektiven Wahrheit – durch Versuch und Irrtum – anzunähern. Dabei wird man niemals wissen, ob man eine wahre Erkenntnis gewonnen hat, selbst wenn diese tatsächlich objektiv wahr ist. Die zweite Komponente des Grundkonsenses der offenen Gesellschaft ist das Ethos der Aufklärung. Die offene Diskussion, die freie Meinungsbildung, ist nicht nur wertvoll, weil sie zur Wissenserweiterung dient, sondern sie ist wertvoll als Ausdruck der Würde des Menschen. Hier bezieht sich Popper auf Kants Lehre der Autonomie, die festhält, dass es keine externe Autorität gibt, weder weltlich noch geistlich, die als moralische Instanz fungieren kann. Werturteile können sich nur auf das eigene Gewissen berufen.
Es kann keine Regeln geben, keine allgemeingültigen Prinzipien, die offene Gesellschaft garantieren. Die westlichen Werte der Aufklärung – Toleranz, Freiheit, Demokratie und die Einstellung des kritischen Rationalismus – lösen sich auf, wenn sie absolut gelten: Absolute Toleranz führt zu Intoleranz. Absolute Freiheit zum Recht des Stärkeren. Das Volk kann den Tyrannen wählen. Ich kann nicht allgemeingültig definieren, was eine legitime Aussage ist und was nicht. Ich möchte nicht in einem Staat leben, der Demonstrationen verbietet oder Meinungsäußerungen bewertet und sanktioniert. Denn welche externe Autorität (Kant – wir erinnern uns) sollte „gute“ von „schlechter“ Meinungsbildung unterscheiden? Dass das Herrschaftsinstrument der Delegitimierung abweichender Meinungen in Deutschland so gut funktioniert, liegt auch im Versagen der Schönwetterliberalen, denen es wichtiger ist, gesellschaftlich angesehen und geliebt zu werden, als für die Werte der offenen Gesellschaft einzustehen.
Wertneutralität der offenen Gesellschaft befreit Einzelnen nicht von einem Werturteil
Wenn der Diskurs offen ist, kann es sich leicht nach Beliebigkeit anfühlen. Im Sinne der Meinungsfreiheit muss alles möglich sein. Und das ist es eigentlich auch, solange sich alle an den Grundkonsens halten. Unter dieser Voraussetzung ist die offene Gesellschaft wertneutral. Besteht die offene Gesellschaft jedoch aus Kräften, die den Grundkonsens negieren, dann kann, gerade aufgrund des aufklärerischen Ethos, das Fundament der offenen Gesellschaft eingerissen werden. Karl Popper formulierte dieses Problem als Toleranzparadox in einer Fußnote in „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“. Oft wird es von den Semantikern der Redefreiheit angeführt: Keine Toleranz der Intoleranz. Popper unterstreicht in seinen kurzen Ausführungen jedoch ausdrücklich, dass nur solche Intolerante nicht zu akzeptieren sind, die mit Gewalt der Gesellschaft ihre Überzeugungen aufzwingen wollen. Trotz dessen bleibt es schwammig, bis zu welchem Punkt die offene Gesellschaft wertneutral sein kann und ab wann aufeinanderprallende Werte zum Handeln zwingen. Denn natürlich kann es auch hier kein allgemein gültiges Prinzip geben. Es ist stets eine moralische Entscheidung, eine Gewissensentscheidung. Kann ich mir, wenn ich so handle, abends noch beim Zähneputzen im Spiegel in die Augen sehen?
Die Richtschnur der Gewalttätigkeit, die Popper einem für das Fällen eines klaren Werturteils der Intoleranz gegenüber einer Position an die Hand gibt, ist bei der Charta der Hamas eindeutig. Die einzige Demokratie im Nahen Osten weiß das. Nachbarn, die einen auslöschen wollen, führen einem sehr deutlich vor Augen, dass der, für eine offene Gesellschaft notwendige, Grundkonsens nicht besteht. In diesem Fall ist die einzige Möglichkeit die physische Trennung. Die Israelis nennen es Sicherheitszaun, die Palästinenser und ihre Unterstützer Apartheid-Mauer. Der bestialische Überfall auf Israel vom 7. Oktober zwingt zur Positionierung in einem Wertekonflikt. Man kann nicht einfach behaupten, es gebe keinen Widerspruch zwischen der Unterstützung Gazas und Israels, denn „unsere Herzen sind groß genug“, wie es Fridays for Future in pastoralem Ton verkündeten. Wer sich vor einem Werturteil im Angesicht eines Wertekonflikts scheut, wird leicht zu einem nützlichen Idioten.
Als vermeintliches Gegenstatement zu der klaren Positionierung Thunbergs nimmt Fridays for Future Deutschland eine Nichtposition ein. Es gibt einen guten Lackmustest, um herauszufinden, ob das Gegenüber eine Virtue-signalling-Nichtposition im Wertekonflikt zwischen der offenen Gesellschaft und ihren Feinden vertritt. Man stelle sich vor, das Statement Ursula von der Leyens gegenüber der Bild: „Deswegen müssen wir den Anfängen wehren, wo immer sich Hass gegen Andersdenkende zeigt, ob im Netz oder auf unseren Straßen. Jubel für Terrorismus, Antisemitismus oder Gewalt gegen Minderheiten ist niederträchtig und hat keinen Platz in Europa.“ würde allgemeine Handlungsmaxime der israelischen Streitkräfte. Dann stelle man sich die Frage, ob diese Position die Sicherheit Israels erhöhen würde. Wenn nicht, dann ist es eben einfach nur ein weiterer Allgemeinplatz à la „Nie wieder ist jetzt“, bei gleichzeitiger Enthaltung Deutschlands bei der UN-Resolution zur Waffenruhe in Gaza.
Hamas ist Multikulti
Ja, ich bin genervt von den nun überall verlautbaren wohlfeilen Allgemeinplätzen zu den Werten der offenen Gesellschaft. Gerade weil jene, die sie nun mit besonderer Verve vertreten, jene sind, die Andersdenkenden in den letzten Jahren nicht mal mit spitzen Fingern die Hand gegeben hätten. Aber ich verstehe Opportunismus, ich verstehe Karrierismus und ich verstehe, wie wirkungsvoll das Herrschaftsinstrument der Ächtung des politischen Gegners gerade in Deutschland ist. Was sich hingegen weniger rational verstehen kann, ist wie man riskieren kann, dass der Wohlstand in Multikulti-Einhornland kollabiert. Denn alimentiert durch den Wohlfahrtstaat platzen Wertkonflikte nur begrenzt, mit weniger Druck und seltener an der Oberfläche des Melting Pot. Wenn aber plötzlich nicht mehr nur Habeck keine Milch mehr zu Hause hat, sondern ganz Neukölln, dann wird die Oberfläche brodeln.
Eine multikulturelle Gesellschaft kann nur dann eine offene Gesellschaft sein, wenn man sich Multikulti so vorstellt, dass der eine ein Reisgericht, der andere Gemüse mit Couscous und der dritte Kartoffeleintopf kocht. Multikulti als das verstanden, was es ist, nämlich unterschiedliche Wertvorstellungen, bedeutet Wertkonflikte, die den Grundkonsens infrage stellen. In letzter Konsequenz werden diese Konflikte dann gewaltsam gelöst. Hamas ist multikulti. Obwohl es seit Jahrzehnten warnende Stimmen in Sachen scheiternder Assimilation gibt (Integration reicht nicht), führte die Bedrohung der offenen Gesellschaft durch Zuwanderung aus geschlossenen Gesellschaften nicht zu politischem Gegensteuern. Dafür kann es zwei Gründe geben. Entweder ist man in der CDU, der CSU, der SPD, der FDP, der Linken und in den Wahlkabinen, trotz der in Vielzahl vorgelegten Analysen, nicht davon ausgegangen, dass die eingewanderten Mitglieder geschlossener Gesellschaften deren Werte und Vorstellungen mitbringen, oder man hat es wissentlich in Kauf genommen. Beides ist durchaus durch Naivität und intellektuelle Faulheit erklärbar, wie Bärbel Bas unlängst im Bericht aus Berlin in Bezug auf importierten Antisemitismus bestätigte: „Vielleicht waren wir auch naiv.“
Symbiose von nützlicher Idiotie, Hybris und sozialrevolutionärer Mittel-zum-Zweck-Ideologie
Dummheit wäre allerdings nur die wohlwollende Interpretation. Man kann auch aufgrund eines missverstandenen Universalismus davon ausgehen, dass Einwanderer aus geschlossenen Gesellschaften alle und sofort die Werte des Westens annehmen. Denn Werte können aus zwei Perspektiven als universell bezeichnet werden. Entweder weil sie universell für alle gelten, oder weil sie universell von allen akzeptiert werden. Ersteres ist die moralische Schlussfolgerung aus Kants Lehre von der Autonomie. Letzteres ist Ausdruck eines grünen Selbstverständnisses als Übermenschen, die die edlen Wilden retten; nichts anderes als ein hochnäsiges Überlegenheitsgefühl gegenüber den Kulturen der Ursprungsländer.
Sicherlich gab es unter denen, die 2016 auf dem 29. Parteitag der CDU in Essen Angela Merkel 11 Minuten beklatschten, solche, die in Kauf genommen haben, dass die Einwanderungspolitik eine signifikante Anzahl an neuen Mitgliedern in die offene Gesellschaft aufnahm, die diese offen heraus ablehnten. „Ist mir egal, ob ich schuld am Zustrom der Flüchtlinge bin, nun sind sie halt da“, dachten nicht nur Opportunisten in der CDU, sondern auch viele, die gesellschaftliche Führungspositionen innehatten. Daimler-Chef Dieter Zetsche ignorierte seine Verantwortung, als er 2015 ein Wirtschaftswunder durch Flüchtlinge in der Öffentlichkeit proklamierte. Ein Jahr später hatten 29 Dax-Konzerne vier solcher Migranten eingestellt, Daimler keinen einzigen.
Die zweite mögliche Einstellung, neben Opportunismus, wäre eine sozialrevolutionäre, wie sie Friedrich Engels in „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ von 1845 vertritt. Engels stellt fest, dass die in großer Zahl nach England eingewanderten Iren, die er als gute Wilde beschreibt, die Lage der englischen Arbeiterklasse erheblich verschlechtert haben, dass dies aber ein Grund zur Freude sei, da es so schneller zur Revolution durch das Proletariat komme. Die irische Einwanderung und das ansteigende Leid der Arbeiter in England ist somit das Mittel zum Zweck – die Etablierung des Sozialismus. Die Notwendigkeit der Verschärfung des Klassenkampfes ist die Essenz der marxistischen Theorie. Und eine Gesellschaft ohne Grundkonsens ist ein Pulverfass.
Ideologisch, dumm und verantwortungslos
In einer politischen Umgebung, in der jedes Interview mit dem Führungspersonal vermuten lässt, dass das Peter-Prinzip herrscht – beim Interviewten und Interviewenden – neige ich dazu, Letzteres für die politische und mediale Führungsriege als abwegig zu verwerfen. Gleichwohl, dieses „Mittel-zum-Zweck“-Denken gibt es auch heute. Jeder, der mit Lina E. sympathisiert, steht in direkter Linie zum Feiern des Abschlachtens kleiner Babys als Widerstandsakt. Greta Thunbergs Post, in dem sich Fridays For Future mit palästinensischen Organisationen solidarisiert, die am 7. Oktober „Gaza ist gerade aus dem Gefängnis ausgebrochen“ veröffentlichten, zeigt, dass ein bisschen Hüpfen auf Klimademos nicht geht. Nützliche Idioten landen stets mit beiden Beinen in totalitären Ideologien.
Der Begriff der Transformation klingt schon so wie all jene gesellschaftlichen Experimente, die seit 1917 immer wieder grausam scheitern. Analog zur Migrationspolitik haben wir es auch hier mit einer Symbiose von nützlicher Idiotie, Hybris und sozialrevolutionärer Mittel-zum-Zweck-Ideologie zu tun, die es ermöglichte, dass es so weit kam. Unser Problem ist aber schon lange nicht mehr, dass man über Inhalte der Energie- oder Migrationspolitik streiten müsste. Wie ideologisch, dumm und verantwortungslos das Ganze war, wird gerade sehr vielen sehr schmerzlich klar. Unser Problem ist, dass wir eine signifikante Anzahl an Menschen in unserem Land haben, die der Überzeugung sind, dass das, was Hamas getan hat, legitim und sogar großartig war. Diese geschlossene Gesellschaft wandert seit Jahrzehnten unkontrolliert ein. Selbst wenn man dem nun einen Riegel vorschiebt, so sind sie immer noch eine signifikante Bestandsgröße.
Abschiebungen in jenem Maße, das notwendig wäre, der Entzug von Staatsbürgerschaften, das Verbot von Symbolen, Aussagen und Demonstrationen sind Dinge, die so dermaßen gegen die Werte der offenen Gesellschaft gehen, dass wir sie nicht werden durchsetzen können. Und wenn sie durchgesetzt werden, dann halten Menschen die Fäden der Macht in der Hand, die in den letzten Jahren gezeigt haben, was sie von den Werten der offenen Gesellschaft halten, wenn sie ihrem eigenen Fortkommen im Wege stehen – nämlich nichts. Wenn aber erst Konflikte ohne Grundkonsens in einer Gesellschaft aufeinanderprallen, bedeutet das Gewalt. Und wer den Ausnahmezustand beherrscht, haben wir einerseits auf der Kölner Domplatte und andererseits während der Lockdowns und Corona-Zwangsmaßnahmen gesehen. Karl Popper beschrieb die Konsequenz des Toleranz-Paradox einmal so: Es gab einmal ein Naturvolk, das lebte in Harmonie mit allen Lebewesen, auch mit den Tigern. Die Tiger sahen es anders. Das Naturvolk gibt es nicht mehr.
Dr. Lisa Marie Kaus war als Ökonomin im Europäischen Parlament tätig und promovierte zur Fiskalpolitik der Europäischen Union.